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Englands zornige Matrosen

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Am Freitag, dem 13. Mai, gingen die Unterhändler der Reeder und der Seeleutegewerkschaft vom Sitz des Premierministers weg in der Gewißheit, daß ein Streik der Seeleute das erste Mal seit 1911 unvermeidbar geworden war. Tatsächlich begann um Mitternacht vom 15. auf den 16. Mai der angedrohte Streik. Wohl die wichtigste Folge dieses Ausstandes, den man hier in London mit dem Generalstreik des Jahres 1926 gleichzusetzen pflegt, ist bisher der Ausruf des nationalen Notstandes durch

die Regierung. Premierminister Wilson versicherte freilich, daß das Kabinett vorderhand nicht von den weitgehenden Vollmachten Gebrauch machen werde; als ersten Schritt sehe man sich aber genötigt, für Lebensmittel Höchstpreise festzusetzen.

Ein Streik, der wächst

Diese drastische Maßnahme war nach Ansichten von Beamten erfor

derlich, weil bereits nach einer Woche Streikdauer etwa 550 Schiffe müßig in den Häfen der britischen Inseln vor Anker liegen, so daß schon nach sieben Tagen ein Viertel der britischen Handelsflotte vom Streik betroffen war. Innerhalb weniger Tage ist die Zahl der ankernden Schiffe um die Queen Mary, Pendennis Castle und Southern

Cross, um nur die bekanntesten Passagierdampfer zu nennen, gewachsen, und etwa 22.000 Matrosen streiken. Denn ein Seeleutestreik setzt nicht wie in der Industrie schlagartig ein, sondern baut erst langsam auf, da auf hoher See eine Arbeitsverwei

gerung als Meuterei angesehen und strafrechtlich verfolgt wird. In Reederkreisen und im Sekretariat der Seeleutegewerkschaft erwartet man, daß Anfang Juni der größte Teil der britischen Schiffe in den Heimathäfen versammelt und die Hafenbecken völlig verstopft sein werden.

Obgleich die National Union of Seamen lediglich etwa 66.000 Mitglieder zählt und damit rund die Hälfte der Handelsmarine erfaßt, wird sich der Streik auf die gesamte Handelsflotte aüswirken. Die Bedeutung des Streiks leitet sich selbstverständlich nicht von der Zahl der betroffenen Beschäftigten ab; bloß fünf Promille der zivilen Arbeiter und Angestellten streiken nämlich. Aber in einem normalen Wirtschaftsjahr laufen Frachtschiffe mit etwa 100 Millionen Nettotonnage die bri-

tischen Häfen an und löschen dort rund 60 Millionen Tonnen Fracht. Fast alle industriellen Rohstoffe bezieht die britische Industrie aus Übersee und exportierte 1964 Waren im Werte von 4,5 Milliarden Pfund Sterling oder zirka 14 Prozent des Bruttonationalproduktes. Da jährlich allein für den Import Frachtkosten von etwa 700 Millionen Pfund Sterling entstehen, die vorwiegend

Der Fall der „Cape Nelson“

Die Gründe für die harte Verhandlungsführung der Gewerkschaft liegen aber tiefer. Zunächst sind Anfang dieses Jahres einige Gewerkschafter in die Exekutive gewählt worden, die der National Seamen’s Reform Movement (Nationale

Reformbewegung der Seeleute) angehören und 1960 einen „wilden“ Streik anführten. Diese Männer, die sich um Joe Kenny, Jim Slater und den Kommunisten Gordon Norris scharen, bemühen sich in erster Linie um eine Neufassung des Han

delsmarinegesetzes aus dem Jahre 1894, das die Matrosen in disziplinärer Hinsicht noch immer der Willkür des Kapitäns unterwirft. Als Beispiel zitieren die Gewerkschafter, unter anderem auch der gemäßigte Generalsekretär der Gewerkschaft, Mr. William Hogarth, den Fall des

den britischen Schiffen zugute kommen, läßt sich der wirtschaftliche Schaden ermessen, den der Streik hervorruft.

Was sind nun die Hintergründe, die zu dieser gewerkschaftlichen Kampfmaßnahme führten? Muß man darin nur den Mangel eines ausgebauten kollektiven Verhandlungssystems erblicken? Eine bejahende Antwort scheint in der Tatsache zu liegen, daß die Seeleutegewerkschaft die Vierzigstundenwoche auf hoher See gegenüber den gegenwärtigen

56 Stunden ohne Lohneinbuße oder, was auf das gleiche hinauskommt, 14 Pfund Basislohn für sieben Tage und Überstunden für jene Zeit forderten, die 40 Stunden übersteigen. Diese Forderung entspricht einer solchen nach einer 17prozentigen Lohnsteigerung. Demgegenüber boten die Reeder eine Lohnerhöhung von 13 Prozent verteilt auf die nächsten drei Jahre an.

Erzfrachters „Cape Nelson“. Wenige Monate nach dem Tarifvertrag vom März 1965, in dem sich die Partner auf einen Basislohn von rund 15 Pfund Sterling für 56 Stunden auf hoher See einigten und in dem stillschweigend angenommen wurde,

daß nur dann Arbeit verlangt würde, wenn die Verhältnisse es erforderten, hingen 25 zornige Matrosen an einem heißen Wochenende einige Meilen vor einem brasilianischen Hafen entlang der Bordwand des Schiffes und pinselten Farbe auf den Schiffsbauch. Das Schiff mußte vor der Hafeneinfahrt warten, bis ein Ankerplatz frei würde. Der Kapitän legte den Tarif allzu wörtlich aus und ließ seine Matrosen während der dreiwöchigen Wartezeit siebenmal die Woche je acht Stunden das Schiff streichen. Dieser Fall blieb nicht der einzige; bis Ende 1965 wurden 88 Fälle bekannt, in denen die Kapitäne den Vertrag vom März 1965 wörtlich auslegten.

Über allem steht auf der Seite der Matrosen allerdings das fatale Gefühl, von der Gesellschaft vergessen wenn nicht sogar verachtet zu sein. Mr. Hogarth kleidete dieses Ressentiment in die Worte: „Im Kriege haben ein Drittel unserer Mitglieder ihr Leben gelassen, und seither sind wir vergessen worden zu lange.“ Oder ein einfacher Matrose meint, daß die „Eltern ihren Töchtern den Umgang mit Matrosen verbieten, als ob wir Wilde wären.“

Auch auf Seiten der Reeder sind die Verhältnisse vielfältig. Einige Unternehmer anerkennen die Berechtigung der gewerkschaftlichen Forderung, fürchten jedoch gleichzeitig, daß sie erst der Anfang sind. Tatsächlich peilen einige Gewerkschafter eine Entlohnung von 100 Pfund Sterling für einen Monat an. Anderseits bedeutet die Forderung einer 40-Stunden-Woche für einige Reedereien einen wirtschaftlichen Tiefschlag. Die Passagierlinien haben derzeit entweder eine Rendite von Null oder eine solche von drei Prozent; gleichzeitig ist der Betrieb eines Passagierschiffes sehr lohn

intensiv und die Möglichkeiten, etwa Servicekosten einzusparen, begrenzt, da die Linienschiffe im Wettbewerb mit den Fluglinien stehen. Hingegen ließen einige prosperierende Reeder wissen, daß sie auch nach Erfüllung der gewerkschaftlichen Forderung noch Gewinne erzielen könnten. Es sind dies jene Linien, die in den

letzten Jahren die Rationalisierung am weitesten vorangetrieben haben. Ein Manchester Reeder schränkte zum Beispiel auf seinen 10.000-BRT- Frachtern die Besatzung von 50 auf 30 Mann ein. Überhaupt ist der Trend zum automatisierten Schiff kaum noch aufzuhalten. Aber die Mehrzahl der Reedereien hinkt in der Automation noch hinterher, weshalb sich ihre Position in dieser Auseinandersetzung besonders verhärtete.

Streikende in Sicht?

Selbstverständlich legt man sich auch die Frage vor, wie lange dieser Ausstand dauern würde. Obwohl die Regierung das Land vor einer langen Dauer warnte und die Ausrufung des Notstandes in diesem Sinne zu verstehen ist, erwarten einige Experten ein Ende innerhalb der nächsten zwei Wochen. Sie stützen ihre Annahme vor allem darauf, daß durch eine längere Dauer zweifellos zahlreiche Fabriken mangels Rohstoff schließen und ihre Arbeitskräfte freisetzen müßten. Die Industriegewerkschaften werden daher über den Gewerkschaftsrat (TUC) starken Druck auf

die Seeleutegewerkschaft ausüben, um sie kompromißbereit zu machen. Gleichzeitig dürfte auch die Industriellenvereinigung versuchen, die Vereinigung der Reedereien zu einer konzilianteren Haltung zu bewegen.

Unter normalen Umständen sollte dieser Druck ausreichen, daß der

Wilson im Hintergrund

Soweit bis jetzt beobachtet werden kann, wird der Seeleutestreik kaum auf die innenpolitische Entwicklung Rückwirkungen haben. Premierminister Wilson ist, was Taktik betrifft, nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er ließ zunächst die Tarifpartner verhandeln, dann den Arbeitsminister einen Versuch zur gütlichen Beilegung unternehmen und lud dann die Parteien, als nichts fruchtete, schließlich zu einem Gespräch ein. Nach langem Palaver ließ er den Parteien ihren Willen nach einem Streik. Erstens konnte er sie nicht aufhalten und zweitens hatte er vielleicht den Hintergedanken, daß ihm dieser Streik den Weg zu einem Gesetz ebnen könnte, das dem amerikanischen Taft-Hartley-

Streik bald sein Ende findet, zumal ein Teil der Seeleute dem Streik nur halbherzige Folge leistete. Eine Prognose über die voraussichtliche Dauer des Ausstandes ist kaum möglich, da zu viele unwägbare Einflüsse und alte Ressentiments mitspielen.

Gesetz ähneln soll. Dadurch würde der Premierminister befugt sein, jeden Streik für eine Abkühlungsperiode von etwa einem halben Jahr bei Strafe zu verbieten, wenn die Belange der Nation auf dem Spiel stehen.

Auf diese Art könnte sich der Seeleutestreik, welcher der britischen Wirtschaft wöchentlich 70 Millionen Pfund Sterling kostet und die Strafe für eine Vernachlässigung der Handelsmarine seit einem halben Jahrhundert darstellt, sogar am Ende noch als Segen herausstellen. Nämlich dann, wenn sein lehrreiches Beispiel auch den hartgesottensten Gewerkschaftsführer von der Dringlichkeit eines modernen Streikgesetzes überzeugt.

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