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Generalstreik auf Raten?

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In den letzten Monaten waren wir Zeugen einer bedenklichen Massierung von wirtschaftlichen Kampfaktionen, welche durchweg als „Streik“ deklariert wurden. Da scheinbar alle Berufsgruppen unseres Landes, wo immer sie in der Sozialhierarchie stehen, die Absicht haben, ihre Forderungen mit Maßnahmen durchzusetzen, die sie „Streik“ nennen, können wir von einem „Generalstreik auf Raten“ sprechen, von sozialetikettierten Aktionen aller gegen alle.

Um die Streikaktionen zu koordinieren, wird es wohl in Hinkunft notwendig sein, eine Art „Streikkalender“ aufzustellen und jeder streikwilligen Gruppe ihre „Streiktage“ im Kalenderjahr zuzuteilen. Auf diese Weise hätten die jeweils Streikenden die Sicherheit, während ihrer Streikfreizeit nicht unversorgt zu bleiben, und könnten sich der zusätzlichen Arbeitspause auch wirklich ohne Versorgungsschwierigkeiten erfreuen.

Streiken oder das, was man dafür hält, ist jetzt zur Mode geworden, zum Fluchtziel eines kollektiven Unmutes, dessen man sich in der Weise entledigt, daß man sich für einige Zeit weigert, seine gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen.

Gestreikt wird wegen durchaus berechtigter Forderungen ebenso wie aus Neid, weil der Nachbar sich einen Vorteil verschaffen konnte, den man auch gewinnen will; man streikt sogar bloß aus Laune, wie jüngst in einer Brotfabrik.

Waren noch vor wenigen Jahren die jeweiligen Kontrahenten bei sozialwirtschaftlichen Auseinandersetzungen bemüht, zuerst nach Formeln für ein Kompromiß zu suchen, wird heute zuerst einmal gestreikt oder mit dem Streik gedroht und erst nach dieser einleitenden, gerade konventionellen Handlung der Versuch gemacht, zu einem Arrangement zu kommen.

Noch nie in der Geschichte unserer Republik wurde der Streikgedanke sosehr mißbraucht und wurden Handlungen zudem mit „Streik“ deklariert, die so gar nichts mit einem echten Streik zu tun haben, wie in diesen Monaten.

Die Idee des Streiks, als eines sozialen Widerstandsrechtes, wird daher in einem unvertretbaren Ausmaß strapaziert. Niemand ist dabei der Streikmode eigentlich so recht froh. Wenn irgendwo gestreikt wird, ist jeweils die Mehrheit der Bevölkerung dagegen oder schweigt zunrndest betreten. Nur die Angehörigen der streikenden Be-rufsgruppe rinden am Streik noch etwas Freude Die zu einer fragwürdigen Größe gewordene und ohnedies meist pressegesteuerte „öffentliche Meinung“ ist übrigens in der Sache „Streik“ bereits grundsätzlich gespalten Wer sich noch „proletarisch“ fühlt vermag dem Streik der eigenen „Klasse“ einigermaßen Sympathie entgegenzubringen. Den Streik anderer Gruppen lehnt man bereits ab, aus Prinzip.

Die Angestellten können sich im allgemeinen den Argumenten eines Angestelltenstreiks nicht verschließen. Die Streikaktionen der anderen sozialen Großgruppen werden mißbilligt.

Den „Bürgerlichen“ paßt nur ein „bürgerlicher“ Streik, ausgenommen jener der Bauern. Diese wieder fühlen sich durch einen Städterstreik provoziert.

Offenkundig wäre die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung froh, gäbe es überhaupt keine Streikveranlassung.

Was wird zudem heute nicht alles als Streik und dadurch als Ausübung eines elementaren Freiheitsrechtes zu legitimieren versucht! Bisher haben wir als Streik eine kollektive Verhaltensweise der Arbeitnehmer, und nur dieser, verstanden. Für die Kampfmaßnahmen von Selbständigen hatte man keinen passenden Terminus. Jetzt aber gibt es den Lieferantenstreik, und Studiosi treten in einen „Prüfungsstreik“, während Schüler ihre angesammelte Abneigung gegen Schule und kontinuierlichen Schulbesuch als Schülerstreik bezeichnen und damit eine Reihe ernster juristischer Erwägungen erzwingen, weil es sich ja eigentlich um einen Elternstreik handelt. Außerordentlich beliebt ist bei den „betroffenen“ Schülern der Lehrerstreik, für den uns die Lehrkräfte in romanischen Ländern Modell stehen.

Noch steht ein Hebammenstreik aus, ebenso der freilich mit gewissen Schwierigkeiten auch für die Streikenden verbundene Streik stillender Mütter und jener der Polizisten, dessen Beilegung in einer amerikanischen Stadt einmal einen Mann so berühmt gemacht hat, daß man ihn zum Präsidenten der USA erkürte. Den Essen-sfereik der Kleinkinder kennen wir schon, seit es diese „Gattung“ in der Alterspyramide gibt.

Der edle Sinn des Streikendürfens, ein markantes Dokument unserer freiheitlichen Ordnung, verschwindet zusehends. Das Streiken wird oft und allzuoft ein zu Unrecht als soziallegitim klassifiziertes Praktizieren unserer demokratischen Freiheit. Der heroische Kampf der Gewerkschaften um das Streikrecht, um die Gewinnung von Positionen in extremen Situationen auf dem Arbeitsmarkt, nimmt nicht selten die Form eines Trotzaktes an, den niemand — oft nicht einmal der Streikende — noch ernst nimmt.

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