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Kein neuer Mai 68

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Ende Februar wurden die neuen Lokale des Verbandes der Auslandsjournalisten auf den Champs-Elysees eröffnet. Man kann ruhigen Gewissens behaupten, daß sich die Spitzenvertreter der Weltpresse, mit Ausnahme der Repräsentanten angelsächsischer Länder, eingefunden hatten. Die Journalisten aus den USA, Großbritannien und dem früheren britischen Weltreich waren scheinbar zu vornehm, um sich mit ihren Kollegen aus der Bundesrepublik, Italien, der Sowjetunion, Japan und zahlreichen exotischen Staaten an einen Tisch zu setzen. Unter den Exoten befand sich übrigens auch ein Österreicher. Die meisten Gespräche mit den Freunden der Pariser Tagesund Wochenpresse drehten sich um die Demission und Neubestellung des Kabinetts Messmer. Die allgemeine Atmosphäre dieser Aussprachen kann am besten mit dem Titel eines Filmes von Alexander Kluge charakterisiert werden: „Die Artisten in der Zirkuskuppel — ratlos.“ Einer der bestinformierten Herren der Nachrichtenbörse gestand offen, daß er vollkommen überfordert sei und ehrlich geschrieben habe, er könne für dieses Manöver keine Erklärung finden. Handelt es sich um einen Akt, der die uneingeschränkte Autorität Georges Pompidous bestätigen sollte? Wünschte man einige Randfiguren aus dem Kabinett zu entfernen? Zahlreiche Hypothesen tauchten auf und wurden ebenso schnell wieder verworfen.

Wie immer die Motive lauten mögen, die den Staatschef zu dieser Handlung bewogen haben, es wurde ein seit Monaten mit Genuß betriebenes Spiel, zumindest bis zu Beginn des Sommers, unterbrochen: Geht er, oder geht er nicht? So lautete seit Dezember der Refrain bei politischen Dejeuners, in Diskussionen der Generalstäbe der Parteien und in Kommentaren der meinungsbildenden Gazetten. Die Position Messmers als Exekutivorgan des Staatschefs ist nun bis auf weiteres unbestritten. Findige Reporter wollen eine politische Akzentverschiebung zum orthodoxen Gaullismus bemerken, andere glauben die Handlungsfreiheit des Finanzministers Giscard d'Estaing eingeschränkt zu sehen. Des öfteren wird von einer Mutierung im Stile des Kabinetts gesprochen, aber diese äußeren Merkmale verschwinden unserer Meinung nach und müssen hinter dem Gesichtspunkt des Programmes und der Aktivität der Regierung Messmer III zurücktreten.

Die Hauptfront, an der sich die innenpolitischen Kämpfe der nächsten Monate abspielen werden, sind die Energieprobleme, die Inflation und, damit zusammenhängend, die Gefahren weitgreifender Sozialkonflikte. Frankreich verfügt über keine nennenswerten Energieträger, sieht man von den nicht gerade ergiebigen Kohlevorräten in Lothringen und im Norden des Landes ab. Diese Minen wurden in den letzten Jahren sehr vernachlässigt, es mangelt an Nachwuchs von Facharbeitern, und notwendige Investitionen wurden nicht vorgenommen. Die Fünfte Republik hängt also von den öllieferungen aus dem Nahen Osten ab, und die betont proarabische Politik der letzten Jahre findet ihre Berechtigung in der Notwendigkeit, die Industrie des Landes ausreichend mit Energie zu versorgen. Natürlich wurden hier Fehler begangen, da man sich zu einseitig auf den billigen Rohstoff Erdöl ausrichtete und in erster Linie die Versorgung in den Mittelmeerländern suchte. Nach der neuen Zauberformel des Kabinetts Messmer III soll die Atomenergie in Zukunft die französischen Fabriken antreiben. Zu diesem Zweck ist bis zum Jahre 1980 der Bau von 13 Atomkraftwerken mit einem Aufwand von 13 Milliarden Francs geplant. Dieses Projekt hat zwei nicht ungefährliche Haken. Die Atctmzentralen müssen unter amerikanischer Lizenz gebaut werden. Westinghouse wurde gebeten, die entsprechenden Patente zur Verfügung zu stellen. Nach Meinung zahlreicher Experten bringt dieser massive Ausbau von Atomkraftwerken die Gefahr einer Überheizung der Flüsse Frankreichs, mit sich, die zur Kühlung herangezogen werden müssen. Man befürchtet sogar eine radioaktive Verseuchung. Schweden hat auf Grund solcher Befürchtungen auf diese Energieform bis auf weiteres verzichtet.

Eine Reihe nicht sehr populärer Maßnahmen zur Energieeinsparung wurde in den vergangenen Wochen veröffentlicht. Ihre Begleiterscheinung ist eine weitere Verstärkung des Zentralismus und des staatlichen Dirigismus. Vom 15. April bis zum 15. Oktober sollen nicht nur Schulen, Amtsgebäude und Krankenhäuser ohne Heizung bleiben — diese Maßnahme ist auch für Privatwohnungen vorgesehen. Horden von Inspektoren werden voraussichtlich Stichproben machen und die Wärmesünder vor den Kadi zerren.

Entgegen allen Versprechungen geht der Tanz der Preistafeln lustig weiter, und die französische Inflationsrate führt die europäischen Statistiken an. Eine Parole des Staats-chefs soll die Leitlinie der zukünftigen Wirtschaftspolitik sein: lieber Inflation als Arbeitslosigkeit. In einem Gentlemen's Agreement mit dem Industriellenverband wurde niedergelegt, daß die Betriebe keine Entlassungen durchführen. Aber werden sie neue Arbeitsplätze schaffen? Mit dem Ende des Schuljahres pochen starke Kontingente Jugendlicher an die Tore der Fabriken und Büros. Bis auf weiteres bleibt ungeklärt, ob man diese Zehntausende in den Arbeitsprozeß wird integrieren können.

Doch liegen keinerlei Anzeichen für einen neuerlichen Mai 1968 vor. Zähe Streiks in den verstaatlichten Banken und den wichtigen Industriewerken aber lassen auf eine Verhärtung der Arbeitskonflikte schließen. Ist die Regierung Messmer in der Lage, die ersten Anzeichen einer größeren Unzufriedenheit zu bannen? Die Umbesetzung des Innenministeriums kann darauf hindeuten, daß die Regierung die bisher praktizierten Methoden strenger Repressionen bei Streikwellen nicht fortzusetzen gedenkt. Georges Pompidou hat demonstrativ den Generalsekretär der gemäßigten Gewerkschaft FO empfangen, und zum Staunen aller unterhielt sich der Finanzminister zum erstenmal in der Geschichte der Fünften Republik ausführlich mit Vertretern der Kommunistischen Partei. Man wird nicht fehlgehen, wenn man auf einen Dialog zwischen Regierung und Opposition schließt. Werden die Sozialisten und Kommunisten auf dieses demokratische Spiel eingehen, oder sind sie zu sehr Gefangene ihrer Basis, die Kampfmaßnahmen fordert? Auf dieser sozialpolitischen Ebene wird sich das Schicksal der Regierung Messmer III erfüllen.

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