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Die Flucht nach dem Norden

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Ein Bericht über die "Nordwanderung" in Italien.

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Ein Bericht über die "Nordwanderung" in Italien.

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In der bekannten italienischen Zeitung „II Mondo“ schrieb kürzlich der italienische Journalist Paolo Pavolini über die Sorgen des Ministeriums für öffentliche Arbeiten auf Grund eines Berichtes in der italienischen Kammer für das Jahr 1955; diese Daten gelten größtenteils noch heute.

Der nachfolgende Auszug aus diesen Daten soll die „Nordwanderung“ der Italiener verständlich machen, gleichzeitig aber auch dartun, daß die zweieinhalb Milliarden Lire, die das italienische Arbeitsministerium für die Erbauung eines neuen (italienischen) Stadtteiles in Bozen ausgeworfen hat, für allernotwendigste Arbeiten in Mittel- und Süditalien besser und dringender angelegt wären, um den „Zug nach Norden" zu stoppen.

Das Ministerium für öffentliche Arbeiten hatte in diesem Jahre einen Betrag von insgesamt 205 Milliarden Lire für alle Arbeiten zur Verfügung, das ist für Häuser, öffentliche Gebäude, Eisenbahnen, elektrische Anlagen, Flußverbauungen, Krankenhäuser, Flughäfen, Kanalisationen und Wasserleitungen. Wörtlich heißt es in dem Bericht, daß Italien das ärmste und letzte Land unter allen europäischen Ländern in bezug auf öffentliche Arbeiten ist.

Der Kammerberichterstatter, Abg. Cervone, brachte folgende Zahlen:

1. Mehr als 14 Millionen Menschen wohnen in Ortschaften ohne Wasserleitungen;

2. 22 Millionen Menschen wohnen in Ortschaften ohne jegliche Kanalisation;

3. mehr als eine Million Menschen wohnt in Kellern, Dachzimmern oder Magazinen;

4. mehr als 300.000 Menschen wohnen nur in Baracken und Grotten;

5. in einer Million Familien — das sind neun Prozent der gesamten Bevölkerung — wohnen drei Personen in einem einzigen Raum;

6. eineinhalb Millionen Menschen — das sind zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung — haben für zwei Personen nur einen Raum zur Verfügung;

7. eine große Anzahl von Häusern und sogar von ganzen Ortschaften ist baufällig und muß abgetragen und wieder aufgebaut werden. Cervone "sagte wörtlich: „Ich habe stets Angst, daß mich Nachrichten vom Zusammenbruch ganzer Dörfer erreichen.“

Er führte dann weiter aus: Nur für die allernotwendigsten Bedürfnisse benötigt das Land 60.000 Spitalsbetten, wovon zirka 50.000 in Mittel- und Süditalien gebraucht werden, sowie 85.000 Schulräume. Das gegenwärtige Straßennetz beträgt zirka 25.000 Kilometer an Autostraßen, Staatsstraßen, Provinzstraßen und Gemeindestraßen, von letzteren können nicht wenige als nur zusammenhanglose Pfade bezeichnet werden. Zum Beweis für die katastrophale Straßenlage führt der Berichterstatter an, daß im Jahre 1957 nicht weniger als 7000 Tote bei Verkehrsunfällen auf den Straßen liegenblieben, im Jahre 195 8 waren es noch mehr, an Verletzten waren es mehr als 140.000.

Der oppositionelle Senator Cappellini schildert die Zustände in seiner Heimatprovinz Pesaro. Hier fehlen 666 Schulräume, und von den vorhandenen Schulräumen befindet sich mehr als ein Drittel in Ställen, Magazinen und Grotten. 128 Dörfer und 242 Fraktionen (Ortschaften) mit einer Gesamteinwohnerzahl von 132.000 haben kein Trinkwasser; in 13 Gemeinden sind die meisten Gebäude in sehr schlechtem Bauzustand, in 22 Gemeinden wurde ein mittlerer Bauzustand festgestellt; nur in 16 Gemeinden der Provinz ist der allgemeine Bauzustand der Häuser gut. In der Stadt Pesaro fehlen 3000 Wohnungen und sind von 44.000 Wohnräumen 3100 unbewohnbar; 181 Familien der Stadt leben heute noch in Grotten, 1200 Familien müssen gemeinsam mit anderen Familien in einer Wohnung leben, 2580 Wohnungen sind ohne Wasser und 2358 Wohnungen ohne Klosettanlagen.

In der Provinz Pesaro sind 4500 Wohnungen baufällig und unbewohnbar, 975 Wohnungen sind ohne jede hygienische Einrichtung, 23.000 Wohnungen ohne Senkgrube und 19.000 Wohnungen ohne elektrisches Licht. In 22 Gemeinden ist der Straßenzustand äußerst schlecht und in 66 Ortschaften ist überhaupt keine Straße. In den ganzen „Märchen“ befindet sich ein einziges Spital erster Kategorie, und zwar in Ancona. In der ganzen Provinz Pesaro gibt es nur sechs gewöhnliche und veraltete Krankenhäuser und einige Unfallstationen,

Eine generelle Übersicht über die notwendigsten Bedürfnisse der öffentlichen Arbeiten existiert nicht, ja nicht einmal eine Aufstellung der Notwendigkeiten oder ein Plan, ; nach dem die dringendsten Bedürfnisse befriedigt werden sollen. Für die Straßen ist lediglich ein Projekt zur Systematisierung der bestehenden Straßen und einiger neuer Straßen vorhanden. Nach diesem Projekt müssen bis zum Jahre 1965 die Autostraßen von 500 auf 2000 Kilometer gebracht werden, die Staats-Straßen von 35.000 auf 55.000 Kilometer, die Provinzialstraßen von 45.000 auf 85.000 Kilometer, während die Gemeindestraßen (oder i Übernahme von Provinz und Staat) von 125.000 auf 75.000 Kilometer verringert wer- i den sollen. Die Straßenmisere ist um so katastrophaler, als sich der Straßenverkehr bis 1965 mindestens verdoppeln wird, während die . Straßennetze selbst wie bisher lediglich 200.000 i Kilometer betragen.

Von den Technikern des Ministeriums wird ein Finanzierungsplan für diese notwendigen Arbeiten von 1800 Milliarden Lire ausgearbeitet, während die tatsächlichen Kosten weit über 2000 Milliarden Lire kommen werden. Bis heute ist im Staatshaushalt für die Straßenerhaltung lediglich ein Betrag von 830 Milliarden Lire jährlich vorgesehen. Gleichzeitig mit den 2000 Milliarden Lire für die Straßenerhaltung wird eine bedeutend größere Summe für die Erhaltung der Gebäude benötigt. Abgesehen davon, daß bereits viele Kriegsschäden beseitigt und neue Gebäude errichtet wurden, hat sich der Wohnraum von eineinhalb Personen vom Jahre 1951 auf 1,23 pro Wohnraum vermindert. Um auf das bescheidene Ziel von einem Wohnraum pro Person zu kommen, benötigt man mindestens 10 bis 12 Millionen neue Wohnräume. Wenn man die Kosten eines Wohnraumes gegenwärtig auf eine halbe Million veranschlagt, so kommt man auf eine Zahl von 5000 bis 6000 Milliarden Lire; hinzu sind aber noch die Kosten für Bauschäden und sanitäre Anlagen zu rechnen, und für wenig entwickelte Gegenden Notunterkünfte, so daß man für die notwendigen Baukosten auf mindestens 10.000 Milliarden Lire kommt. Für alle anderen notwendigen Bauvorhaben, und zwar Wasserleitungen, sanitäre Anlagen, Schulen, elektrische Anlagen, Eisenbahnen, Bonifizierungsarbeiten, Krankenhäuser, Häfen, Flugplätze usw., ist ein Mindestbetrag von 6000 Milliarden Lire zu nehmen, so daß man auf eine Gesamtsumme von 16.000 Milliarden Lire kommt, von denen derzeit lediglich für öffentliche Arbeiten ein Betrag von 200 Milliarden Lire zur Verfügung steht, das sind nicht einmal sechs Prozent des gesamten Staatshaushaltes!

Im Artikel wird ferner darauf hingewiesen, daß Norditalien weitaus besser gestellt ist als Süditalien, und zwar wurden im Budget 1957/58 252 Milliarden Lire für Norditalien und 198 Milliarden Lire für Süditalien ausgeworfen, so daß für Süditalien 53 Milliarden und 600 Millionen Lire weniger ausgeworfen sind als für Norditalien, wobei noch zu bedenken ist, daß Süditalien in jeder Hinsicht, sowohl finanziell als auch wirtschaftlich, weitaus schlechter gestellt ist als Norditalien.

Diese statistischen Daten lassen einen gewaltigen Unterschied in der Behandlung der süditalienischen von den norditalienischen Provinzen erkennen, und es ist kein Wunder, daß sich die süditalienischen Provinzen gegen diese ungerechte und einseitige Behandlung auflehnen. Der beste Beweis hierfür ist das Wiederaufleben der Maffia in Sizilien und in Neapel, der sich nicht nur gegen industrielle Großgrundbesitzer, sondern auch gegen Abgeordnete wegen der schlechteren Behandlung der süditalienischen Provinzen durch den Staat richtet.

Wenn man auch aus diesen Zahlen die Ursache ersehen kann, warum die Bevölkerung Süditaliens nach Norden dringt, so ist dies noch lange kein Grund, daß der Einwanderung der Süditaliener in Norditalien, besonders in der Provinz Bozen, Tür und Tor geöffnet wird, sondern es wäre nur recht und billig, wenn die staatlichen Mittel mehr nach Süden verlagert würden, um die dortigen Notstandsgebiete zu sanieren und die verzweifelte „Flucht nach dem Norden“ zu beenden.

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