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Imageänderung durch relatives Chaos
Die Deutschen können auch streiken. Alle Welt reibt sich die Augen. Hat man richtig gesehen? Nach der vielbeschworenen Furcht vor der wirtschaftlichen und vielleicht auch politischen Großmacht taucht jetzt Angst vor dem von Deutschen verursachten Chaos auf. Vor allem Kommentare aus dem anglo-amerikanischen Mediensalat reiten auf dieser Beurteilungswelle.
Da sieht man, daß zu Schlagworten geformte Mythen - auch wenn sie dem politischen Kommentator momentan noch so plausibel erscheinen - in der Bewertung radikaler Veränderungen nicht die Wirklichkeit treffen. Gerade am Arbeitskampf von zehn Prozent der öffentlich Bediensteten in der Bundesrepublik (insgesamt 2,3 Millionen Beschäftigte), zu dem sich sehr bald auch ein Streik der Metaller gesellen könnte, wird deutlich, daß die den Deutschen nachgesagte Behaglichkeit, ihr Ordnungssinn, ihr Streben nach Absicherung des Erreichten dort Grenzen hat, wo eben diese „Werte" als bedroht erscheinen.
Es nutzt nichts, wie *die „Washington Post" dies auflistet, den Deutschen ihre vorzüglichen Arbeitsbedingungen - Weltchampion bei Ferien, weniger Arbeit, mehr Gehalt - vorzuhalten. Gerade diese Annehmlichkeiten wollen viele Deutsche - Einheitsgerede hin, Kostenfrage her - nicht aufgeben. Und die Gewerkschaften brauchen auch mal einen Prestigeerfolg. Da nützen Hinweise in deutschen Zeitungen nichts, daß die Arbeitskämpfe, „die sich durch Ballung in verschiedenen Branchen einem Generalstreik nähern", kein Augenmaß „für die gefahrlos zu verteilende Masse der Einkommen" zeigen („Die Welt"). Bleibt die Frage, ob die Gewerkschaften den für Deutschland günstigsten Augenblick zur Initialzündung von Arbeitskämpfen gewählt haben.
Der Schock über die „chaotischen Deutschen", ein neues Schlagwort, italienische Kommentare sprechen von „Klassenkampf, sitzt vor allem bei den östlichen Nachbarn tief. Ihr bisher vertrauensvoller Blick auf die Wirtschafts- und EG-Integrationslokomotive Deutschland wird flackernd unsicher. Daß die Deutschen erst einmal an sich selbst denken wollen, führt osteuropäischen Politikern und Wirtschaftsfachleuten vor Augen, daß man eben nicht alles „von Helmut" erwarten kann.
Deutschland wird nicht im Chaos versinken. Das Image Deutschlands wird dieser Streik und mögliche folgende sehr wohl ändern. Man wird der neuen Großmacht nüchterner sehen und beurteilen müssen, ihr auch nicht alles abverlangen können, was nur gemeinsam gemeistert werden kann. Es stimmt schon, was „Newsweek" diese Woche schreibt: In Italien wäre das gegenwärtige deutsche Chaos „business as usual", in Bulgarien sogar das Paradies.
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