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Bilanz einer Schande

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Alles in allem lief das erste Ergebnis der italienischen Auswandererkonferenz zwischen Vertretern der Emigrantenorganisationen, der Gewerkschaften und der Regierung auf die Bloßstellung eines großen Mißstandes, des. vielleicht größten des Landes, hinaus: Daß1 seit“ 100 Jahren mehr als die Hälfte der Bevölkerung — über 30 Millionen Menschen — zur Emigration genötigt ist, hat mehr als einer der nach Rom zurückgekehrten „verlorenen Söhne“ als „nationale Schande“ bezeichnet. Ein schwacher Trost, daß die Auswanderungsziffer seit Jahrzehnten nicht mehr den Höchststand von 1913 erreicht hat, als sage und schreibe 872.000 Italiener — meist nach Übersee — emigrierten. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Emigration gigantische Ausmaße erreicht. Einer von drei Kalabresen arbeitet im Ausland, weilt in der Schweiz oder in der BRD. Jeder vierte Bewohner der Region Julisch-Venetien muß sein Brot jenseits der Grenze verdienen, weil es zu Hause angeblich keine Arbeit gibt. Während die vor dem Ersten Weltkrieg ausgewanderten Italiener meist eine fremde Staatsbürgerschaft angenommen haben — davon 1,2 Millionen allein in Argentinien! —, sind die 5 Millionen, welche nach 1945 nördlich oder westlich der Alpen Arbeit gefunden haben, zum größten Teil Italiener geblieben. Eine weitere Million ist nirgends gemeldet, weder in Italien noch im Ausland, und verdient das Brot als Schwarzarbeiter oder sonst als „blinde Passagiere“.

Die sechs Millionen italienischer Auswanderer schicken jährlich Geld im Werte von fast 1000 Milliarden Lire (24 Milliarden Schilling) nach Hause. Man geht mit der Behauptung nicht fehl, daß ohne die Möglichkeit der Emigration Italien der Arbeitslosigkeit zum Opfer gefallen wäre, daß es in den fünfziger und sechziger Jahren kein Wirtschaftswunder gegeben hätte und ein Staatsbankrott jetzt kaum mehr abgewendet werden könnte.

Italien erweist sich gegenüber seinen fleißigen und sparsamen „verlorenen Söhnen“ höchst undankbar. Nur drei Prozent des Personals der italienischen Konsulate im Ausland beschäftigen sich mit den Auswanderern, und diese wenigen fast durchwegs auf patriarchalische Art und Weise, was auf dieser Konferenz immer wieder beklagt wurde. Ohne Bücklinge und stundenlanges Warten geht es nicht, und ein einflußreicher Fürsprecher ist fast unerläßlich. Nur 5,2 Prozent des Budgets des Außenministeriums kommen den Emigranten zugute. Eine Verdoppelung des Betrages für das laufende Jahr auf 15 Milliarden Lire (360 Milliarden Schilling) ist, gemessen an der Zahl der Beschäftigten, nach wie vor mit dem berühmten „Tropfen auf den heißen Stein“ zu vergleichen. Auf 50.000 Auswanderer kommt ein Sozialarbeiter! Was Wunder, daß bei einer Befragung der 250 sizilianischen Familienväter in Grenoble 190 die Betreuung durch das italienische Konsulat als „völlig mangelhaft“ bezeichneten. 229 beanstandeten das Verhalten des Konsuls, 170 kommen nie nach Hause, um das Wahlrecht auszuüben, und nur drei von ihnen kamen in den Genuß eines Stipendiums für eines ihrer Kinder.

Verfehlt wäre es aber, diese Auswandererkonferenz als völlig nutzlos zu bezeichnen. Zum erstenmal in der 114jährigen Geschichte des Vereinigten Italien ist das Problem der Emigration für die Zuhausegebliebenen eindrücklich vor Augen geführt und als eines der wichtigsten nationalen Anliegen vorgestellt worden. Die Regierung Moro hat sich genötigt gesehen, den 300 Delegierten einige Zusagen zu machen, die früher oder später eingelöst werden müssen. Außenminister Rumor sprach von einer „Reform des Konsularwesens von Kopf bis Fuß“. Daß etwas in dieser Richtung geschieht, garantiert die Gewerkschaft seines Personals, welche im Verein mit den Delegierten der Auswandererorganisationen die Publikation der den Konsulaten zur Verfügung gestellten Gelder und ein Mitspracherecht bei deren Verteilung gefordert hat.

Ministerpräsident Moro stellte den Rückwanderern Vorzugsbedingungen bei der Eröffnung von Bank-konti und Krediten in Aussicht. Ferner versprach er, die Abzweigung eines Teiles der Rimessen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze einer näheren Prüfung zu unterziehen. Bei der Verteilung billiger Wohnungen und bei der Gewährung von Darlehen zur Eröffnung eines eigenen Betriebes sollen die Rückkehrer bevorzugt werden. Wenigstens im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft dürfte die Rechtsstellung der Auswanderer eine Verbesserung erfahren. Bei der jetzigen schlechten Wirtschaftslage müßte dies allerdings fast zwangsläufig bedeuten, daß Fremdarbeiter aus Ländern, die nicht zur EWG gehören, vor den Italienern entlassen und nach Hause geschickt werden müssen.

Mit Überwindung der Rezession dürften zahlreiche Forderungen, die diese Konferenz nur definieren^ nicht aber zum Gegenstand einer eigentlichen Resolution machen konnte, früher oder später in die Tat umgesetzt werden. Was in der Macht Italiens steht, wie eine Verbesserung der Auswandererprogramme der RAI (ä la „Un'ora per voi“), wird auf Druck der Gewerkschaften und von Regierungsvertretern vielleicht schon vorher verwirklicht.

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