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Kein Appetit auf Lauros Spaghetti

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Die dicke alte Tante Democrazia Cristiana — nach dem letzen Wahlerfolg von 12,5 Millionen Stimmen und mit 42,2 Prozent der Wählerschaft hat sie an Leibesfülle noch zugenommen — opfert vor einem Gnadenbild eine Kerze auf. Darunter steht geschrieben: Per grazia rice-vuta — für Erhörung meines Bittgebetes. Das Bild zeigt aber keine Madonna und keinen Heiligen, sondern das wohlbekannte Gesicht des Generals de Gaulle. Mit dieser Karikatur will ein rechtsbürgerliches Blatt Roms den Sieg der katholischen Massenpartei bei den Pfingst-wahlen für das neue Parlament auf den Eindruck der französischen Krise zurückführen. Ein guter Teil der Wählerschaft habe seine Stimmen auf eine Partei konzentrieren wollen, als Gewähr für die politische Stabilität. Der Chef der italienischen Kommunisten wieder, Palmiro Tog-liatti, hat eine andere Erklärung: „Der Erfolg der DC steht im Verhältnis zu der illegalen und schmachvollen Einschüchterung seitens der religiösen Behörden!“ Andere meinen, der Vormarsch der DC, vor allem in Süditalien, sei damit erklärlich, daß diese Regierungspartei, seit einem Jahr die einzige, alle Fäden der öffentlichen Verwaltung in den Händen und den Fuß in allen mit öffentlichen Geldern operierenden Wirtschaftsbetrieben hat und eben nur sie den Wählern in den unterentwickelten Gebieten Posten, Finanzhilfen, Vorteile aller Art zu bieten imstande ist.

Sicherlich hat die Democrazia Cristiana in der letzten Phase der Wahlpropaganda auch beharrlich und ausgiebig auf die französische Tragödie als Folge politischer Zersplitterung hingewiesen. Aber von“ einer Schockwirkung, wie- sie 1948 etwa der Staatsstreich von Prag ausgelöst hatte, war unter der italienischen Wählerschaft nichts zu spüren gewesen, am wenigsten unter dem ländlichen Proletariat des Südens, das nicht auf außenpolitische Ereignisse, sondern auf die unmittelbaren Probleme ihres eigenen Lebens anspricht. Palmiro Togliatti übersieht, daß die Ermahnungen von der Kanzel zugänglichen Italiener bereits seit jeher zum christlichdemokratischen Wählerkreis gehörten. Die antiklerikale Propaganda hatte freilich den Bogen überspannt und mehr Widerwillen als Zustimmung gefunden. Die unterlegenen Parteien müßten sich wohl oder übel zu dem Zugeständnis bequemen, daß dem Wahlgang, um mit dem Parteisekretär der DC Amintore Fanfani zu sprechen, „fünf schwierige, aber nicht unfruchtbare Jahre“ vorausgegangen waren.

Man kann natürlich darüber diskutieren, ob der unzweifelhafte stete Fortschritt, der auch dem oberflächlichsten Besucher des Mezzo-giorno ins Auge springt, ausschließliches Verdienst der Regierungspartei ist oder ob Italien einfach an der allgemeinen wirtschaftlichen Konjunktur der letzten Jahre mitpartizipiert hat. Aber niemand kann leugnen, daß der Impuls von der Democrazia Cristiana ausgelöst wurde, unter dem der Süden aus einer jahrhundertealten Lethargie erwachte. Am allerwenigsten leugnen das die „braccianti“, die Arm-Leute (weil sie nichts anderes ihr eigen nennen als die Arme). Ihr Protest gegen die Armut hatte sich in einem Protest gegen die demokratische und republikanische Ordnung Luft gemacht. Die Sterilität eines solchen Protestes ist ihnen nun bewußt geworden. Das bedeutete die Niederlage der Neufaschisten und Monarchisten. Der Block der extremen Rechten ist von 13,7 auf 9,5 Prozent zurückgefallen. Die DC hat in Kampanien 200.000 neue Wähler gefunden, 70.000 in den Abruzzen und im Molise, 170.000 in Apulien, 30.000 in der Basilikata, mehr als 100.000 in Kalabrien, rund 200.000 in Sizilien und fast 70.000 in Sardinien. Weder der Propagandazirkus des Reeders Lauro, Führer der Volksmonarchisten, noch seine Spaghetti noch die Voraussage, die Maßnahmen des christlichdemokratischen Innenministers Tambroni gegen die Mißwirtschaft Lauros in der Stadtverwaltung Neapels würden sich in eine Niederlage der DC verkehren, haben auf die Wählerschaft des Südens den mindesten Eindruck gemacht.

Sie ist zu einem neuen politischen Bewußtsein erwacht, das sich jedoch keineswegs ausschließlich der christlichdemokratischen Partei zuwendet. Es hat seine Bedeutung, daß die Kommunisten und Linkssozialisteh in Kampanien zusammen 160.000 neue Wähler gewannen, ebenso viele wie die beiden monarchistischen Parteien und der Movimento Sociale verloren. Man dürfte also nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß zumindest ein Teil der früheren äußersten Rechten nun zur äußersten Linken hinübergewechselt ist. Togliatti, der der DC vorwirft, sich an der Rechten gemästet zu haben, die schließlich ihren Einfluß auf die Partei geltend machen würde, sollte mit solchen Bemerkungen vorsichtiger sein. Die prozentuell allerdings geringfügige (0,9 für den Senat, 0,1 für die Kammer)' Zunahme der Kommunistischen Partei hat Togliatti gerade Erfolgen im Süden zu verdanken, welche einzelnen Verlusten im Norden die Waage halten.

Aber die Verschiedenheit des Wachstumskoeffizienten der KP für Senat und Kammer ist zu auffällig, als daß man sie übersehen könnte. Was bedeutet sie? Sie bedeutet einfach, daß die jugendlichen Wähler zwischen 21 und 25 Jahren von den Senatswahlen ausgeschlossen w ren, mit anderen Worten: die Wählerschaft für“ den Senat war unvollständig, fehlte ihr die Jugend. Die konnte ihre politische Meinung nur in den Kammerwahlen geltend machen.

Wo steht also Italiens Jugend?

Sicherlich nicht in der KP, da diese hier kaum Fortschritte zu verzeichnen hatte. Das Umgekehrte ist bei der Christlichen Demokratie der Fall, die im Senat um 0,5, in der Kammer aber um 2,2 Prozent zugenommen hat, oder, mit einem Minusvorzeichen, beim neufischisti-schen MSI, wo die Abnahme im Senat 1.8 Prozent, in der Kammer aber nur 1,1 betrug. Auch die sonst so erfolgreiche linkssoz'alistische Partei Nennis hat im Senat einen zv.iprozenti-gen Zuwachs, in der Kammer abe- nur einen von 1,5 erreicht. Die DC war also die einzige Partei, die aus dem neuen Kräftereservoir der italienischen Jugend zu schöpfen verstand.

Wenn die Kommunistische Partei auch ihre Krise nach der ungarischen Erhebung vollständig überwunden zu haben scheint (;ine Krise, die sich vor allem unter den Intellektuellen, also in einer dünnen Wählerschicht, geltend machte) und mit 22,7 Prozent der Stimmen dank der Zähflüssigkeit der politischen Meinung ihrer Anhänger die Positionen halten konnte, so ist Nennis Wahlsieg in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Er hat 750.000 Stimmen hinzugewonnen, ist von 12,7 auf 14,2 Prozent vorgeprellt, und dies trotz den heftigen und auch nach den Wahlen fortdauernden Angriffen unl Sticheleien der kommunistischen Führer. D;e Verbitterung in der KP gegen die Linkssozialisten hat ihre guten Gründe, nicht nur ideologischer Art, sondern aus der Realität der Dinge. Nenni hat den Kommunisten rund 200.000 Stimmen abgenommen, wie immer die Zahlenalchimisten es drehen und wenden mögen. Wenn man die Ergebnisse vom 25. Mai mit denen des 7. Juni 195 3 vergleichen will, muß auch der natürliche Zuwachs der Wahlbevölkerung von fast zwei Millionen berücksichtigt werden. Dieser Zuwachs entspricht ungefähr der Zahl der Jungwähler für die Kammer. Um ein einigermaßen entsprechendes Bild zu erhalten, kann man also die Senatswahlen von 1958 mit den Kammerwahlen von 1953 gleichsetzen. Der Vergleich zeigt aber, daß die Kommunisten 200.000 Stimmen verloren und der PSI die gleiche Zahl hinzugewann. Die abstrakte Rechnung könnte auch durch konkrete Beispiele erhärtet werden, etwa durch die Wiederwahl des kommunistischen Dissidenten Giolitti im Wahlkreis Cuneo, wo er,nunmehr in den Reihen des PSI kämpfend, die Höchstzahl an Vorzugsstimmen erreichte. Welche Schlußfolgerungen die Linkssozialisten aus einer so eindeutigen Kundgebung der linksorientierten Wählerschaft ziehen wollen, kann natürlich nicht vorausgesagt werden. Wahrscheinlich werden wir noch auf geraume Zeit an der Orakelblume Nenni zupfen müssen, b;s uns das letzte Blatt in den Fingern bleibt. Er kann das Eigenleben der Partei weiterhin auf dem Altar des „Mythus der Einheit der Arbeiterklasse“ aufopfern und er kann seine Wähler zu aktiven Mitspielern in der Politik Italiens machen. Die Entscheidung, und das macht die Sache kompliziert, hängt nicht von ihm ab, sondern von den Kräften, die aus dem Spiel der Vorzugsstimmen innerhalb des PSI freigeworden sind.

Vorläufig allerdings bleiben die Linkssozialisten in der selbstgewählten Isolierung an der Seite der KP. Die Betrachtungen über die künftige Regierungsbasis ziehen zwar manchmal eine wohlwollende Neutralität Nennis ins Kalkül, aber selbst die eventuelle Stimmenthaltung der Linkssozialisten ist ein zu unsicherer Faktor, als daß man mit ihm rechnen dürfte. Trotz dem Kräftezuwachs der DC bleibt die parlamentarische Situation weiterhin schwierig; der allgemein zu verzeichnende Linksruck müßte eine Lösung bei der linken Mitte suchen lassen; aber was findet die DC dort? 23 Sozialdemokraten, die gebannt auf die Fata Morgana der sozialistischen Einigung blicken, sechs Republikaner und Radikale, die nur die Wahl haben, mit oder ohne Regierungsbeteiligung unterzugehen, zudem rasch alles vergessen müßten, was !sie während der Kampagne gegen die Kirche und die DC gesagt haben. Daß auch eine Einparteienregierung der DC nicht mehr als eine vorübergehende Lösung sein kann, ist auch den Katholiken bewußt.. Die nächsten Wochen werden schwierige Koalitionsverhandlungen und Auseinandersetzungen innerhalb der Parteien bringen, voll von Ueberraschungen, Stellungswechsel, Versteifungen, Konzessionen, mit dem Publikum als skeptischem Zuschauer, das mehrheitlich für die Christliche Demokratie gestimmt hat und nun in der Lage ist, weitere fünf Jahre auf sie schimpfen zu können.

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