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Die hohe Politik Cavours

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Und doch war Cavours Politik vom italienischen Standpunkt die einzig richtige gewesen und eine Meisterleistung, weil es ihm gelungen war, was die Linksparteien vor allem vor ihm vergeblich versucht hatten: die Unterstützung Frankreichs zu gewinnen. Für die Lombardei, für Parma, Modena, die Toskana und die Romagna war der bezahlte Preis nicht zu hoch. Strenggenommen hätte Cavour zumindest Nizza auch verweigern können, denn die Abmachungen von Plombieres betrafen auch die Auslieferung Venetiens an Italien, während Napoleon im- Waffenstillstand von Villafranca am 11. Juli 1859 den Österreichern diese Region beließ, wahrscheinlich beunruhigt über die Wendung, die die Ereignisse genommen hatten. Er hatte Piemont unterstützen wollen, weil er glaubte, daß sich dessen Ziele auf die Schaffung eines norditalienischen Königreiches beschränken würden, das ein Gegengewicht zur österreichischen Macht sein würde und über das er immer eine Hegemonie ausüben könnte. Statt dessen sah er eine Region nach der anderen den Piemontesen zufallen.

Macht, aber macht rasch!

Eine Krise in den italienisch-französischen Beziehungen gab es 1860, anläßlich der militärischen Expedition Garibaldis mit seinen „Tausend“ (die aber nach der Landung auf Sizilien durch den Zustrom von Freiwilligen rasch mehr wurden). Cavour befürchtete, daß Garibaldi nach seinen überraschenden Erfolgen zu den republikanischen Idealen der Jugend zurückkehren könnte und daß er — womit er nicht unrecht hatte — den Marsch bis nach Rom fortsetzen würde. Italien würde dann in zwei Teile zerrissen bleiben, einen südlichen als Republik, einen nördlichen unter monarchistischem Regime. Um dies zu verhindern, mußte er „eher am Volturno stehen als Garibaldi in Ancona“. Rasches Handeln war notwendig. Wenn Garibaldis Zug von Marsala bis Neapel seine größte Leistung als Bandenführer gewesen war, dann war die Invasion der Marken und Umbriens, Teile des Kirchenstaates, die größte diplomatische Leistung Cavours. Denn er hatte den Widerstand Napoleons zu überwinden, der über die Reaktion der französischen Katholiken besorgt war, und er hatte dies zu tun, ohne die Freundschaft des Kaisers zu verlieren. „Macht, aber macht rasch!“ hatte ihm Napoleon III. schließlich resigniert zugestanden.

Die „römische Frage" sollte durch Cavour nicht mehr gelöst werden. Erst 51jährig, starb der bedeutendste Staatsmann, den Italien hervorgebracht hat, nach kurzer Krankheit am 6. Juni 1861. Cavour hinterließ seinem Nachfolger, dem Florentiner Baron Bettino Ricasoli, ein drückendes politisches Erbe.

Ricasoldi war so etwas wie ein katholischer Puritaner und als solcher sowohl Viktor Emanuel II. als Napoleon herzlich antipathisch. Er glaubte fest daran, daß der freiwillige Verzicht des Papstes auf seine weltliche Herrschaft zur inneren Reform der Kirche beitragen würde und daher von dem Vikar Christi selbst gewünscht werden müßte. Er meinte es durchaus aufrichtig, wenn er ausrief: „Die Kirche muß frei sein, und wir werden ihre volle Freiheit herstellen." Doch Rom zeigte sich solchen Angeboten gegenüber taub. Die Tatsache, daß innerhalb von 23 Monaten ein Staat von 22 Millionen durch Annexion zusammengebracht worden war, schuf eine Reihe großer Probleme. Ein Eisenbahnnetz mußte gebaut werden, um die Italiener einander näherzubringen. Die geographische Situation des neuen Staates war der Einheit denkbar ungünstig. Die Verwaltung mußte angeglichen und auf einen gleichen Nenner gebracht werden. Daß die Organisation des Piemont zum Vorbild genommen wurde, ist natürlich. Sie war aber nicht überall so vorbildlich, zum Beispiel waren die Lombardei und die Toskana weit besser organisiert gewesen. Das Heer der piemontesischen Beamten, das den Truppen im Süden folgte, brachte bürokratische Sauberkeit und guten Willen, aber manchmal recht wenig Verständnis für die überkommenen Gewohnheiten. Der „Piemontesismus“ rief heftige Reaktionen in Sizilien' hervor. Heute, mit der zunehmenden „Meridionali-

sierung" des Nordens und der Bürokratie, könnte man beinahe Sehnsucht nach dem kleineren Übel bekommen. Ungeheuer waren besonders die Finanzsorgen des neuen Staates. Die Einnahmen deckten im Jahre 1861 nicht einmal die Hälfte der Ausgaben, eine durch den ersten Finanzminister Bastogi aufgelegte öffentliche Anleihe erbrachte 497 Millionen Lire gegenüber einer Verschuldung von 715 Millionen. Dennoch wurden die Schulden der vergangenen Regierungen alle respektiert, die von den Österreichern in der Lombardei hinterlassenen betrugen 180 Millionen; dafür konnte man den Franzosen mit der Abtretung von Nizza und Savoyen 90 Millionen Lire aufbürden. Die Fata Morgana eines unerhörten wirtschaftlichen Aufschwungs nach erfolgter Einigung stellte sich bald als unwirklich heraus. Dazu machte Europa in jenen Jahren so etwas wie eine Rezession durch, doch erschien das Königreich Italien vertrauenswürdig genug, daß ihm Hambro’s Bank in London, das Haus Rothschild und die Sterns in Paris beisprangen. Auch diese Bankschulden zahlte Italien pünktlich mitsamt dem drückenden Zinsendienst.

Einen steilen Weg hat Italien in diesem Jahrhundert zurückgelegt, wenn man sich an die Verhältnisse zur Zeit der Einigung erinnert. Es gab damals kaum Eisenbahnlinien. Sie befanden sich in der Po-Ebene, in der Toskana und in der Gegend von”Neapel. 1861 wurden noch zwei Drittel der Briefe ohne Frankierung expediert, die Einnahmen aus dem Nachporto betrugen das Doppelte der normalen Frankierung! In ganz Italien gab .es nur 35 5 Telegraphenämter mit 652 Apparaten, die insgesamt 821.000 Telegramme beförderten. Heute sind es 10.000 Ämter, und die Zahl der Telegramme beträgt 40 Millionen. Die sozialen Verhältnisse, besonders im Süden, erhellen daraus, daß die Sterblichkeit 30 Promille betrug, gegenüber neun von heute; dafür betrug der Geburtenkoeffizient 40 Promille gegenüber 17 von heute. Im Süden lebten die Bauernfamilien fast durchweg zusammen mit dem Vieh in einem einzigen Raum. Sicherlich sind die sozialen Bedürfnisse auch heute noch weitgehend unbefriedigt, aber eines ist der Bedarf aus echtem Mangel am Notwendigsten, und ein anderes der Bedarf, der sich aus erhöhten, wenn auch nicht unberechtigten Ansprüchen ergibt.

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