Rückzug von der Streikfront

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Statt mit Streiks den Unmut der Bevölkerung auf sich zu ziehen, setzt die Gewerkschaft auf kreativen Aktionismus.

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Statt mit Streiks den Unmut der Bevölkerung auf sich zu ziehen, setzt die Gewerkschaft auf kreativen Aktionismus.

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Überall nur Perestroika und Glasnost, lobt Michail Gorbatschow die Österreichischen Bundesbahnen, wenn er im Werbefernsehen mit dem Zug durch das Land rollt. Die Wahl des Werbeträgers ist geglückt. Keiner könnte das Aufbrechen veralteter Strukturen besser bewerben als der letzte Sowjetpräsident. Allein warum wird im TV-Spot nur Perestroika (Umbau) und nicht Glasnost übersetzt? Haben die Eisenbahner Angst vor der eigenen Werbelinie bekommen?

Glasnost heißt Transparenz und Öffentlichkeit. Aber gerade von der Öffentlichkeit wurden die Streikdrohungen der Eisenbahner mehrheitlich abgelehnt. Da half es wenig, dass der oberste Eisenbahnergewerkschafter Wilhelm Haberzettl die traditionelle arbeitsrechtliche Vorreiterrolle seiner Organisation beschwor und die Streikdrohung als allgemeines Vorgehen gegen die "soziale Kälte der Regierung" und nicht als Kampf um die eigenen Pensionsrechte verstanden wissen wollte.

Streik ist out. Nicht nur in der Bevölkerung, die für die Störaktionen dieser sozial immer noch als bevorzugt geltenden Gruppen wenig bis gar kein Verständnis zeigt. Auch die Gewerkschaften haben gern das Hölzchen genommen, das ihnen die Regierung als Angebot zur Deeskalation geworfen hat. Die Eisenbahner akzeptieren die Erhöhung des Pensionsalters, wenn dafür ihr vor zwei Jahren ausverhandelter höherer Pensionsbeitrag gesenkt wird. Die Postler-, Bau- und Holzarbeitergewerkschafter erwarten sich eine soziale Abfederung der Sparmaßnahmen, und die Personalvertreter des öffentlichen Dienstes verlangen zumindest eine Verschiebung der Pensionsreform von Oktober auf Jänner nächsten Jahres. Dann ist der Streik aufgeschoben, stattdessen "aggressives Abwarten" angesagt. Und kreativer Aktionismus. Kabarettistisch inszenierte Aktionen haben dem antiquiert, verstaubt und bedrohlich wirkenden Streik den ersten Rang als arbeitsrechtliche Kampfmaßnahme abgelaufen. In der Medienwelt erreichen flotte und - wenn geht - witzige Bilder auf jeden Fall mehr, als stillstehende Züge und geschlossene Post- und Gemeindeämter.

Der Rückzug vom Streik kommt aber auch der Regierung nicht ungelegen. Härte zeigen und vor den ersten Widerständen gegen die eigenen Reformvorhaben nicht in die Knie gehen, wird honoriert, solange dabei nicht Sturheit und Kompromisslosigkeit als oberste Maxime zu Tage treten. Noch dazu wo der Bundeskanzler Dialog, Partnerschaft und Gleichberechtigung von den EU-14 fordert. Was machte das für ein Bild, wenn diese Prinzipien zu Hause im eigenen Amtsverständnis keine oder nur eine kleine Rolle spielten?

Rot sehen beim Verbleib aller Interessenvertreter am grünen Tisch nur die Verfechter der Konfliktgesellschaft, die nicht müde werden, die Neigung der Österreicher zum Ausgleich an den Pranger zu stellen. Die gesellschaftliche und politische Suche nach Konsens, die das Land zu Wachstum und Wohlstand geführt hat, scheint im Bewusstsein vieler madig geworden zu sein, und in ungeduldiger und zorniger Rede wird der Konsenswille für die Verkrustungen und Verfettungen im sozialen und politischen System verantwortlich gemacht.

Es tut weh, wenn Nationalratspräsident Heinz Fischer erste Schritte hin zur Konfliktdemokratie diagnostiziert, ohne darin ein Unglück zu sehen. Noch mehr schmerzt es, wenn Kardinal Christoph Schönborn bei seiner Ansprache anlässlich des traditionellen Medienempfangs den angeblichen Wechsel von der Konsens- hin zur Konfliktdemokratie unwidersprochen zur Kenntnis nimmt und als einzige Gegenmaßnahme die Kirche als "Plattform des offenen Gesprächs" anbietet. Zwei Persönlichkeiten, deren eigenes Wirken als ausgleichend und harmonisierend gilt, und die dafür schon Häme und Spott einstecken mussten, stimmen zwar nicht in den Chor jener ein, die den Konflikt als Vater alles Fortschritts preisen, sie nehmen aber eine Entwicklung in diese Richtung fast fatalistisch anmutend in Kauf.

Zugegeben, unter dem Deckmantel des vielbeschworenen "sozialen Friedens" wurde die Vernebelung sozioökonomischer Notwendigkeiten und die Zementierung aufwendiger Gewohnheiten eifrig praktiziert. Kurzsichtigkeit, Scheu, vor allem jedoch Feigheit vor dem Aussprechen bitterer Wahrheiten haben lange Zeit dazu geführt, das Übertriebene vor dem Möglichen, das Überflüssige vor dem Bezahlbaren zu forcieren.

Trotz berechtigter Vorwürfe: Es bleibt falsch, den Konsens in Bausch und Bogen zu verwerfen und den Konflikt als Radikalkur auf den Schild zu heben. Machtmissbrauch und Gruppenegoismus gehen mit der verheißenen Konfliktdemokratie einher. Ganz zu schweigen von den Gefahren für die politische Stabilität des Landes. Bleibt die herbeigesehnte Konfliktkultur von selber in genau definierten Grenzen? Was ist, wenn aus dem kleinen, putzigen Konflikt im Parlament ein großer auf der Straße wird? Außerdem, wer sagt, dass sich Ansprüche und Erwartungen, "wohlerworbene Rechte" nicht senken lassen, ohne bewährte Spielregeln aufzugeben?

"Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne Kritik Demokratie geben kann. Damit fängt sie an", sagte Michail Gorbatschow zu einer Zeit, als er noch in den Politiknachrichten und nicht im Werbefernsehen zu Wort kam. Kritik ist die angemessene demokratische Antwort auf Missstände und Ungerechtigkeiten. Kritik - und nicht Konflikt. Denn die Methoden kollektiver Problemlösungen sind nicht überholt. Im Gegenteil: In die traditionelle Partnerschaft zwischen Politik, Unternehmen und Gewerkschaften gehören auch die neuen Berufsbilder, bislang unbekannte Mischformen zwischen Arbeitgebern und -nehmern, integriert. Nur so kann der rapide Wandel bewältigt werden. Der Anfang scheint gemacht. Konsens gilt immer noch mehr als Konflikt. Dabei soll es bleiben.

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