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HAT ITALIEN AIDS?

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Wieder einmal stand Italien vor einer Regierungskrise. Die Parteiskandale in CD und PSI erschüttern das Viererbündnis. Neuwahlen will jedoch im Moment keine der Koalitionsparteien: sie würden nur in massiven Gewinnen für die Protestparteien Rete, Lega Nord, Neokommuni-sten und Neofaschisten enden.

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Wieder einmal stand Italien vor einer Regierungskrise. Die Parteiskandale in CD und PSI erschüttern das Viererbündnis. Neuwahlen will jedoch im Moment keine der Koalitionsparteien: sie würden nur in massiven Gewinnen für die Protestparteien Rete, Lega Nord, Neokommuni-sten und Neofaschisten enden.

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Die 51. Regierang Italiens seit 1945 steht unter schwerem Beschuß: Die Skandale in den Reihen der führenden Parteien - Christdemokraten und Sozialisten, konkrete Namen: Sozialistenchef Bettino Cra-xi und Südtirols italienischer Landeshauptmannstellvertreter Remo Ferret-ti - haben in der Vorwoche zu parlamentarischen Mißtrauensanträgen der Linksdemokraten (PDS) Achille Oc-chettos, der Rifondazione, Rete und MSf geführt. Mit der dünnen Mehrheit von 19 Stimmen konnten die Koalitionspartner überleben.

Die Probleme der Regierung Amata sind damit natürlich nicht vom Tisch. Der seit Juni vergangenen Jahres amtierende 54jährige Turiner, Ziehkind Craxis, von dem er sich nun notgedrungen absetzen muß, ist Wirtschaftsfragen (siehe untenstehenden Beitrag) bisher äußerst zaghaft angegangen. Eine notwendige Wahlgesetzänderung (zu viele kleine Parteien, die wegen der fehlenden Fünf-Prozent-Klausel ins Parlament einziehen können) läßt auf sich warten. Eine

Verfassungsreform sowie „Riforme istituzioni” ist nicht absehbar. Die entscheidende Frage Italiens wird die Lösung des Föderalismusproblems sein, diese Frage hängt mit dem enormen, wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälle, mit dem erst in jüngster Zeit entschiedener angegangenen Problem des organisierten Verbrechens zusammen, das in die Politik hineinwirkt.

Die jüngsten Skandale: Am Dienstag vor einer Woche wurde in Rom der Stadtrat für Urbanismus, Carme-lo Molinari, verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, für den Verkauf von Immobilien und für die Erteilung von Baugenehmigungen Schmiergelder verlangt zu haben. Molinaris Verhaftung löste eine Kapital-Krise aus, Bürgermeister Franco Carraro, den der Papst vor nicht allzu langer Zeit zur Anständigkeit mahnte (siehe Seite 9) ist mit der Stadtregierang zurückgetreten.

„Kreuzzug” gegen Craxi

In Rom wurde auf Antrag der Mailänder Staatsanwaltschaft der Verwaltungssitz der PSI-Zeitung „L'Avanti” durchsucht; das Parteiorgan soll Rechnungen an den PSI ausgestellt haben, die nur der Weißwaschung von Schmiergeldern dienen sollten. Der frühere Vizepräsident der Region Lombardei, Ugo Finetto, der im Mailänder Gefängnis San Vittore einsitzt, soll Schmiergelder empfangen haben. Und in Chieti (Abrazzen) wurden in der Vorwoche sechs Christdemokratische Stadträte verhaftet, die „tangenti” für den Bau einer nur zur Hälfte fertiggestellten Schule gefordert haben sollen.

Besonders zu schaffen macht den Sozialisten der Fall ihres Parteichefs Craxi, der von Mailänder Untersuchungsrichtern bereits zum viertenmal ein „avvi-so di garanzia”, einen Hinweis, daß gegen ihn ermittelt wird, erhalten hat. Den zweiten „avviso” hat Craxis Stellvertreter als PSI-Sekretär, der frühere Außenminister De Michelis, ins Haus gestellt bekommen. Craxi steht mit dem Rücken zur Wand. Er wird verdächtigt, in 50 Fälle von Hehlerei verwickelt zu sein. Der Justiz wirft Craxi aber vor, gegen ihn und die Institutionen der Republik einen Kreuzzug zu führen.

„Tangentopoli”, das Skandalspiel um die Bestechungsgelder, beherrscht die innenpolitische Szene Italiens. Niemand - Manager, Politiker, Wirtschaftsleute - konnte sich in den vergangenen Jahrzehnten dieser politischen „Kultur” entziehen. Der DC-Mann und Südtirols italienischer Landeshauptmannstellvertreter Remo Ferretti hat dieses Spiel offenbar auch betrieben: Er steht unter Verdacht des Amtsmißbrauchs, der Korruption und der Erpressung.

„Italien droht zum kranken

Partner Europas zu werden”, schrieb „Der Spiegel” schon im Juli des Vorjahres und fügte eine angeblich von Bundeskanzler Helmut Kohl stammende Diagnose hinzu: „Italien hat Aids.” Und der Politologe Angelo Bolaffi weist in derselben „Spiegel”-Ausgabe daraufhin, daß „wir zum erstenmal seit der Gründung des italienischen Einheitsstaates im Jahre 1861 faktisch zur Existenz zweier Italien zurückgekehrt sind, im Grande muß jetzt nur noch der Grenzverlauf zwischen Norden und Süden bestimmt werden”.

Besteht Italien die Nagelprobe und gibt den Weg zum Föderalismus frei - oder bleibt es bei Retuschen der verkommenen politischen Kultur? Die „Neue Zürcher Zeitung” mutmaßt denn: „Allein die Masse der Anklagen und drohenden Verurteilungen könnte schließlich dazu führen, daß die Übung nach exemplarischer Bestrafung einiger ausgewählter Sündenböcke abgebrochen werden muß.”

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