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Japans Zeitungen sind anders

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DER SKURRILSTE STREIK, den ich erlebte, war der Zeitungsstreik in Tokio. Ich habe Erfahrungen in Streiks aller Arten und aller Farbtöne gesammelt. Niemals und nirgends balancierte ich so andauernd auf dem schmalen Grad zwischen Komik und Ernst, zwischen Hemmungslosigkeit und Formalismus, zwischen Wildheit und Servilität. Hemmungslos wie die japanischen Zeitungen war der Zeitungsstredk in Tokio. Sentimental und servil wie die japanischen Zeitungen war der Zeitungsstreik von Tokio. Die japanischen Journalisten sind Kettenhunde der Zeitungsbesitzer, bissig und wimmernd. Im Streik wendeten sie sich gegen die eigenen Herren und waren jederzeit dazu bereit, dem Herrn die Hosen zu zerfetzen oder aber winselnd vor ahm zu hocken.

Manche japanische Zeitungen haben Auflagen bis zu Millionen Exemplaren pro Tag. Sie sind bissig, aggressiv und hemmungslos nach außen hin; schließlich gibt es in Japan ja Pressefreiheit, übrigens wie die meisten anderen Freiheiten seit 1945 von den Amerikanern dekretiert. Japanische Zeitungen sind in ihrem Innenaufbau strenger gegliedert als Ministerien. Der Reporter, von der Leine gelassen, soll das Wild stellen. Auf das Kommando „Fuß!“ kehrt er in die Redaktion zurück und legt die Beute vor die Füße des Chefredakteurs. Doch vor dem Außenstehenden ist die strenge Hierarchie durch die Scheindemokratie des Zusammenarbeitens aller Grade, vom Chefredakteur bis zum letzten Reporter, verwischt: In der Mitte des riesigen Raumes, in dem die Zeitung gemacht wird, sitzt der Chefredakteur. Dem Fremden fällt er unter hunderten Reportern, Photographen, Redakteuren nicht auf. Sie arbeiten alle in Hemdsärmeln unter einer Dunstglocke aus Rauch, Schweiß und altem Papiergeruch. Beobachtet man den Ameisenbetrieb In einem japanischen Redaktionsraum dann genauer, so spürt man auch als Fremder den Chefredakteur. Er ist Kopf, Zentrum, Schalt- und Kontrollzentrale.

DER TON IST RAUH. Doch rund um den Schreibtisch des Chefredakteurs zerschellt die Rauheit an einer Wand journalistischer Feudalhaltung. Die Redakteure und Reporter strahlen bei jedem Wort, das sie an den Chefredakteur richten, bedingungslose Devotheit aus. Runzelt er die Stirn, so zittert der Mann vor seinem Schreibtisch um seinen Arbeitsplatz, zumindest um seine Position. Die Inflation an Universitätsabsolventen bringt eine Inflation an Kandidaten für den Zeitungsberuf mit sich.

Von 100 Kandidaten nimmt „Yo-miuri“ nur acht, „Asahi“ nur zwei in seinen Stab auf. Selbstverständlich nur probeweise. Die Probezeit kann fünf Jähre dauern, in denen der Aspirant täglich vor die Tür gesetzt und durch einen anderen ersetzt werden kann.

Herrscht Bissigkeit nach außen und Servilität im Inneren des Zeitungsbetriebes, so gibt es zwischen den Zeitungen messerscharfen Konkurrenzkampf. Freundschaft zwischen Journalisten verschiedener Zeitungen bedeutet verräterisches Fraternisieren, den Clan-Geist auf die Zeitungswelt übertragen.

Hoch über der Zeitung, hoch in den Wolken des feudalen Firmaments thront ein Präsident.

Ich war Gast des Präsidenten Shoriki Matsutaro. Shoriki besitzt „Yomiuri“, die zweitgrößte Zeitung Japans. Doch Yomiuri ist nicht nur eine Zeitung. Yomiuri ist ein ganzes Reich, von Shoriki mit harter Hand autoritär regiert. Der kahlköpfige Greis besitzt eine Fernsehstation, eine Radiostation, ein Baseballteam, ein Symphonieorchester, ein Warenhaus und das monströse Paradies, für Freizeitgestaltung „Yomiuri-land“. Shoriki rief den Chefredakteur. Der robuste Chefsamurai des Redaktionssaales trat servil wie ein Eunuch durch die Tür. Shoriki rief die Ressortchefs seiner Unternehmungen in das Zimmer. Sie sammelten sich vor der Tür, marschierten im Gänsemarsch ein und setzten sich, eng aneinandergedrückt wie Schulbuben, auf die Kante des Sofas. Der Chefredakteur baute sich vor dem mumienhaften Präsidenten auf, in der Haltung des Obersamurai vor dem Daimio, der die Anwesenheit der Pagen und Kriegsknechte meldet. Yomiuri ist ein besonders gut entwickelter Fall des japanischen Feudalgeistes in der Zeitungswelt, denn Shoriki kam direkt aus einem der Konzentrationspunkte dieses Geistes in die Journalistik.

IN DEN ANDEREN ZEITUNGEN GIBT es keinen Shoriki, der Feudalgeist zeigt sich deshalb nicht ganz so nackt. Doch er besteht und zeigt sich in subtiler Form: überall die bedingungslose Untertänigkeit, die freudige Fügsamkeit der journalistischen Kettenhunde.

Eine japanische Zeitung stellte mir einmal einen Reporter und einen Photoreporter als Begleiter. Die beiden gingen konsequent drei Schritte hinter mir. Kamen wir in ein Coffee Shop oder kehrten wir zum Essen ein, so setzten sie sich an einen anderen Tisch.

Brauchte ich sie einmal wirklich dringend, so mußte ich sie mit herrschaftlichen Gesten heranwinken.

Besonders die japanischen Journalisten höherer Kategorien scheinen das Hierarchische in der rauhen Schale des Zeitungslebens zu lieben. Übrigens sind die meisten von ihnen „Progressisten“, Linksliberale, Sozialisten oder Salonkommunisten, die rüde alles als reaktionär anrempeln, was ihnen konservativ erscheint und nicht in den Kram paßt.

Ich war mitten in den Streik hineingeplatzt. Meine Zeitung hatte mir einen Auftrag gegeben, der langwierig und etwas langweilig gewesen war. Ich hatte mich ganz hineingekniet, und die Streikpläne meiner japanischen Kollegen waren mir unbekannt geblieben. Mit meinem Manuskript in der Hand wurde ich auf dem Weg zum Zeitungsgebäude von Streikposten abgefangen, zum Streikkomitee gebracht und vorerst mit größtem Mißtrauen behandelt. Das Zeitungswesen macht in Japan natürlich keine Ausnahme und ist ebenfalls tief nationalistisch. Die Journalisten übertreffen ihre Zeitungen noch an Nationalismus, gut verdeckt, denn sie sind doch „Progressisten“ und seit 1945 international aufgeschlossen. Gelingt es einmal einem Ausländer, die Sperre zu durchbrechen, die die Zeitung vor ihm errichtet, so wird er von seinen japanischen Kollegen freundschaftlich abgedrängt.

Als ich also, das Manuskript in der Hand, vor dem Streikkomitee erschien, blickte mir plötzlich Mißtrauen gegen den Fremden entgegen. Es war in einer halben Stunde nicht nur geschwunden, sondern in dicke Freundschaft verwandelt. Das alte Spiel der Gegensätze. Wir diskutierten bis zwei Uhr früh. Nicht über den Streik etwa, sondern über mein Manuskript, über Beobachtungen, Analysen, Thesen, Gewerkschaften, Neutralismus, moderne Malerei und Literatur. Man brachte Sandwiches, Sushi (rohen Fisch auf Reis), Tee, Kaffee. Streikposten, Drucker, Setzer, Reporter, Redakteure, Photographen und die Delegierten der Gewerkschaft diskutierten mit.

UM ZWEI UHR FRÜH WURDE die Diskussion von einem Boten unterbrochen, der das Kompromißangebot der Gegenseite brachte. Dann kam der Chefredakteur selbst. Man empfing ihn mit zeremoniöser Ehrerbietigkeit. Und als er zu Ende gesprochen hatte, sagten sie — nein. Alle sagten nein, fest, klar, ohne Herumgerede. Der Streik ging weiter.

Am nächsten Tag wurde der Streik zum Volksfest. Wieder dieses Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen lampionbunter Heiterkeit und hysterischem Ausbruch, der fast überall dort verläuft, wo Massen zum Fest oder auch zum Protest beisammen sind. Ich fühlte immer, daß gerade diese Stimmung zwischen unkomplizierter Kindlichkeit und Massentrance ein sehr gültiger Ausdruck ist. Die eiserne Form aus Etikette und Stil ist einige Minuten lang verschwunden. Von diesem Punkt kann nun. der Weg in zwei Richtungen führen: zur paradiesischen Leichtlebigkeit oder zu Exzeß und Besessenheit. Doch das sind keine Wege, die ein Volk zu Ende gehen darf, dem im letzten Jahrhundert ein mystischer Patriotismus eingeprägt wurde, der nicht geschwunden, sondern nur verwandelt ist. Diesem freien Leben ohne eiserne Form sind immer nur wenige Stunden bemessen, dann senkt sich eben wieder der eiserne Mantel, an dem Jahrhunderte gearbeitet haben, und schließt luftdicht ab.

AM NACHMITTAG WURDE DANN bekannt, daß eine allgemeine Regelung zwischen der Betriebsgewerkschaft und dem Zeitungsverband getroffen worden war. Es galt nun, diese Regelung dem Betrieb anzupassen. Noch auf der Straße wurde eine Delegation zusammengestellt, aus Gewerkschaftsfunktionären, aber auch aus Streikposten und Kaffeeträgern. Es wurde nicht lange ausgesucht, wer teilnehmen sollte.

Ich ging mit der Gruppe in das Druckereigebäude und stellte mich mit den Delegierten vor dem Direktionszimmer auf. In einer Reihe standen wir, wie Schulbuben, die vor den Rektor geführt werden. Dann kam ein Beamter. Tiefe Verbeugung des Beamten vor den Delegierten, der Delegierten vor dem Beamten. Der Beamte trat an die Spitze der Reihe, und im Gänsemarsch marschierten wir in das Zimmer, stellten uns dort Schulter an Schulter auf, eng beisammen, um nicht zuviel Platz einzunehmen, und verbeugten uns tief vor dem Präsidenten und dem Chefredakteur, die steif, kalt und abweisend in einer entfernten Ecke des riesigen Zimmers standen. Sie sprachen mitsammen und schienen uns nicht zu bemerken. Wir verharrten eine Zeitlang in demütiger Stellung, bis zuerst der Chefredakteur und dann der Präsident von uns Notiz nahmen. Der Präsident schien schon wieder vergessen zu haben, weshalb wir gekommen waren. Der Chefredakteur entwarf die Linie, auf der die zukünftige Zusammenarbeit festgesetzt werden sollte. Die Delegierten verbeugten sich, tiefer als vorher, der blasse Drucker mit der lockeren Hand wagte gar nicht, dem Chefredakteur ins Gesicht zu sehen, sondern hielt den Kopf gesenkt. Es ergaben sich, zum Unterschied vom vergangenen Tag, weder Widersprüche noch Kommentare; der Streik war beendet, die Menschen auf der Straße nahmen die roten Bänder von den Stirnen und rollten ihre Fahnen ein. Der Streik war vorbei. Nicht nur in jener Zeitung, der ich nun endlich, verspätet und nach Hindernissen, meinen Artikel geben konnte, in allen Zeitungen war gestreikt worden. In allen Zeitungen war der Streik beendet. Es war überall ein Betriebsfest ohne Direktion gewesen.

NICHT IN NIIGATA. Dort hatten sie, Drucker, Reporter, Redakteure, das Gebäude gestürmt und eine der modernsten Rotationspressen Japans zerstört. Nachdem das Abkommen zwischen Gewerkschaft und Unternehmerverband zustande gekommen war, sandten auch die Streikenden von Niigata ihre Delegierten in das Direktionsgebäude: Gänsemarsch, Verbeugungen und Entschuldigungen, dann wieder Abzug im Gänsemarsch. Der Maschinensturm war vorbei, die Arbeit begann.

Bei diesem Streik war es um viel gegangen, in erster Linie um Prämien. Die Herausgeber der großen Blätter beherrschen nicht nur die Zeitungen, sondern eine ganze Kette von Elementen der Meinungsbildung. Shoriki steht nicht allein da. Auch Mainichi, Asahi und der jüngste und aufgeschlossenste Sproß dieser Kette, Sankei, haben ganze Systeme der Meinungsbildung entwickelt und monopolisieren das Zeitungswesen ebenso wie Radio und Fernsehen. Neben ihnen kann sich nur die staatliche Radioanstalt NHK behaupten.

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