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Planmäßige Unterminierung?

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Der Schnee- und Kälteeinbruch, der in Großbritannien den Frühlingsbeginn und die Einführung der Sommerzeit begleitet hat, scheint symptomatisch zu sein für das verdächtige Knistern, das zur Zeit im politischen und sozialen Gefüge dieses Landes zu hören ist. Die leidenschaftliche und immer verworrener werdende Europadebatte ist nur eines dieser Symptome, und sie läßt an der oft recht zweifelhaften intellektuellen Qualität ihrer Durchführung erkennen, wie sehr die derzeitige Umwertung, oder besser: Entwertung so vieler stets als unerschütterlich angesehener Werte das britische Volk und seine Führer verunsichert hat.

Neben dem leidigen „Wahlkampf“ anläßlich des für Juni geplanten EG-Referendums springen vor allem zwei akute Phänomene der britischen Krise ins Auge — die gegenwärtige Streiksituation und die Bedrohung demokratischer Institutionen durch subversive und extremistische Minderheiten.

Streiks sind unglücklicherweise im Großbritannien der Nachkriegszeit nichts weniger als ungewohnt, aber gerade jetzt haben sich bei solchen Aktionen besonders unangenehme Entwicklungen ergeben, die direkten Bezug auch auf andere Elemente der allgemeinen britischen Malaise haben. So sah sich die britische Regierung am 19. März gezwungen, eine größere Truppeneinheit — mehr als 600 Mann — in die schottische Stadt Glasgow zu entsenden, um die 70.000 Tonnen Abfälle wegzuschaffen, die sich dort durch den jetzt schon mehr als drei Monate alten Streik der städtischen Abfall-Lastwagenfahrer angesammelt hatten und eine echte Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit darstellten. Alle bisherigen Versuche, den auf Lohnforderungen der Fahrer beruhenden inoffiziellen Streik beizulegen, sind gescheitert, die an solche Arbeiten nicht gewohnten britischen Soldaten arbeiten immer noch am Abtransport der Abfälle, und der Streik beginnt jetzt, sich auch auf andere schottische Städte auszubreiten.

Was eine Konfrontation zwischen „streikbrechenden“ Soldaten und streikenden Arbeitern für das ohnehin kritische Arbeitsklima in Großbritannien bedeutet, kann man sich vorstellen, und es liegt eine bittere Ironie darin, daß es gerade eine Labourregierung ist, die sich zu diesem Schritt entschließen mußte. Man muß 20 und 25 Jahre zurückgehen, bevor man auf ähnliche Maßnahmen stößt; damals wurden britische Truppen zur Beförderung von Post und zum Betrieb von Docks und von Gaswerken eingesetzt.

Ebenso inoffiziell wie dieser schottische Streik ist der Streik militanter Londoner Hafenarbeiter, die, entgegen der Empfehlung ihrer Gewerkschaft, vor mehr als vier Wochen die Arbeit niederlegten, weil sie eine Erweiterung ihres Arbeitsgebietes auf im Imland gelegene Containerfirmen fordern. Die Frachtunternehmer im Londoner Hafen bezeichnen diesen Streik als den potentiell gefährlichsten in der Geschichte der Londoner Docks und warnen vor dem finanziellen Zusammenbruch mehrerer von dem Streik betroffener Firmen.

Und dann ist da schließlich der Proteststreik tausender britischer Hochseefischer, die sich gegen den Import billiger Fische aus verschiedenen europäischen Ländern zur Wehr setzen. Dieser Protest findet in der Form einer Blockade zahlreicher britischer Häfen durch Fischdampfer statt, und dabei ist es besonders ungut, daß es sich bei einigen dieser Häfen, wie etwa Aberdeen oder Pe-terhead, um Zubringerhäfen für die Erdölbohrinseln in der Nordsee handelt; eine Störung der eben erst mühsam anlaufenden britischen Erdölgewinnung in der Nordsee durch diese nun schon wochenlang andauernde Aktion der Hochseefischer könnte verheerende wirtschaftliche Folgen haben.

Was die Gefahren für die Demokratie und die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung angeht, so wurde in letzter Zeit vor allem durch zwei prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Großbritannien darauf aufmerksam gemacht. Sir Robert Mark, der Polizeichef von London, hat in einer vielbeachteten Rede vor Polizeianwärtern scharfe Kritik an Richtern geübt, die über Gewalttäter bei politischen Demonstrationen entweder keine oder lächerlich milde Strafen verhängen, wie er sich ausdrückte. Eine Gesellschaft, so meinte Londons oberster Polizist, die politische Extremisten und Gewalttäter milder verurteile als etwa Ladendiebe, setzte sich der Gefahr der Erpressung durch eine gewissenlose Minorität aus.

Noch ominöser und bedrohlicher klang die Warnung, die der bekannte politische Kommentator und ehemalige Labourminister Lord Chalfont kürzlich bei einer Parlamentsdebatte aussprach. Lord Chalfont, der im Vorjahr aus der Labourpartei ausgetreten ist, weil er ihr einen zu starken Ruck nach links vorwarf, warnte vor den sehr ernsten Gefahren, die der britischen Demokratie durch subversive und extremistische Gruppen drohen, darunter die rund 30.000 britischen Kommunisten. Die geringe Zahl dieser Extremisten, so meinte Lord Chalfont, stehe In keinem Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Einfluß, vor allem in manchen der größten britischen Gewerkschaften, und damit auch in der Labourpartei. Es seien Kräfte am Werk, die sich die planmäßige Unterminierung der demokratischen Institutionen und der gesamten sozialen Struktur Großbritanniens zum Ziel gesetzt hätten, um ihren eigenen, anarcWstisch-links-revolutionären Ideen zum Durchbruch zu verhelfen.

Lord Chalfonts Warnung mag ihrerseits extrem sein, mag ein wenig nach Hexenjagd und McCarthy klingen, aber anderseits hat man vor der russischen Revolution auch die paar Tausend Bolschewiken nicht ernst genommen und hat in Österreich noch 1930 über den primitiven politischen Agitator Adolf Hitler gelacht. Irgend etwas ist faul im Staate Großbritannien, und das politische Chaos anläßlich des EG-Beitritts ist dabei nicht gerade eine Hilfe.

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