Politisches Reality-TV vom Feinsten

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Defizit- und Schuldenabbau sind absolut geboten und sinnvoll. Bis hierher kann man Finanzminister Grasser folgen. Aber keinen Schritt weiter. Denn mit dieser Art von Budgetsanierung werden bedenkenlos die Grenzen von Gerechtigkeit, Zumutbarkeit, Anstand und Fairness überschritten, kritisiert Klaus Firlei, Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Präsident der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg.

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Defizit- und Schuldenabbau sind absolut geboten und sinnvoll. Bis hierher kann man Finanzminister Grasser folgen. Aber keinen Schritt weiter. Denn mit dieser Art von Budgetsanierung werden bedenkenlos die Grenzen von Gerechtigkeit, Zumutbarkeit, Anstand und Fairness überschritten, kritisiert Klaus Firlei, Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Präsident der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg.

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Die österreichischen Bürger legen derzeit ein Ausmaß an Duldsamkeit gegenüber der Regierung an den Tag, das sonst eher den Lämmern nachgesagt wird. Vielleicht liegt es daran, dass viele auf die Realisierung eines attraktiven Traumes hoffen: Augen zu, Zähne zusammenbeißen und durchtauchen, damit endlich die unersättliche Gier des Staates nach den Einkommen seiner Bürger ein Ende findet. Nach der legendären Durststrecke wird der verfettete und schlaffe Körper der Österreich AG in einen strahlenden, olympisch schlanken Staatsathleten umgestylt, der im Wettbewerb der Turbostaaten ganz vorne mithalten kann. Auf diesen einfachen Video-Clip lässt sich auch die Message des Finanzministers in seiner Budgetrede reduzieren ...

Aber kehren wir zur Realität zurück: Über das herbstliche Österreich hat sich wie ein bleierner Nebel die neoliberale Wahnidee gelegt, die Gesellschaft müsse nach dem (sehr schlichten) Muster ausgerichtet werden: Schulden runter, Defizit abbauen, Staat verschlanken, Leistungsdruck erhöhen, Risiken privatisieren. Für jeden etwas: den Langsamen die Peitsche, den Leistungsunwilligen das Ende der sozialen Hängematte, der neuen Rasse der flexiblen, flinken Wettbewerbs-Humanoiden alles Geld der Welt.

In so einem Klima erstirbt jede Diskussion über Alternativen. Es geht nur noch darum, wer zur Zielscheibe wird und wem die Gnade einer relativen Schonung zuteil wird (ganz armen Studenten, ganz kleinen Beamten, kinderreichen Nichtarbeitslosen). Nur zur Klarstellung: Defizit- und Schuldenabbau sind selbstverständlich geboten und sinnvoll. Bis zu diesem Punkt kann man der Regierung folgen. Aber leider keinen Schritt weiter.

Die Regierung will den schnellen Erfolg. Ihr erklärtes Motto ist Speed (das ist, so nebenbei, auch ein ziemlich mieses Rauschgift). Und sie will den Erfolg in ganz einfachen Zahlen dokumentieren, schwarz auf weiß. Schnelligkeit und harte Zahlen, das drückt Power aus. Das ist politisches Reality-TV vom Feinsten.

Was im Interesse Österreichs zu tun wäre, ist aber weder eine Frage von "Speed" noch eine Frage von Geldtransaktionen. Was zu tun wäre ist verdammt kompliziert und mühsam. Es befriedigt weder die Volkslust nach einer Demütigung angeblicher Schmarotzer, noch kann mit einer Generalsanierung des Landes schnelles Geld in die Staatsscheune hereingekarrt werden.

Der Kern unserer Misere hat nichts mit den Staatsfinanzen zu tun. Wir haben tiefsitzende Strukturprobleme. Wer dort nicht ansetzt, kann die Finanzmisere, die nur ein Symptom ist, nie in den Griff bekommen. Die Staatsfinanzen werden zum Dauersanierungsfall. Der Bürger rotiert immer schneller im Hamsterrad der Sparzwänge.

Mit dem Eintreiben der stolzen Summe von 100 Milliarden wird die Bilanz für zwei, drei Jahre auffrisiert. Die wahre Lage der Staatsfinanzen hängt aber heute mehr denn je von der Fähigkeit der Gesellschaft ab, Produktivität, Innovation und Effizienz zu entwickeln. Das ist eine unangenehme, eiskalte Botschaft für die Regierung: Mit Wegnehmen und Ausquetschen, mit Geldverschiebungen, Zahlenmystik und Rechenstiftoperationen kann keines der Strukturprobleme Österreichs gelöst werden: die ineffiziente Organisation und die maroden, verfetteten und kostentreibenden Strukturen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, die nicht entschärften Zeit- und Kostenbomben, zum Beispiel die Pensionsbombe, Gesundheitsbombe, Überalterungsbombe, Forschungsdefizitbombe oder die aufreizende Tatenlosigkeit gegenüber den extremen Herausforderungen der turbulenten Wirtschaftslandschaft des 21. Jahrhunderts, die mangelnde Bereitschaft zur gesellschaftlichen und politischen Innovation.

Gerade wegen seiner behäbigen und fettreichen Masse verfügt Österreich über enorme Effizienz- und Sanierungsreserven. Deren Mobilisierung geht nicht den Weg der Holzkeule, sondern sie erreicht ihr Ziel intelligent, human und elegant. Reserven liegen zum Beispiel im miserablen Umgang mit der Gesundheit, in der Hinnahme von Kostenverursachern in der Arbeitswelt wie Mobbing und krankmachendem Arbeitsumfeld, im fürchterlichen Verkehrsverhalten, in schlecht ausgebildeten Managern und veralteten Führungskonzepten, im gering entwickelten zivilgesellschaftlichen Engagement, in unnötigen Doppel- und Dreifachparallelstrukturen allerorts, in mangelnder Prävention im Gesundheitsbereich, in unnötigen Wartezeiten und tausend ähnlichen Geldvernichtern.

Eine Verhöhnung ...

Umgekehrt wären die wirklichen Kostendämpfer ein zivilisiertes Verkehrsverhalten, Leistungsanreize im öffentlichen Dienst, Förderungen von Tätigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, besseren Nutzung öffentlicher Gebäude, Stromsparen, wirksamere Raumordnung, einfacheres Baurecht, Psychotherapie statt teurer Herz- und Magenoperationen, Zuwanderung plus Ausländerintegration, absolute Priorität für Bildung und Wissen. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Das Sparpotential solcher und ähnlicher Maßnahmen liegt weit über allen Sparpaketen.

Angesichts dieser beeindruckend großen Effizienz- und Sparpotentiale ist es fast bizarr, dass die Erfinder des neuen Policy-Cocktails aus Neoliberalismus und Linkspopulismus nicht begreifen, dass gerade dort, wo sie mit der Schrotflinte hinzielen (der Begriff "Treffsicherheit" kann nur als Verhöhnung aufgefasst werden), auf die Geldtaschen, die Reserven erschöpft sind. Selbst die übereifrigen Spürnasen in der Treffsicherheits-Kommission haben im Sozialbereich ganze fünf Milliarden - von etwa 800 Milliarden Sozialbudget - ausgespäht. Bei der Mittelschicht bewegt sich die Abgabenbelastung an der Grenze zu einem berechtigten Wutausbruch. Ganz unten besteht Handlungsbedarf zur Armutsverhinderung, und ganz oben ist vom Volumen her nicht viel zu holen. Selbst zaghafte Versuche in diese Richtung werden mit Kapitalflucht und Steuervermeidung bestraft.

Die Bilanz dieser Art von Budgetsanierung ist beklagenswert, unerträglich und ethisch bedenklich. Es handelt sich um eine Politik der verbrannten Erde. Konzeptlos, unkoordiniert und bar jeder sachlichen Rechtfertigung wird hineingeschnitten, wo politisch machtlose oder mit geringen Sympathiewerten versehene Gruppen vermutet werden. Die Grenzen von Zumutbarkeit, Gerechtigkeit, Fairness und Anstand werden bedenkenlos überschritten. Mittelschichtfamilien mit Kindern werden mehrfach ausgesackelt, Milliardären wird eine geradezu fürsorgliche Schonung zuteil, und dort, wo jeder fehlende Schilling wehtut, greift man schamlos auf Geldbeträge zu, die der Existenzsicherung dienen sollten.

Opfer lassen sich wie folgt legitimieren: durch strikte Sachlichkeit, durch relative Gerechtigkeit und durch die integrierende Kraft einer als sinnvoll empfundenen Zukunftsvision. Diesem Sparpaket mangelt es an allem.

Neben dem Gerechtigkeitsdefizit ist das Sachlichkeitsdefizit sein folgenschwerster Konstruktionsfehler. Mit punktuellen Maßnahmen (anstelle einer "ehrlichen" allgemeinen Steuererhöhung) Geld zu beschaffen heißt nämlich, hundertfach in hochgradig komplexe gesellschaftliche Normengefüge und Funktionssysteme einzugreifen. Auf der Strecke bleiben konkrete Regelungszwecke, Funktionen, Wirkungszusammenhänge und Ziele.

Jede dieser Maßnahmen reißt einen Mosaikstein aus einem komplizierten Wirkungsgeflecht heraus. Die Folgen sind in den seltensten Fällen bedacht, ja oft nicht einmal bekannt. Es bestätigt sich die Binsenweisheit, dass die Logik des Rotstiftes mit der Lösung von Sachproblemen inkompatibel ist. Beispiele lassen sich zu Dutzenden anführen: Ambulanzgebühren ohne Aufwertung des niedergelassenen Sektors, Erhöhung von Rezeptgebühren ohne Verhinderung unnötigen Medikamentenkonsums, Studiensteuern ohne Bildungskonzept, radikale Schnitte in den Länderbudgets zu Lasten der "Ermessensausgaben", womit man den Sozial- und Kulturbereich ins Herz trifft, Kürzungsvorgaben an die Krankenversicherung zu Lasten von Sozialleistungen für Schwerstkranke, Einschnitte bei Arbeitslosen ohne flankierende Maßnahmen in der Arbeitsmarktförderung, usw. usw.

Ist die Lage hoffnungslos? Von den etablierten politischen und gesellschaftlichen Kräften ist nichts zu erwarten. Die von der Koalitionsregierung perfektionierte Inszenierungskultur (Tempo, Entschlossenheit, Selbstbewusstsein) kann nicht kaschieren, dass die Handlungsfähigkeit für eine Politik struktureller Reformen nicht vorhanden ist. Die FPÖ kann ihre Wählerschaft kaum anders als mit aggressivem Populismus an der Stange halten. Die Wirtschaft erwartet sich Impulse in eine ganz andere Richtung, nämlich einen kräftigen Thatcherismus-Schub für Österreich. Die anti-europäischen Ressentiments der FPÖ schwelen weiter - ein Funke genügt, und Haider bringt die Europäischen Staatskanzleien wieder zum Glühen.

Über allem hängt - wegen der unterlassenen Reformen - das Damoklesschwert des nächsten Sanierungspakets. Wenn sich dieses konkret abzeichnet, wird die FPÖ wohl freiwillig von Bord gehen. Ach ja, und die Sozialdemokratie pendelt zwischen Schock, Regression und Ratlosigkeit. Ihr Zustand lässt sich weder durch vordergründige Hau-Ruck-Parolen noch durch personelle Änderungen überwinden, denn der postmoderne, den Staat frontal angreifende Hyperkapitalismus hat die Grundlagen ihres alten politischen Erfolgsrezepts ersatzlos liquidiert. Überdies hat die Bevölkerung ihre Beteiligung an ähnlich lausigen Sparpaketen sicher nicht vergessen.

Wut und Depression Eine Spurensuche nach Hoffnungen kann daher nur aus der politischen Karstlandschaft heraus führen, in andere Kontinente der Gesellschaft. Aber blicken wir hier nicht ebenfalls in eine trostlose Leere? Finden wir in der Bevölkerung nicht ein Gemisch aus Gleichgültigkeit, Leidensfähigkeit, Selbstironie, Autoaggression, Wut und Desorientierung vor? Das kann nicht der Stoff sein, aus dem eine Alternative entsteht.

Und doch: Es gibt viele Hinweise darauf, dass beachtliche Teile der Bevölkerung das bisherige Grundmuster der Politik insgesamt (und nicht nur einzelne Parteien) abgeschrieben haben. Um sich greift eine zugeknöpft-leidenschaftslose Distanziertheit gegenüber dem dominierenden Politikschema, eine fast ironische Ablehnung der alten politischen Staatsoper, die mit ihren Machtspielen und Phrasen, ihrer Unsachlichkeit, ihrer ermüdenden Aneinanderreihung von Versprechungen und Omnipotenzgebärden, dem Gezänk und der Unsensibilität gegenüber dem, was wirklich zählt, den Lebensverhältnissen und Sinnwelten der Menschen, als ein verfallendes Gebäude angesehen wird, in dem untote Wesen skurrilen Drehbüchern folgen.

Gleichzeitig schlummern in der Gesellschaft gewaltige Potentiale an Kreativität, Intelligenz und Zukunftsbejahung. Es gibt einen unprätentiösen Alltagshumanismus, der sich in der jeweiligen Situation ohne viel Lärm zu machen bewährt. "Da unten" herrschen andere Gesetze, andere Denkweisen, andere Erwartungen als in der Politik - am deutlichsten bei einem ganz beträchtlichen Teil der jungen Menschen. Das ist sicher keine Mehrheit, aber gesellschaftliche und politische Erneuerungsprozesse verlaufen nicht linear, sie entwickeln sich über Sprünge, Brüche, Allianzen, Denk- und Gefühlsinhalte, und können schnell zu einer wirksamen Bewegung expandieren.

Bei großen Teilen der Jugend finden wir eine Lebens-, Denk-, Wertewelt vor, die durch Emotionalität, Lebensweltorientierung, Leistungsgerechtigkeit, Echtheit, Individualität, einen integralen Wunsch nach einem guten Leben, das allen zugestanden wird, geprägt ist. Wir finden auch eine große Zahl an Intellektuellen, Künstlern, Wirtschaftstreibenden, Beamten und Freiberuflern vor, die im Szenario einer neuen Politisierung die kritische Masse bilden könnten.

Ausweglose Situation?

Was sich damit schemenhaft als Alternative abzeichnet, hat mit Politik im bisherigen Sinne nicht viel gemeinsam. Es handelt sich eher um ein bewegliches Geflecht öffentlichen Engagements, in dem die Grenzen zwischen Privat und Staat, zwischen Selbstverwirklichung und Solidarität, zwischen Lust und Pflicht, zwischen Zivilgesellschaft, Markt und öffentlichen Strukturen verschwimmen. Die Demonstrationen der Studierenden repräsentieren diese neue Mischung wahrscheinlich am augenfälligsten.

In der beklemmenden aktuellen Situation politischer Ausweglosigkeit wird schmerzlich bewusst, dass Österreich offenbar dazu verurteilt ist, den übernächsten Schritt vor dem nächsten zu setzen - eine ob der Schwierigkeit der Aufgabe bittere Erkenntnis, die aber auch vom befreienden Gefühl des Aufwachens aus einem Alptraum begleitet ist: dieser übernächste Schritt wäre die Ersetzung des Staatsmodells des 19. und 20. Jahrhunderts durch ein Modell der Bewältigung öffentlicher Angelegenheiten über eine von den Menschen ganz unmittelbar geprägte Netzwerk-Demokratie, mit breit gefächerten Institutionen, einer neuen politischen Kultur der radikalen Sachlichkeit, einer Professionalisierung des Entscheidens, einer radikalen Konzentration auf Lebenswelten und sinnvolle Lebensentwürfe.

Diese Hoffnungsfelder sind zunächst nur als eine amorphe, unstrukturierte, unorganisierte, und daher auch ohn-mächtige und zu gezieltem politischen Handeln nicht fähige Ansammlung von politischen Rohstoffen beschreibbar. Um politisch wirksam zu werden, um z.B. eine budgetpolitische Alternative zum herrschenden Sanierungs-, Spar- und Deregulierungswahn zu entwickeln, müssten sich wohl etablierte politische Kräfte dieser Potentiale annehmen und ihre Entwicklung unterstützen. Dazu ist aber die Abgabe von Macht erforderlich. Nach den bisherigen Erfahrungen liegen die Chancen daher bei Null.

Die derzeitigen politischen Eliten an der Macht (egal ob Regierung, Opposition, Verbände oder sonstige Machthaber, die das Wort Gemeinwohl ohne die beiden ersten Buchstaben lesen und schreiben) haben es zu verantworten, wenn Destruktion, Kooperationsverweigerung, Flucht, Apathie, Privatisierung und Anpassung, als ohnmächtige Antworten einer zutiefst desillusionierten Bevölkerung, Österreich zu Beginn des neuen Jahrhunderts in einen unverdient schlechten Zustand versetzen.

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