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Vor großen Entscheidungen

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In diesen Tagen fiel die Entscheidung der britischen Labourregierung, ob das vor Weihnachten vertagte Parlament am 24. Jänner zu einer letzten, etwa bis Juni dauernden Session zusammentreten oder durch den König aufgelöst werden soll, mit anderen Worten, ob die allgemeinen Neuwahlen im Februar oder im Sommer stattfinden werden. Der Führer der konservativen Opposition, Churchill, hat in einer Neujahrsbotschaft den Ausgang der bevorstehenden Wahlen als einen Wendepunkt in der Geschichte Großbritanniens bezeichnet. Bleibt die Arbeiterpartei an der Macht, so wird die Sozialisierung des englischen Produktionsapparats durch weitere fünf Jahre fortgesetzt werden. Das bedeutet ihre künftighin kaum je mehr zu ändernde Verankerung im gesamten Wirtschaftsleben Großbritanniens mit allen Wirkungen auf die gesellschaftliche Struktur dieses Landes, auf sein Geldwesen, auf seine Beziehungen zu den Mitgliedern des Commonwealth mit nicht sozialistischer Wirtschaft und nicht zuletzt auch auf das für die internationale Stellung Großbritanniens so ausschlaggebende Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Es dürfte noch in allgemeiner Erinnerung sein, mit welcher Heftigkeit ein großer Teil der amerikanischen Presse unmittelbar vor Abwertung des Pfundes, auf dem Höhepunkte der. englischen Dollarkrise, die sozialistische Wirtschaftspolitik der Labourregierung für diese schwere Kalamität verantwortlich machte. Wallstreetblätter gingen damals bis zu der Forderung, daß der'britischen Regierung bei Fortsetzung der kostspieligen Nationalisierung früher einträglicher Produktionszweige jede Marshall-Hilfe entzogen werden sollte. Erst die Pfundabwertung hat den Grimm der Wallstreet etwas besänftigt.

Die englische öffentliche Meinung hat die auf Drängen des amerikanischen Schatzamtes durchgeführte Pfundabwertung als ein schweres Opfer und eine nationale Prestigeeinbuße empfunden. Als Entschädigung wurde ihr ein rasches und ausgiebiges Ansteigen des Exports nach den Dollarländern, in erster Linie nach den Vereinigten Staaten, in Aussicht gestellt. Aber die bisherige Entwicklung hat diese Erwartung nicht erfüllt. In den Kreisen der britischen Industriellen wird heute mit viel Bitterkeit über die Schwierigkeiten gesprochen, denen der Absatz englischer Waren in den Vereinigten Staaten ausgesetzt ist. Auch zeigt sich immer mehr, daß eine Besserung der britischen Ausfuhren nach den Vereinigten Staaten an die Zulassung amerikanischer Investitionen in den englischen Industrien geknüpft wird. Begreiflicherweise machen sich dagegen in Großbritannien Widerstände geltend, für die etwa die gelegentlich vorkommende Bemerkung charakteristisch ist: „Wir wollen nicht britische Neger sein.“ Man befürchtet das Eindringen amerikanischer Einflüsse auf die Leitung der englischen Produktion, die unter Umständen bis zu der Ausschaltung englischer Konkurrenzunternehmungen gehen könnten. Diese Probleme, die das britischamerikanische Verhältnis von der wirtschaft-lidien Seite her so stark berühren, werden, wie immer die Wahlen ausfallen, für jede künftige Regierung eine schwere Hypothek bedeuten: für eine neuerliche Arbeiterregierung vermehrte Reibungen mit Washington, für eine konservative Regierung namhafte Schwierigkeiten mit den Gewerkschaften, da nach der übereinstimmenden Ansicht der Sachverständigen, einschließlich der gegenwärtigen Regierung selbst, die schleppende Wirtschaftskrise, an der England heute leidet, nur durch Erhöhung der Arbeitszeit bei gleichbleibendem Wochenlohn überwunden werden könnte.

Aber auch auf rein politischem Gebiete will es der Labourregierung in letzter Zeit nicht recht gelingen, das Verhältnis zu der großen nordamerikanischen Union vor Trübungen zu bewahren. Man weiß von gewissen Gegensätzen zwischen den beiden angelsächsischen Regierungen in der Behandlung der deutschen Angelegenheiten. Die langsamen Fortschritte im europäischen Wiederaufbau werden in Washington hauptsächlich der Haltung Bevins zugeschrieben. Die vom amerikanischen Generalstab ausgearbeiteten Vertragsentwürfe für die Waffenhilfe an die Atlantikpaktstaaten stießen nirgends auf so große Einwendungen wie in London. Und nun kommt noch das Problem der Anerkennung des kommunistischen China hinzu. Während das britisdie Foreign Office schon seit der letzten Kabinettsitzung vor Weihnachten entschlossen ist, die Regierung Mao-Tse-Tungs anzuerkennen, wurde in Washington über eine Unterstützung Tschiang-Kai-Scheks auf Formosa debattiert.

Den vordringlichsten Beratungsgegenstand der Commonwealthkonferenz, die jetzt in Colombo auf Ceylon tagt, wird wohl der politische Erdrutsdi in Ostasien bilden, wo infolge der Unabhängigkeitserklärung Indiens und Pakistans, des Abfalls Indonesiens von der, holländischen Kolonialherrschaft, der Konstituierung des kommunistisdien Regimes über ganz China und der Errichtung eines einheimischen Kaisertums Bao Dais in Indo-duna durch die Franzosen eine völlig veränderte Lage eingetreten ist, welche die Stellung Großbritanniens in Hongkong und Malaya sowie dessen Verhältnis zu Indien, Neuseeland und Australien selbstverständlich stark berührt. In Neuseeland und Australien sind heute betont antisozialistische Regierungen am Ruder, die in Colombo voraussichtlich auf Maßnahmen zur Bekämpfung des Kommunismus dringen werden. Die von den Nationalisten Tschiang-Kai-Scheks — vermutlich nidit ohne Wissen, vielleicht auch nicht ohne Billigung Washingtons — verfügte Blockierung der chinesischen Küste, der die Verminung der chinesischen Gewässer folgte, hat den Protest der britischen Regierung hervorgerufen. Unter diesen Umständen wäre es keine Überraschung, wenn sich in Colombo die Anschauungen der verschiedenen Regierungen des Commonwealth nicht ganz decken sollten.

Wie schwierig sich die internationalen Verhältnisse für Großbritannien gestaltet haben, geht sdion daraus hervor, daß sich die englische Presse am Vorabend der Neuwahlen weit mehr mit den Problemen der

Außenpolitik als mit den inneren Angelegenheiten beschäftigt. Was den weiteren Gang der Dinge im Innern Englands betrifft, so mehren sich die Stimmen, die für eine Treuga Dei und für die Bildung einer nationalen Koalitionsregierung nach den Wahlen eintreten. Eine solche würde dann möglidi ersdieinen, wenn keine der beiden großen Parteien einen überwältigenden Sieg davontrüge und daneben nach langer Zeit wieder die liberale Partei etwas in den Vordergrund rückte. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie die großen außenpolitischen Entscheidungen würden einen solchen innern Burgfrieden sicherlich rechtfertigen. Die Orientierung nach drei Richtungen stellt heute die Leitung der britischen Außenpolitik vor hödist verantwortungsvolle Aufgaben. Die Imperialisten der alten Schule befürworten eine Politik, die sich in erster Linie eine enge wirtschaftliche Zusammenfassung des Commonwealth ohne Rüdtsicht auf amerikanische Empfindlichkeiten und europäische Interessen angelegen sein ließe.

Diese Politik würde aber die Teilnahme Großbritanniens an der europäischen Unionsbewegung in einer führenden Rolle unmöglich machen. Ein starker Flügel der konservativen Partei unter Führung Churchills hält jedoch eine solche Teilnahme für unerläßlich. Dann gibt es noch einen dritten Kreis, der aus den Gründen der militärischen Sicherheit für ein Zusammengehen mit Amerika durch dick und dünn eintritt, indem' er die Erhaltung der abendländischen Gesittung in einer amerikanischen weltweiten Hegemonie erblickt, der sich auch Großbritannien einzufügen hätte. Im • Foreign Office wird heute um eine Synthese zwi-sdien diesen drei Richtungen gerungen. „Die Aufgabe der kommenden britischen Regierung wird es sein, den Abgrund zwischen der Neuen Welt und der Alten zu überbrücken“, schrieben in diesen Tagen die „Times“, „und zwar in einem Sinne, der länger zu währen verspräche als die Marshall-Hilfe und selbst der Atlantikpakt.“

Sigma

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