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Vier Stunden und fünfzehn Minuten

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Vor vier Stunden waren die Truppen der Revolution in die Hauptstadt des Landes eingerückt. Kein Schuß war gefallen. Aus allen Häusern waren Bürger und Beamte, Angestellte und Arbeitgebende herausgetreten und hatten die im Fackelschein über den schweigsam Marschierenden sich leise bewegenden riesige Fahnen der Revolutionäre gegrüßt.

Gestern noch hatte man ehrerbietig vor einem anderen Zeichen gestanden. — Im Regierungsgebäude waren die Senatoren versammelt gewesen. Ohne sie zu beachten, hatte der Chef kurz darauf schnellen Schrittes den schweren Kraftwagen verlassen, auf dessen Trittbrettern zwei baumlange Bewaffnete bei der Anfahrt Mühe hatten, zu begeisterte Kundgebungen der Umherstehenden abzuweisen.

Seit vier Stunden und fünf Minuten hatten Land und Stadt einen neuen Chef. — Niemand in der Stadt wußte, was jetzt geschehen würde. Keine Verlautbarung war herausgekommen. Zeitungsredaktionen und Radiostationen war von einer wortkargen Patrouille nur mitgeteilt worden, sie hätten den Betrieb vorübergehend einzustellen. Weitere Anordnungen würden folgen. Langsam erst lief die neue Regierungsmaschinerie an.

Kurz darnach war dem Großteil der bewaffneten Verbände, unter der Voraussetzung, daß stets fünf der Ihren beisammen blieben, erlaubt worden, sich in der Stadt zu zerstreuen. Die öffentlichen Gebäude wurden von Posten gesichert. Obwohl, wie immer bei solchen Gelegenheiten, besonders „gut Informierte“ einige zusätzliche Gerüchte anfügten, kannte im Grunde kein Stadtansässiger mehr als diese Tatsachen.

Vor allem wußte niemand, was aus den maßgeblichen Persönlichkeiten des gestürzten Systems geworden war. Manche wollten wissen, daß alle rechtzeitig die Stadt verlassen hatten. Hinter der Fröhlichkeit lugte allerorten gebärdelose, wenn auch hoffnungsvolle Unsicherheit hervor. Es hatte sich etwas entschieden. — Aber vier Stunden und fünf Minuten wartete man schon, das Wesen, der Verwandlung zu erkennen.

Am Marktplatz befand sich eine Taverne, die seit undenklichen Zeiten den Namen eines der alten Könige aus sagenhafter Vorzeit trug. Der Hauptraum war drängend voll. Revolutionäre Soldaten, Mädchen aus dem Hafenviertel und eine ansehnliche Anzahl von aus Anlaß des außergewöhnlichen Tages sich verwegen und frei fühlenden jungen Kaufleuten überboten sich an Verbrüderungsbeweisen. Wie leicht kann man sich doch, so schien es, vom Vergangenen in das Heute reden, küssen und singen.

Ein behäbiger Wirt überwachte unbeweglichen Gesichts das Getriebe. Hin und wieder warf er einen etwas unruhigen Blick auf eine Tür im Hintergrund. Auf der Tür stand mit Kreide geschrieben: „Kein Eintritt! Abwicklungsstelle!“ — Die wenigen feuchtfrohen Gäste, die im Lauf des Abends irgendwann einmal aus Übermut oder Langeweile sich der Tür näherten, hatten kein einziges Mal auf eine Bestätigung des Verbots durch den Wirt gewartet. Die Möglichkeit, daß dort ein Konzilium der neuęn Machthaber tagen könnte, hielt jeden in respektvoller Entfernung. , it -’b ‘VH IM i i ,

Vier Stunden und zehn Minuten nach der Übernahme der Stadt durch die Rebellen brannte in dem langgestreckten Zimmer nur eine kleine Lampe, so daß der Raum, der vermutlich bisher stets nur zu Familienfeiern und noch nie für eine geheimnisvolle „Abwicklung“ benutzt worden war, im Halbdunkel lag. Der Mann, der vor geraumer Zeit am Eingang ein Stück Kreide von der die Preise der Getränke angebenden Tafel genommen und in einem plötzlichen Impuls das Wort als Kennzeichnung seiner Absichten im Hinterzimmer an die Holzeinlage geschmiert hatte, war allein. Kein anderer Tisch war besetzt als der, der die Lampe und eine halbgefüllte Weinflasche trug.

Der Mann trug eine Uniform. Die Uniform der Leibgarde des Chefs von gestern. Er hatte den Kragen des enganliegenden Uniformrocks gelöst und war dabei, die Mütze aufzunehmen, die neben einem Revolver auf dem Tisch lag. Langsam entfernte er vom oberen Mützenteil ein Abzeichen, das Symbol der gestürzten Herrschaft. Er blickte es einen Moment lang an, zerbrach es und legte die Teile auf einen Briefbogen, der, mit einigen Weinflecken versehen, auf dem Tisch lag. Auf dem Blatt standen zwei Zeilen: „Abwicklung! - Abwicklung? - Abwicklung… Vor hundert Jahren hätte man es Beichte und Absolution genannt. Die Partei…“

Hier brach die Schrift ab. Mit festen Strichen war daneben das Zeichen der revolutionären Bewegung roh angedeutet auf das Papier geworfen. — Er schob es beiseite, suchte in der Tasche nach einer Münze und ging zu dem an der Wand befestigten Telephon. Ohne nachzudenken, wählte er eine Nummer. Die Geheimnummer des Chefs. Er hatte sie für fast ein Jahrzehnt, zu benutzen gehabt. Nur, daß heute ein anderer antworten würde. Er bekam die Verbindung und nannte — fragend — einen Vornamen.

Der Partner mußte geantwortet haben, denn er fügte den eigenen Namen an und sagte: „Es ist also soweit? Und nun? — „Ja, es ist soweit“, kommt ein Echo. „Die Sache hat gesiegt… ? Ein knappes „Ja“ folgt. - „Ein neuer Auftrag für mich?" Ein noch kürzeres „Nein“ ist die Antwort. Dann fährt die Stimme am anderen Ende des Drahtes fort: „Das Komitee hat beschlossen, eine allgemeine Amnestie für alle Anhänger der vorigen Regierung zu gewähren. Wir haben nur fünf Haftbefehle erlassen beziehungsweise Befehle, die Betreffenden tot oder lebendig zu überliefern. - Ich hoffe - tot. Den Chef, den Polizeiminister, zwei Spitzel in unserer Organisation — und dich.“ — „Ich verstehe. — Mit welcher Begründung? — Das interessiert mich doch ein wenig — gegen mich?“

Die unpersönliche Stimme in dem schalldicht abgeschlossenen Zimmer des Regierungschefs - des gestrigen und des heutigen und wahrscheinlich auch des morgigen — antwortet mit tödlicher Geduld: „Du bis als Kommandant der Leibgarde ein Symbol des Terrors gegen die Revolution geworden. Mehr als fünfzig Hinrichtungen werden dir zur Last gelegt.“

Die Stimme im Hinterzimmer der alten Taverne wird etwas heiser: „Du weißt, daß mehr als die doppelte Zahl unserer wichtigsten Leute meinen Kontakten ihr Entkommen verdankt. Meine Möglichkeiten blieben begrenzt, wollte ich nicht den Auftrag und meine fast zehnjährige Arbeit aufs Spiel setzen!“ — Die Antwort ist ein ebenso leises „Ich weiß …" „Und doch?“ fährt der eine fort. „Und doch!“ antwortet sein Gesprächspartner, ohne die Stimme auch nur um einen Ton zu verändern.

„Weiß das Komitee, daß die kampflose Übergabe der Leibgarde, die fehlerhafte Maßnahme, die zur Einkesselung der gegnerischen Truppen gestern führte, der fehlende Widerstand heute, daß dies alles und einiges andere mir zu verdanken ist?“ „Das Komitee weiß es’, ist die Antwort. Unbewegt, ruhig, leidenschaftslos.

„Weiß es die Partei?“ — Zum ersten Male klingt die Stimme des „Abwicklung“ Verlangenden scharf und metallisch. „Nein! — Die Partei weiß es nicht — und, um dir die weitere Frage zu ersparen — sie wird es nie erfahren!“

Die Stimme des Chefs bleibt ruhig. „Ich verstehe!" — Nur noch wie ein Wispern klingt es, als der andere wiederholt: „Ich verstehe!“

Für ein paar Herzschläge hörte man nur das leise singende Geräusch des Telephonapparates. „Sag mir nur noch eins“, der Mann im Halbdunkel des Hinterzimmers fügt, während von der Straße her gerade ein donnerndes Vivat für den neuen Regierungschef in die letzten Ecken des Wirtshauses hineinschallt, mit einem Anklang von Zärtlichkeit noch einmal den Vornamen des Angeredeten an: „Erinnerst du dich eigentlich noch, daß ich es war, der dich als blutjungen Burschen zur Partei brachte und dir einige Male“ — er zögerte in der Wortwahl — „später helfen konnte, einen Weg in der Bewegung zu finden?“ — „Nicht nur das. Ich vergaß auch nicht, daß du mir einmal das Leben gerettet hast!“ kommt cs zurück.

Der Uniformierte schweigt. Endlos, wie es ihm erscheint. Dann fähit er langsam, seltsam artikuliert, fort: „Und dennoch?“ „Und dennoch!“ Die Frage wird zur Antwort. Der Antwortende fährt fort: „Es geht um die Sache. Die Idee, die Partei. Nicht um dich oder mich. Fahnen sind mehr als Menschen. Alle Fahnen, nicht nur unsere. Wer das nicht begreift, versteht nicht, worum es geht. Menschen sind Bausteine, nichts weiter.“

Nach einem kurzen, fast unmerkbaren Zögern tropft es eintönig weiter: „Es wäre eine Belastung — für die Fahne, für die Sache —, würden wir dich plötzlich als einen der unseren anerkennen. Du hast den Punkt erreicht, wo du aufhörst, der Partei nützlich zu sein. Heute muß dafür gesorgt werden, daß du ihr nicht gefährlich werden kannst.“ „Das ist ein Todesurteil?“

Das antwortende „Ja" zittert ein wenig, bevor die Schlußsätze ihm folgen.

„Wir wissen, wo du bist, seit mehr als vier Stunden. Du wirst die Taverne nicht lebend verlassen. Lebe wohl. Parteibeschluß."

Ein Klicken im Apparat beendet abrupt das Gespräch. Langsam, sehr langsam, ließ der Mann im Hinterzimmer der Taverne, die den Namen des alten Königs trug, den Hörer auf die Gabel sinken. Seine Augen starrten, ohne zu sehen. Hatte er nicht vor langer Zeit — endlos lang erschien es ihm plötzlich, Jahrhunderte überwölbend — stets von diesem Tag geträumt? Dem Tag, an dem die Fahne der Revolution über der Hauptstadt wehen würde? Hatte er nicht alles getan, diesen Tag herbeizuführen?

Sein Blick fiel auf die Armbanduhr. Vor fast genau vier Stunden und fünfzehn Minuten hatte die Idee, der sein Leben galt, gesiegt. Mit merkwürdig unbeschwerten Scfrritten ging er zum Tisch zurück, nahm das Weinglas, trank, schaute auf den Revolver, lächelte leise und steckte ihn ein. Dann schloß er die obersten Knöpfe des Uniformrocks.

Das also war das Ende. Eines Lebens. Und einer Idee? — Er versuchte, die Gedanken zu konzentrieren. Nein, das war falsch. Die Idee war richtig gewesen. Freiheit und Gerechtigkeit, das waren die Ziele gewesen, für die man gekämpft hatte — auch der Mann dort, der ihn soeben telephonisch zum Tode verurteilt hatte, fiel ihm ein, hatte viel, sehr viel für die Freiheit und die Gerechtigkeit gelitten —: aber irgendwo war ein Fehler verborgen, ein schrecklicher Fehler.

Unwillkürlich faßte er an den ihn würgenden Kragen: irgendwie war etwas verlorengegangen, war etwas anders geworden. Die Fahne hatte gesiegt, ja, die Fahne .. , Und die Idee, die Idee? — Freiheit und Gerechtigkeit waren unerreichbar weit weg gerückt, dahin, wo Ideologien gehörten. Eins hatte man vergessen: den Menschen — den Menschen im Gegner und im Freund —; nur noch Fahnen sah man — und hatte auf dem Weg dazu ihn vergessen. Die Sache hatte den Menschen getötet…

Plötzlich drang ein greller Lichtschein ins Zimmer. Im Türeingang standen drei Männer in Lederjacken. Drei Schüsse fielen. Ein Mensch sackte zusammen.

Vier Stunden und fünfzehn Minuten hatte er den Sieg seiner Sache überlebt. Ob er im letzten Atemzug begriff, daß unter diesen Schüssen auch die Idee starb?

Niemand weiß es.

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