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„Mailand arbeitet — Rom ißt“

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Rom, Oktober 195 5

Armer Graf Cavour! Vielleicht begegnet jemand deinem Schatten in Turins prächtiger Via Roma und ruft dir zu: „Wohin gehst du, Camillo?“ Und du antwortest: „Nach Rom, um Italien ein zweites Mal zu einigen!“

Bei den Genueser Gerichtsbehörden ist in diesen Tagen das Programm einer neuen politischen Partei zur amtlichen Registrierung deponiert worden, einer Partei, die sich pleonastisch „Partito Settentrionale del Popolo Cisalpino (PSPC)“ nennt, um schon durch die doppelte Unterstreichung des norditalienischen Charakters ihre strenge Ausschließlichkeit anzudeuten. . Eine Partei des cisalpinen Volkes? Verschüttete Erinnerungen an ferne Geschichtsstundcn kehren zurück. Die Cisalpinen, das müßten also die Ligurer, Piemontesen, Lombarden, Vencter und Aemilianer sein. Das Parteisymbol läßt auch keinen Zweifel offen: In einer Trikolore sind die Grenzen Norditaliens bis zum Apenninen-kamm nachgezeichnet, und im Felde liest man „Republica Cisalpina“.

Armer Cavour, du mußt dein Werk von vorne beginnen. Du konntest „Italien machen“, aber nicht den Italiener. In der dauernden Polemik zwischen Nord und Süd, zwischen Mailand und Rom, eine Polemik, die so alt ist wie die Einigung Italiens und vielleicht noch älter, ist die Gründung der cisalpinen Partei nur eine neue pittoreske Episode. ..Milano lavora, Roma mangia“ (Mailand arbeitet, Rom ißt), sagt man im Norden und me'iit damir, daß es die produktive Kraft und die Steuergelder der Lombarden sind, die dem schönen, aber ansonst unnützen Rom das faule Parasitendasein ermöglichen. Der südliche Schlendrian und die gemächlichere Lebensführung Roms sind dem Norditaliener Aergernis und Qual, engstirniger Bürokratismus und Anfälligkeit gegen Korruption der häufigste Vorwurf. Es hat sich noch kein römischer Menenius Agrippa gefunden, der die Leute im Norden mit einer modern abgewandelten Fabel vom Bauch und den Gliedern von der Nützlichkeit Roms überzeugen hätte können. Cisalpine Schriftsteller wollen Rom sogar ein eigenes geistiges Leben absprechen, wie es zum Beispiel Paolo Monelli getan hat. „Alles in Rom ist Provinz“, höhnt er in der Turiner „Stampa“. Und der Regisseur Mario Soldati stöhnt: „In Rom fühle ich mich wie im Exil; wenn ich mich nicht hin und wieder nach Turin flüchten könnte...“ Der römische „Messaggero“ verzeichnet solche Stimmen regelmäßig unter einer eigenen Rubrik „Anti-Roma“.

Der letzte Anti-Roma ist ein hochgewachsener, blonder Lombarde namens Giorgio Zappa-roli Manzoni, Gründer der erwähnten PSPC, was die phonetisch veranlagten Italiener wie „pisspitsch“ aussprechen. Folgen wir dein Werdegang der PSPC, wie er von Dr. Manzoni selbst geschildert wird: Die Geburtsstunde der Cisalpinen fällt auf einen Dezembertag des Jahres 1952; aus der Taufe gehoben wurde der cisalpine Separatismus am 21. Jänner 1953 in Genua, wo der Gründer mit seinem Vortrag zum Thema „Die Nation der Cisalpinen“ Enthusiasmus und unbeschreibliche Sensation hervorrief. Für die anwesenden Journalisten und die Geschichte — wir folgen immer Dr. Man-zonis eigenen Werten — erging eine Erklärung der cisalpinen Nation, in der ihre juridische, verfassungsmäßige und internationale Anerkennung gefordert wurde. In den folgenden Monaten entstanden in allen norditalienischen Städten Keimzellen der neuen Bewegung, an die „norditalienischen Brüder“ richtete sich ein „historisches“ Manifest, das angeblich in Millionen Kopien verbreitet wurde. Hierauf begab sich der Gründer nach Nordamerika, er mochte erfahren haben, daß jenseits des Atlantiks bereits einmal europäische „Nationen“ geschaffen worden waren. Auf der Yale-Universität erwarb er den Doktorhut für internationales Recht, fand jedoch nebenher Zeit, für seine Idee zu werben. Ueber das nordamerikanische Fernsehnetz erklärte er vor aller Welt den separatistischen Willen des cisalpinen Volkes. Im April 1954 wurde er durch den Senator für Connecticut, Mr. Prescott Bush, dem Staatsdepartement vorgestellt, wo er mit dem Sekretär für die italienischen Angelegenheiten, Mr. Knight, ein Gespräch hatte. Ueber diesen informierte er die Regierung der Vereinigten Staaten offiziell von den Zielen der cisalpinen Bewegung. Das Programm und Druckwerke der Bewegung wurden im Staatssekretariat hinterlegt.

Nach den Auffassungen des „Führers der Cisalpinen“, Dr. Manzoni, entspricht die heutige italienische Nation in keiner Weise den Aspirationen jener norditalienischen Patrioten, die sich im Jahre 1848 gegen die österreichische Fremdherrschaft aufgelehnt hatten und treibende Kräfte des Risorgimento wurden. Jene Patrioten wollten die napoleonische Trikolore von 1797, die Fortsetzung in einer großen cisalpinen Republik. Das heutige Italien hingegen stellt die Erfüllung der Aspirationen der süditalienischen Völkerschaften dar und ihr Bestreben, den Reichtum des Nordens mit seiner organisierten Landwirtschaft und Industrie mitgenießen zu können. Die Hauptstadt Rom, unmittelbar unter dem Einfluß des Südens stehend, der für alle verwalten und entscheiden will, ist das Symbol der italienischen Nation von heute. Kurz, die Einigung Italiens im Jahre 1871 ist eine Enttäuschung für den Norden und ein historischer Irrtum gewesen.

Man kann über den Gründer der Cisalpinen Partei denken, wie man will, aber niemand wird ihm absprechen können, daß er eine weitverbreitete psychologische Situation richtig erfaßt hätte. Er rührt die Norditaliener an zwei empfindlichen Stellen zugleich: an ihrer Geldbörse und in ihrer gefühlsmäßigen Abneigung gegen die Süditaliener. Er schlägt im Grund in die gleiche Kerbe wie Indro Montanelli, ein Publizist von Rang und Namen, wenn dieser im „Corriere della Sera“ schreibt: „Die Atmosphäre Roms bleibt doch immer jene schläfrige, methodische seiner Beamtenschaft, die mit ihren mageren Gehältern, kleinbürgerlichen Vorurteilen, gegenseitigen Eifersüchteleien und Gewohnheiten dominiert, welche sie aus der südlichen Provinz importiert hat, woher diese Klasse heraufgestiegen ist.“ Dr. Giorgio Zapparoli Manzoni ist sich über den Weg, den er beschreiten will, vollkommen im klaren: Vom Aktionskomitee zur Bildung einer Partei, von der parlamentarischen Vertretung, zu einem von mindestens 500.000 Italienern unterzeichneten Volksverlangen nach einem Plebiszit, das die Verfassung ändern soll. Auf internationalem Gebiet wird versichert, daß die Cisalpine Republik alle Vertragspflichten Italiens übernimmt. Und, um sich Sympathien zu erwerben, wird hinzugefügt, daß die Republik so bald wie möglich in einen europäischen Bund eintreten will, rascher, als dies bei Italien der Fall wäre. Im übrigen beruft man sich auf Punkt 2 der Charta der Vereinten Nationen, in dem vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gesprochen wird. Da die Cisalpinen für sich dieses Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmen, wollen sie es auch nicht den anderen verweigern. Die Anspielung auf' Südtirol ist klar.

Alles das bleibt offiziell jedoch noch unausgesprochen; denn da ist die rauhe Wirklichkeit des Paragraphen 241 des Strafgesetzbuches, der alle Handlungen verfolgt, die auf eine Auflösung der Staatseinheit hinzielen. Das politische Programm spricht daher zunächst nur von der Schaffung eines autonomen nationalen Organismus, von Selbstregierung, und weist separatistisches Ansinnen weit von sich. Man fordert für das „souveräne norditalienische Volk“ die Möglichkeit, sich souverän über sein eigenes Schicksal aussprechen zu können, man verlangt eine neue Interpretierung des Artikels 5 der Verfassung, der da sagt: „Die Republik, eins und unteilbar, anerkennt und fördert die lokalen Autonomien.“ Aber alles das verlangt und fordert man mit einem Augenzwinkern.

Niemand vermag zu sagen, wohin der Cis-alpinimus seinen Gipfelstürmer Manzoni führen wird: ins Gefängnis, ins Parlament, auf den Präsidentenstuhl der Cisalpinen Republik? Auf einen Marmorsockel in Mailand? Wir beschränken uns hier nur darauf, eine vielleicht typische Episode des politischen Lebens im Italien des Jahres 195 5 zu verzeichnen.

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