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50 Jahre nach Mussolinis Marsch

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Das Geschick der Italiener, auch in hoffnungslosen Situationen allem Wehklagen und Geschrei zum Trotz — den Kopf nicht zu verlieren und auf die Füße zu fallen, hat sich auch in diesen Tagen und Wochen bewährt.

Vergeblich bemühten sich zunächst Colombo, dann Andreotti, seit dem 15. Jänner irgendeine parlamentarische Regierung links oder rechts von der Mitte zu finden, um von der fünften Legislatur, die normalerweise bis zum Frühjahr 1973 gedauert hätte, zu retten, was zu retten ist. Alle Bemühungen scheiterten am Widerstand der einen oder andern Partei und nicht zuletzt an jenem des Vatikans, der in der Scheidungsfrage nicht nachgeben kann und es früher oder später durch ein Referendum zur Volksbefragung über die seit dem 1. Dezember 1970 bestehende Institution kommen lassen will. Zudem schweigt sich die italienische Verfassung über die Frage aus, ob eine im Parlament in Minderheit versetzte Regierung Neuwahlen durchführen darf. Angesichts der Ausweglosigkeit der Krise und dieses verfassungsrechtlichen Hohlraums, bestand zweifellos das Risiko, daß extremistische politische Gruppen diese Notlagen einer Demokratie ausnützten, um aus ihnen Kapital für ihre totalitären Ambitionen zu schlagen. Dieser Gefahr haben sich die Italiener durch ein äußerst geschicktes Vorgehen entledigt.

Schritt für Schritt ist die öffentliche Meinung durch Presse, Radio und Fernsehen „über das, was angesichts der Umstände jetzt getan wird und getan werden muß“, unterrichtet worden. Die Möglichkeit der vorzeitigen Auflösung der Kammern und Durchführung von Neuwahlen ist bereits seit Jänner in aller Munde. Daß ein Staatspräsident mit einer anderen Mehrheit als jener der im Amt befindlichen Regierung gewählt wird, war schon Ende 1971 das Paradox einer Demokratie, die seit zehn Jahren auf die Regierungsformel links von der Mitte (Zusammenarbeit zwischen Christlichdemokraten und Sozialisten) eingeschworen ist, dann aber plötzlich ein Staatsoberhaupt hatte, für dessen Einsetzung die neofaschistischen und liberalen Stimmen entscheidend ins Gewicht fielen. Seit zwei Jahren sind nach links geöffnete Regierungen wegen der Spannungen innerhalb der Koalition weitgehend zum Nichtstun verurteilt gewesen, wodurch die längst fälligen Sozialreformen größtenteils auf der Strecke blieben. Keine Partei dieser Koalition war jedoch bereit, sich mit den königstreuen Liberalen zusammenzutun, und ginge es auch nur darum, mit ihrer Hilfe die Wirtschaftskrise zu überwinden. Freilich kann keine politische Führungsgruppe eine Regierungsformel über Nacht gleichsam wie das Hemd wechseln. Allzu brüske politische Neuorientierungen pflegen die Parteien mit erheblichen Stimmenverlusten zu bezahlen.

In dieser verzwickten Lage haben die regierenden Parteien das einzig Mögliche getan, was sie über Wasser hält: Zug um Zug sind alle Varianten zur Überwindung der 36. Regierungskrise durchexerziert worden. Die Eingeweihten mochten schon seit Monaten erkannt haben, daß schließlich nur der vorzeitige Abbruch der fünften Legislatur übrigblieb, um vom Eiak-torat — 37 Millionen Stimmbürger und Stimmbürgerinnen — jene Klärung der politischen Lage durch den Urnengang verbrieft zu bekommen, welche die Parteienfüihrer unter sich nicht mehr beibringen konnten. Im Einverständnis mit den maßgeblichen Politikern ist Staatspräsident Leone äußerst behutsam vorgegangen, hat die öffentliche Meinung allmählich auf die während 27 Jahren noch nie vorgekommene vorzeitige Auflösung der Kammer vorbereiten lassen und hat damit einer auf den Umsturz erpichten Opposition den Wind fast völlig aus den Segeln genommen. So werden nach Andreottis Kabinettssturz die Parlamentswahlen in aller Ruhe bereits am 7. Mai durchgeführt werden, während die Volksbefragung über die Ehescheidung damit gleichsam automatisch eine Verschiebung um ein Jahr erfährt und an einem Sonntag, zwischen dem 15. April und dem 15. Juni 1973, stattfinden soll.

Vor 50 Jahren ist Mussolini mit seinem berühmten Marsch auf Rom an die Macht gelangt. Im Jahre 1922 ist die demokratische Regierungsform allerdings auch aus anderen Gründen binnen weniger Wochen von der politischen Bühne verschwunden: Faschismus und Kommunismus konnten sich in jenen Tagen noch glaubwürdig als Aller-weltsmittel zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme anbieten, über deren Versagen wir heute bestens Bescheid wissen.

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Aus der Nähe besehen, mag das inneritalienische Hasardspiel, das Experimentieren mit wechselnden Ministerpräsidenten neuer, neuester und gar nicht neuer Farbnuancen, das geschickte Mischen jederzeit auswechselbarer Kombinationen, unverbindlich, amüsant, vielleicht so-gar alltäglich aussehen — in größerer Entfernung erkennt man die latente Gefahr. Denn immer noch ist Italien der schwächste unter den Eckpfeilern des werdenden Europa. Die Kunst des Improvisierens in Ehren, aber wo bleiben bei diesem nun seit Jahrzehnten praktizierten Parteienpoker die staatspoltisch wesentlicheren Dinge, wo die Europäisierung Siziliens — vom fernen, unerforschten Sardinien ganz zu schweigen —, wo die Milderung krasser sozialer Gegensätze? Südliches Temperament neigt zu Kurzschlüssen. Südliches Denken zu totalitären Lösungen. Dazu bedürfte es heute nicht mehr des Marsches auf Rom und es muß nicht immer Mussolini sein, der sich als letzte, vereinfachende „combinazione“ anbietet.

Die Redaktion

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