6577365-1950_50_10.jpg
Digital In Arbeit

Kultur der Menschlichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Das neue Aufblühen des kulturellen Lebens in Italien ist von der übrigen Welt zunächst nur in der modernsten, die nationalen und sprachlichen Grenzen am raschesten überschreitenden Disziplin der zehnten Muse“, des künstlerischen Films, zur Kenntnis genommen worden. Der rasche Aufstieg der „admirable ecole Italienne“, wie ein maßgebender französischer Kritiker schon vor einigen Jahren schrieb, auf eine seit Kriegsende unverändert gehaltene Höhe sowie die Breite der keineswegs nur atif wenige Namen beschränkten Bewegung müßten allerdings dem aufmerksamen Beobachter den Gedanken nahelegen, daß es sich hier nicht um ein zufälliges vereinzeltes Phänomen, nicht um eine „Eintagsfliege“, sondern um den zeitgemäßen Ausdruck einer erneut aufbrechenden künstlerischen und kulturellen Schöpferkraft handelt.

Zur selben Zeit schiebt sich — langsamer gewiß, wie es durch das Medium des geschriebenen und gedruckten Wortes bedingt ist — die italienische Literatur immer stärker in den Blickpunkt der literarisch interessierten Kreise aller Länder. Der Weg zur Weltwirkung führt heute nur über die Ubersetzung in Englische — man mag darüber denken wie man will, die Tatsache selbst ist jedenfalls unbestreitbar —, und es ist daher von größter Bedeutung, daß das italienische Buch, nachdem .Christus kam nur bis Eboli“ und die Bücher Silones erneut die zeitweise verschlossenen Türen geöffnet haben, eben dabei ist, sich den amerikanisch-englischen Markt zu erobern. Moravia, Vittorini, Pratolini, Guareschi usw. sind in den letzten Jahren in Ubersetzung in Amerika erschienen und haben auf der .Bestseller-Liste“ erstaunliche Höhen erklettern können. Auch die zeitgenössische bildende Kunst und Musik Italiens konnte, gerade wieder vornehmlich im angelsächsischen Bereich, in den letzten Jahren bemerkenswerte Erfolge erzielen. Die Ansätze zur Erneuerung des italienischen Theaters, die sich an die Namen des jungen Giorgio Strehler in Mailand und des genialen neapolitanischen Volksschauspielers, Regisseurs und Theaterdichters Edoardo de Filippo knüpfen und von denen eine Uberwindung der seit Pirandellos Tod akuten künstlerischen „Theaterkrise“ Italiens zu erhoffen ist, haben im Ausland hingegen erst die Aufmerksamkeit einiger weniger Fachleute erregt.

Amerikanische Kritiker, denen das kulturelle Aufblühen auf den verschiedensten Gebieten in Italien nicht entgangen ist, sind vielfach auch rasch mit einer Erklärung zur Hand: nach den zwei Jahrzehnten faschistischer Diktatur (von der die Mehrzahl der Amerikaner eine sehr vage, durch die Kriegspropaganda gebildete Vorstellung haben) sei das bisher unterdrückte und zurückgestaute Kulturleben Italiens, von allen Fesseln befreit hervorgebrochen — eine Erklärung, die zwar völlig dem schlichten Kausal- und Moralbedürfnis des amerikanischen Durchschnittspublikums entspricht, die aber doch nur eine der gerade auf geistigem Gebiet so besonders gefährlichen Halbwahrheiten darstellt. Gewiß schafft die völlige Freiheit und verständnisvolle Förderung, die das italienische Kulturleben unter dem gegenwärtigen Regime genießt, eine günstige Atmosphäre. Aber die heute im Vordergrunde stehenden Künstler haben doch fast . alle schon in den Jahren des Faschismus zu arbeiten begonnen und den zum Erfolg führenden Weg eingeschlagen — zumal ja bekanntlich der Faschismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus auf kulturellem Gebiet völlig tolerant war und den Begriff der „entarteten Kunst“ nicht kannte (F. T. Mari-netti, der „Vater des Futurismus“, war ja bekanntlich zugleich einer der ältesten Faschisten), und die Italiener selbst während des Krieges die Verbindung zum Kulturleben des Westens nie verloren —, weshalb ihnen dann auch die im deutschen Sprachgebiet nach 1945 einsetzende kritiklose Bewunderung für alles „Westliche“ und der Komplex des „Nachholen-Müssens“ erspart blieb.

Dennoch besteht gewiß ein Zusammenhang zwischen den tief in das Leben der Nation und jedes einzelnen eingreifenden, umwälzenden Ereignissen des letzten Jahrzehnts und der besonderen Richtung des kulturellen Lebens im heutigen Italien. Bei eingehenden Gesprächen mit Menschen aller Stände sowie beim Lesen der Gegenwartsliteratur stößt man immer wieder auf ein schicksalhaftes Datum, das für die Italiener auch heute, nach sieben Jahren, noch immer eine ungeheure, man möchte fast sagen, magische Bedeutung besitzt: der „8. settembre“, der 8. September 1943, der Tag des italienischen Waffenstillstands, da das Land plötzlich in zwei Teile zerrrisien wurde und fast alle Werte, die bisher

Geltung gehabt und in der Brust der überwiegenden Mehrheit des Volkes friedlich nebeneinander gelebt hatten, Patriotismus, Nationalismus, soziales Empfinden, Königstreue, Loyalität gegenüber dem Regime usw., mit einem Schlag in unlöslichem Widerspruch gegeneinander getrieben und damit in Frage gestellt wurden. Es war eine große, wie eine Vorahnung des Jüngsten Gerichtes anmutende Demaskierung: ordenbedeckte Generäle und Politiker wurden von einer Stunde zur anderen hilf- und ratlose, angsterfüllte und gehetzte Menschen, während andere, bisher im Schatten Stehende ebenso überraschend ihren wahren menschlichen Wert offenbarten. Die Hüllen, die Tradition, gesellschaftliche Stellung, Geld und Macht um die Menschen gewoben, fielen und übrigblieb: der Mensch in seiner ganzen Menschlichkeit, in seiner Erbärmlichkeit und Größe, das zitternde, hilflose und doch des höchsten Aufschwungs fähige Geschöpf Gottes.

Dieses gewaltige, erschütternde Erlebnis aber — ein Erlebnis, das dem ganzen Volk in allen seinen Schichten, dem General wie dem Soldaten, dem Industriekapitän wie dem ärmsten Tag-löhner in gleicher Weise zuteil wurde und alle gleich unerbittlich vor die letzten Entscheidungen stellte — wies auch die Kunst in allen ihren Äußerungen wieder auf das große zentrale Thema der italienischen Kultur von Franz von Assisi, Giotto, Dante und den Pisanern bis zur Gegenwart: auf den Menschen an sich und in seiner Beziehung zu seinem Schöpfer und zu seinem Mitmenschen. Denn jenes Erlebnis hatte zugleich auch bei vielen die von Oberflächlichkeit, Alltagssorgen und Daseinsfreude überdeckte Beziehung zu Gott wieder freigelegt, und in dem Zusammenbruch erwies sich die ererbte schlichte Religiosität vielfach als einziger fester Halt. Nicht als ob etwa die gesamte Literatur des Landes nun eine Hinwendung zur religiösen Thematik genommen hätte oder die alte „antiklerikale“ Tendenz in der italienischen Intelligenz völlig verschwunden wäre. (Im Gegenteil, die jahrelange Führung des Staates durch eine ausgesprochen christliche Partei muß bei einem so widerspruchsfreudigen Volk, wie es das italienische nun einmal ist, manchmal sogar zu einer zeitweisen Verstärkung derartiger Strömungen führen.) Aber das Bestreben, durch eine rein ästhetische Betrachtung, durch die „bella forma“, zu den letzten entscheidenden Werten und Fragen vorzustoßen, ist doch allenthalben zu spüren.

Noch fehlen, da die großen Gestirne Croce und Papini sich nach reichem Leben zum Abend neigen, die neuen großen Planeten, die großen Namen,- aber an ihre Stelle ist eine solche Fülle kleiner Gestirne am kulturellen Himmel Italiens aufgegangen, herrscht ein so starkes, pulsierendes geistiges Leben — von dem allein schon die „dritten Seiten“ aller großen italienischen Zeitungen einen Begriff geben — und ist allen Äußerungen des geistigen, seelischen und kulturellen Lebens in diesen Jahren von Pater Lom-bardis „Kreuzzug der Liebe“ bis zu der sozialkritischen Literatur, die ihre Verfasser vorübergehend in die Nähe des Kommunismus gebracht hat, die Richtung auf eine echte volle Menschlichkeit so sehr gemeinsam, daß man wohl eine neue „Wiedergeburt“ des italienischen Kulturlebens und eine neue „Bewegung der Menschlichkeit“ erhoffen kann. In dieser neuen „Renaissance“, in diesem neuen „Humanismus“ aber liegt wohl der Beitrag, den Italien auch heute wieder vrie im sogenannten „Zeitalter des Humanismus und der Renaissance“, an der Zeitenwende zwischen Hochmittelalter und Neuzeit, für Europa und damit für die Welt zu leisten hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung