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Der Streik — ein ungelöstes Problem

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Es ist nur eine der kleinen Ironien der dem marxistischen Dogma völlig zuwiderlaufenden gesellschaftlichen Entwicklung, daß es gerade die sozialistisch geführten Staaten Skandinaviens waren, in denen jüngst eine folgenschwere Streikwelle den betroffenen Volkswirtschaften und der davon betroffenen Arbeitnehmerschaft empfindliche Verluste verursachte. Durch den Generalstreik in Finnland ist der Staatskasse ein Defizit von nahezu 20 Milliarden Finnmark entstanden, die zu decken die Regierung zahlreiche Preiserhöhungen vorgenommen hat, so daß neue Lohnforderungen nicht ausgeschlossen sind. Ueber die wirtschaftlichen Schäden, die Dänemark durch die vielen Streikaktionen erlitten hat, wurde unter anderem bekannt, daß der in den ersten Monaten dieses Jahres mühsam zusammengebrachte Devisenüberschuß von 109 Millionen Kronen durch ein Defizit von 170 Millionen Kronen infolge der Exportausfälle im Streikmonat April vollständig aufgezehrt worden ist. Die Nicht-belieferung der Exportkundschaft kann angesichts der scharfen Konkurrenz auf den Weltmärkten überdies zu einer dauernden Schädigung führen. —

In Oesterreich zum Beispiel wurde zur Durchsetzung eines Wochenlohnes zur Abdeckung einer Teuerung, von der sich alle Betroffenen einig waren, daß sie durch Reallohnerhöhungen weitaus wettgemacht worden ist, gestreikt. Es wurde die Arbeit kollektiv niedergelegt, um die Entlassung von Arbeitskollegen durchzusetzen, die aus der Gewerkschaft ausgetreten sind oder die als parteiungebunden kandidieren wollten, man streikte zur Absetzung eines Krankcnkontrollors, der sich als Betriebsratsobmann den Weisungen seiner Partei in Betriebsangelegenheiten nicht fügen wollte, man streikte, um die Durchführung der Entscheidung eines Einigungsamtes zu verhindern. Man streikte gegen die Kürzung einer Budgetpost der öffentlichen Hand, zugunsten einer bestimmten Rechtsansicht in der Eigentumsfrage eines Betriebes, es wurde gestreikt, um gegen eine Teuerung zu demonstrieren oder um Ladenschlußzeiten zu erzwingen.

In Westdeutschland streikten 800.000 Arbeiter wegen einer Erklärung eines betriebsfremden Generaldirektors, die jeder Staatsbürger frei abgeben kann, und man streikte zur Erzwingung eines Gesetzes durch das Parlament. In England wurde in jüngster Zeit gegen die Fortsetzung der Industrialisierung durch Automation gestreikt oder die Arbeit niedergelegt, weil man sich nicht einig war, welche Berufsgruppe das Recht hat, die Nietlöcher für die Verbindung von Holz- und Aluminiumplatten an Schiffswänden zu bohren. In Frankreich streikten Hafenarbeiter, um die Verladung von NATO-Truppenteilen zu verhindern, Soldaten „streikten“ wegen ihres bevorstehenden Abmarsches nach Nordafrika. In Dänemark soll es den Kommunisten während eines der jüngsten Proteststreiks gelungen sein, durch einen einzigen Telephonanruf nicht nur die sozialdemokratischen Typographen von ihren eigenen Zeitungen wegzuholen, sondern auch sämtliche zivilen Arbeiter von den Arbeitsplätzen der Armee, der Flotte und der Luftwaffe zu entfernen.

Dennoch fehlt es heute selbst unter vielen, denen totalitäre Bestrebungen völlig ferne liegen, nicht an solchen, die den uneingeschränkten Gebrauch des Streikrechtes als unantastbares Recht der Arbeitnehmerschaft betrachten. Am ehesten bahnt sich eine gewisse Geschlossenheit in der Ablehnung des sogenannten „politischen Streiks“ als dem Streik zu politischen Zwecken (E. B e r n-stein) oder als politisches Mittel (J. M e ß-n e r) oder als Streik, der sich gegen andere richtet als gegen den bestreikten Arbeitgeber (Adolf Weber), als Streik gegen den Staat und seine Hoheitsträger (J. Kaiser und E. Welty). In dieser Diskussion beginnt doch die Auffassung durchzudringen, die den politischen Streik als mit einer demokratischen Verfassung unvereinbar bezeichnet und ihn nur im Rahmen des allgemeinen staatsbürgerlichen Widerstandsrechtes gegen eine Willkürherrschaft (Ost-Berliner Streik) gelten lassen will. Von einer allgemeinen Uebereinstimmung kann jedoch — gerade bei denen, bei denen die Macht liegt, zu solchen Streiks aufzurufen oder wenigstens einer solchen Parole zu folgen — noch lange keine Rede sein.

Die Diskussion um das allgemeine Streikrecht und seine Grenzen ist wohl in Gang gekommen und wird im Ausland sehr rege geführt. Sie leidet aber noch vielfach unter den Unklarheiten, die mit der Bezeichnung „rechtswidrig“ verbunden sind. Die verschiedenen Autoren lassen nicht immer erkennen, ob sie darunter einen Ausstand verstehen, der, wenn auch nicht dem positiven Recht, so doch dem Naturrecht widerspricht und dessen Grenzen erst durch gesetzliche Maßnahmen gezogen werden müssen, oder ob er darunter einen dem öffentlichen Recht widersprechenden Streik versteht, der strafrechtliche Sanktionen nach sich zieht, oder ob er darunter einen das Privatrecht verletzenden Streik meint, der lediglich zum Schadenersatz verpflichtet, oder schließlich überhaupt nur einen Streik, der irgendwelchen Vereinsstatuten widerspricht (zum Beispiel ein „wilder Streik“) und der bestenfalls innerverbandliche Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen kann.

Um vieles schwieriger als die Beurteilung eines politischen Streiks ist die Bestimmung der Grenzen für einen wirklich nur arbeitsrechtlichen. Die Einbeziehung der rein wirtschaftlichen Arbeitskämpfe in diese Diskussion ist nicht nur deshalb notwendig, weil auch einem an sich als arbeitsrechtlich deklarierten Streik politische . Motive unterliegen können, sondern auch deshalb, weil er. angesichts der heutigen Verflechtung von Wirtschaft und Politik, mitunter auch unbeabsichtigt politische Folgen nach sich ziehen kann, vor allem dann, wenn wesentliche Interessen Dritter oder gar die öffentliche Ordnung (Versorgung, Gesundheit, freie Meinungsbildung und so weiter) bedroht sind.

Bei einem arbeitsrechtlichen Streik handelt es sich bekanntlich darum, einen Sektor des Arbeitsmarktes ganz oder teilweise zu sperren, um den Marktpartner durch den dadurch für ihn verursachten Schaden zu zwingen, auf die für ihn wirtschaftlich mit geringerem Nachteil verbundenen Bedingungen der Streikenden einzugehen. Der vollen Tragweite dieser Freiheit, einen Markt zu sperren, wird man sich erst ganz bewußt, wenn man sie vom Arbeitsmarkt auf andere Märkte, Waren- oder Leistungsmärkte, übertragen denkt. Angenommen, den Erzeugern lebenswichtiger Waren oder den Unternehmern für das öffentliche Wohl notwendiger Verkehrsmittel wird vom Käufer bzw. Benutzer der gewünschte Preis nicht gewährt und sie würden daher im Wege einer Kartellvereinbarung beschließen, den Markt für ihre Ware oder Leistung so lange zu sperren, bis der dadurch angerichtete Schaden die Marktpartner so mürbe gemacht hat, daß sie lieber den geforderten Preis bewilligen. Welch allgemeine Entrüstung würde sich wegen dieses Wuchers erheben, um raschest die Intervention des Staates anzurufen zur Verhütung weiterer Schäden, die in der modernen Volkswirtschaft ja niemals auf die unmittelbar betroffenen Marktparteien beschränkt bleiben können! Daß diese Ideen nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigte der Versuch der finnischen ' Bauernschaft, dem Generalstreik mit einem allgemeinen Lieferstreik entgegenzutreten, zeigt in Oesterreich der Aerztestreik und die erst jüngst als Demonstration gegen die verzögerte Erhöhung des Milchpreises erfolgte Drosselung der Milchzufuhr nach Wien, und zeigte auch der seinerzeitige Taxistreik.

Obwohl offene Marktsperren etwas sehr Seltenes sind und die Idee der Ausdehnung des Streikgedankens auf den Waren- und Dienstleistungsmarkt erst neueren Datums ist, gibt et dennoch eine Reihe gesetzlicher Regelungen, wie zum Beispiel Kontrahierungszwang für lebenswichtige Güter, Preisregelungs- und Kartellgesetze usw., die einen solchen Mißbrauch der Handlungs- und Koalitionsfreiheit nach Möglichkeit verhindern sollen, und die Entwicklung läuft gegenwärtig darauf hinaus, die Freiheit des Wettbewerbs durch gesetzliche Vorkehrungen rechtlich zu garantieren.

Bezüglich des Arbeitsmarktes verläuft die Entwicklung gerade in entgegengesetzter Richtung. Hier wird das Streikrecht wie zum Beispiel in mehreren deutschen Länderverfassungen verfassungsrechtlich verankert. Was dem Arbeitgeber nicht erlaubt sein soll, soll der Verabredung der Arbeitnehmer ihrer Betriebe unverletzliches Grundrecht sein, vom Verderb von Waren und Ernten bis zur Sperrung des gesamten Verkehrs und Nachrichtenwesen. Wo immer Notstandsarbeiten durchgeführt werden oder eine Mindestversorgung aufrechterhalten bleibt, ist dies ausschließlich auf humanitäre Gesinnung oder das Bedürfnis der Streikleitung nach einer wohlwollenden öffentlichen Meinung zurückzuführen. — Wenn auch seit dem Kriegsende in Oesterreich relativ wenig gestreikt wurde, so bildeten doch die durchgeführten Streiks gegen hohe Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Freiheit des Arbeitsplatzes, der Meinungsbildung, Unverletzlichkeit des Rechtes) einen erstaunlich hohen Prozentsatz und fielen wesentliche Entscheidungen wirt-schafts- oder sozialpolitischer Natur wiederholt unter dem Damoklesschwert offen oder versteckt angedrohter „gewerkschaftlicher Kampfmittel“!

Es kann kein Zweifel bestehen, daß der Streik heute mit dem mittelalterlichen Faust- und

Fehderecht, das erst durch die Entwicklung zum Rechtsstaat überwunden wurde, oder mit dem Krieg vergleichbar ist, der nunmehr durch eine . neue völkerrechtliche und überstaatliche Rechtsordnung überwunden werden soll. Der Streik ist kein Ordnungsmittel, wie neuerdings (G. Müller, Ph. Hessel, mit Anhängern auch in Oesterreich!) entgegen der herrschenden Meinung behauptet wird.

Wenngleich in keiner Weise irgendeinem generellen Streikverbot das Wort geredet werden soll und auf keinen Fall in Abrede gestellt werden darf, daß einer kollektiven Arbeitsverweigerung mitunter die Berechtigung nicht abgesprochen werden kann, dürfte doch kaum übersehen werden, daß die soziologische Entwicklung und insbesondere der politische Aufstieg der Arbeitnehmerschaft die ursprüngliche Stellung des Streiks weit überholt hat. Dies berechtigt heute selbst einen so bekannten und angesehenen Gewerkschaftstheoretiker wie Goetz Briefs, den Streik als ein „barbarisches Relikt des 19. Jahrhunderts“ zu nennen, und veranlaßte keinen geringeren als den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Fagerholm, angesichts der erschreckenden Bilanz des jüngsten Generalstreiks in Finnland, diesen als „veraltete Waffe und ein nationales Unglück“ zu bezeichnen.

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