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Von „guten“ und „bösen“ Streiks

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In der vergangenen Woche hat die französische Regierung nach kurzer Vorbereitung im Schnellverfahren die Gesetzesvorlage über die Streikregelung durch die beiden parlamentarischen Gremien „gepeitscht“, damit sie noch vor Beginn der Sommerpause Gültigkeit erhält. Das Gesetz, an dessen Anflahme durch die Nationalversammlung wegen der bestehenden

Mehrheitsverhältnisse kein Zweifel bestand — lediglich der Senat dürfte Ministerpräsident Pompidou einige Schwierigkeiten bereiten —, konzentriert sich im wesentlichen auf zwei Punkte : Dem Personal der öffentlichen Betriebe (städtische Verkehrsanstalten, Eisenbahnen, Elektrizität-,

Gas- und Wasserversorgung, Staatsverwaltung) wird zur Auflage gemacht, einen geplanten Streik fünf Tage im voraus anzukündigen und anarchische Aktionen einzelner Sektoren des Dienstleistungsbereichs zu unterlassen. Widrigenfalls sollen Disziplinlosigkeit durch Sanktionen geahndet werden.

Unmittelbarer Anlaß dieses Entschlusses der Regierung war der „Quälstreik“ der Pariser Untergrundbahn Ende Juni, der am 27. des Monats seinen Höhepunkt erreichte und zu einer Lahmlegung der Aktivität in der französischen Hauptstadt führte. Der Charakter des Quälstreiks ist sein überraschendes Auftreten auf dieser und jener Linie und zu vorher nicht angekündigten Zeiten. Die Züge stoppten an diesem Tage auf irgendeiner Station, wobei der Zeitpunkt der Weiterfahrt offengelassen wurde. Manchmal dauerte die Unterbrechung drei, manchmal sieben Stunden. Ein starker Dauerregen, der am Morgen begann und bis in die Nachtstunden anhielt, zwang die Fahrgäste zur Flucht in die Gaststätten, zumal keine Aussicht bestand, einen Platz im Omnibus zu erhalten. Vor allem aber waren an zahlreichen Stellen der Stadt die Straßen durch den verstärkten Autoverkehr und wegen Verkehrssperren aus Anlaß des Staatsbesuchs des Königs von Marokko so verstopft, daß man nur schrittweise weiterkam und Personenwagen für Entfernungen von drei Kilometern vielfach dreieinhalb bis vier Stunden benötigten. Auf den Metro-Stationen gab es heftige Auseinandersetzungen der Fahrgäste mit dem Personal, die in mehreren Fällen in tätliche Angriffe ausarteten ...

Unpopuläre Überraschungsstreiks

So kam es, daß, im Gegensatz zur Solidarität der Bevölkerung mit den streikenden Bergarbeitern einige Wochen vorher, der Untergrundbahnstreik sich als ausgesprochen unpopulär erwies und die tatsächlich Leidtragenden der Aktion, die Fahrgäste, alle Verantwortung dem Metro-Personal zuschoben. Die Gewerkschaften erkannten zu spät die Zweischneidigkeit des Schwertes der Überraschungsstreiks, die wohl den Vorteil haben, daß sie Requirierungen der Behörden ausschließen, jedoch die Gefahr in sich bergen, der Regierung eine willkommene Handhabe zur „Streik-disziplinierung“ zu geben, zumal sie sich - wie im vorliegenden Falle - der Unterstützung der breiten Öffentlichkeit sicher ist. Das Kabinett nahm die am 27. Juni gegebene Chance wahr und beschloß eine sofortige Streik-r e g 1 e m e n t i e r u n g, die im Prinzip der Wahrnehmung der Interessen der Bevölkerung dient, jedoch das Streikrecht nicht angreifen soll.

Bereits die Verfassung von 1946 hatte praktische Dispositionen hinsichtlich der Streikanwendung vorgesehen, die auch von der Verfassung von 1958 übernommen wurden. Trotzdem hatte es keine Regierung in den zurückliegenden 17 Jahren gewagt, dieses heiße Eisen zu berühren. Die faktische Abwesenheit eines Gesetzes zur Regelung des Streikrechts erschwerte jede gültige Rechtsprechung in diesem Bereich. Deshalb muß der jetzige Regierungsentschluß als ein erster schüchterner Versuch angesehen werden, eine gesetzliche Regelung im Rahmen der Verfassung einzuleiten. Daß die großen gewerkschaftlichen Organisationen mit Schärfe reagieren und der Gesetzesvorlage mit Protesten und Streikaktionen begegnen würden, war zu erwarten. Gerade das zaghafte Vorgehen und die Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet mußte den Verdacht bei ihnen wecken, daß der Versuch auf eine Sondierung, eine erste Etappe hinweise, der das Terrain für massivere Angriffe gegen die gewerkschaftliche Freiheit bereiten sollte. Natürlich sind sich die Gewerkschaften dabei ihrer Schwächeposition bewußt, die in erster Linie durch die Gegensätze der drei großen Organisationen — CGT, Katholische Gewerkschaften und Force Ouvriere — und ihre sterilen Konkurrenzkämpfe bedingt ist. Selbst der auf ganz Frankreich ausgedehnte „nationale Proteststreik“ der Gewerkschaften gegen das neue Gesetz konnte hinsichtlich der Zeitdauer nicht koordiniert werden, so daß die erzwungene Arbeitsruhe in den verschiedenen Sektoren zwischen einer Stunde und einem ganzen Tag schwankte.

Gespensterparagraphen?

Wenn man bedenkt, daß bei den Pariser Verkehrsmitteln — und vor allem bei der Untergrundbahn — neben den drei großen Organisationen etwa 20 kleinere autonome Gewerkschaften, die einzelne Berufsuntergruppen (Gleisarbeiter, Billett-Kontrolleure, Stationsbeamten, Zugbegleiter, Schaffner usw.) erfassen, nebeneinander und vielfach gegeneinander ihre Aktivität entwickeln, wird man denjenigen beistimmen, die in der Regierungsvorlage eine Art Aufwertung des Streiks erblicken, da sie ihn vor mißbräuchlichen Verzettelungen zu bewahren sucht. Darüber hinaus dürfte der Wille des Staates, nur mit den repräsentativen, großen Organisationen zu verhandeln, diesen eine gewisse Rückenstärkung geben. Freilich wird es notwendig sein, daß der Staat ein altes Versäumnis endlich nachholt: die Ausarbeitung von Verhandlungsstrukturen zwischen dem Arbeitgeber Staat und den Lohnempfängern. Die „direkte Demokratie“ sah keine Zwischenorganisationen zum Verhandeln vor.

Mehr und mehr ist man sich in letzter Zeit dessen bewußt geworden, daß zahlreiche Streiks mehr dem Willen der Massen als dem der Gewerkschaften entsprachen. So ist es beispielsweise bezeichnend, daß die stark kommunistisch inspirierte CGT (Con-federation Generale de Travail) ursprünglich nur einen 48stündigen Bergarbeiterstreik vorsah, der sich dann bekanntlich über mehrere Wochen erstreckte.

Im Hintergrund: Sinkender Geldwert

Das Regierungsprojekt wird von den Gewerkschaften aus Prinzip abgelehnt. Da es die Absichten des Kabinetts im dunkeln läßt, nährt es vor allem die Agitation der CGT, der jeder Anlaß Unruhe zu schüren und Protestdemonstrationen zu veranstalten, recht ist. Aber auch in anderen Kreisen begegnet das Unternehmen der Streikreglementierung heftiger Kritik. In der Presse spricht man vielfach vom „Geisterproiekt“ und argumentiert nicht zu Unrecht, daß die Wut der Massen, besonders wenn sie sich auf das Gefühl der Ungerechtigkeit stützt, nicht durch Gesetzesparagraphen gebändigt werden könne.

Der entscheidende Grund der Unruhe ist die rasche inflationäre Entwicklung in Frankreich, die kürzlich vom Nationalen Wirtschaftsrat ausdrücklich bestätigt wurde. Ihre tiefere Ursache wird vielfach in unproduktiven Investitionen des Staates — vor allem in der „Force de trappe“ — gesehen und in einer auf Prestige und „Grandeur“ begründeten Außenpolitik. Die Lohnempfänger der öffentlichen Betriebe, deren Vergütung von budgetären Rücksichten des Finanzministers abhängt, stehen fraglos hinsichtlich ihres Lebensstandards schlechter als die Arbeiter und Angestellten der Privatunternehmen, die weitgehend von der Lage auf dem Arbeitsmarkt profitieren. Mit Schärfe wenden sich die Interessenvertreter der Arbeiter der öffentlichen Betriebe gegen das Argument des Staates, daß diese Unternehmen zum großen Teil defizitär sind. Sie sehen im Begriff des Defizits keinen Sinn, wenn der Staat gleichzeitig die Dienstleistung und ihren Preis bestimmt. Nach ihrer Überzeugung falle es dem Staat zu, bei

Auftreten von Gleichgewichtsstörungen im Budget, sei es den Preis der Dienstleistungen zu erhöhen, sei es zu Subventionen Zuflucht zu nehmen. Die Regierung solle daher das normale Funktionieren der öffentlichen Betriebe dadurch garantieren, daß sie ihren Lohnempfängern bessere materielle und soziale Bedingungen einräumt, als dies im privaten Sektor der Fall sei.

Alle diese Diskussionen und Agitationen lassen schon jetzt voraussagen, daß das etwas übereilt improvisierte Gesetz, das die Interessen der Bevölkerung wahrnehmen soll, sehr fragwürdig hinsichtlich seiner Wirkung sein wird. Wenn nicht ein Weg des Ausgleichs zwischen der materiellen Stellung der Arbeitnehmer im privaten und öffentlichen Sektor gefunden wird, dürfte es auch weiterhin — ohne Rücksicht auf das Gesetz — Unruhen, Agitationen und Überraschungsstreiks bei den öffentlichen Unternehmen geben.

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