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Abgeordneter i.R.?

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Der Ingenieur Giuseppe Veronesi aus Rove-reto, christlichdemokratischer Abgeordneter des Wahlkreises Trient, gehörte bisher zu den Namenlosen des Parlaments. Niemals hat er an einen Minister demagogische Anfragen gerichtet, noch gegen die eigene Partei konspiriert. Weder trat er bei parlamentarischen Schlägereien hervor, noch war er jemals in einen Skandal verwickelt. Kurz, die politische Berichterstattung hatte noch keinen Anlaß gefunden, sich mit ihm zu beschäftigen. Er war Volksvertreter und sonst nichts. Einer jener Deputierten, wie man sie in der Aera Giolitti gekannt hat und die man sich sehr gut mit schwarzem Gehrock und Stehkragen und angegrautem Vollbart vorstellen könnte. Einer von jenen, die in der Ausübung des Mandats eine politische Mission sahen.

Dieser Abgeordnete ist nun plötzlich aus seiner Anonymität hervorgetreten. Die Zeitungen widmen ihm lange Artikel, eine bezeichnete ihn, wenn auch in ironischer Weise, als subversives Element, als Asozialen, Totengräber der parlamentarischen Einrichtungen und Mitglied der fünften Kolonne irgendeines totalitären Systems. Was hat der Trentiner Ingenieur getan? Er hat als einziger dagegen Stellung genommen, daß sich die Abgeordneten in seltener Einmütigkeit und geheimer Sitzung eine lebenslängliche Pension als Lohn für ihre politischen Mühen und Bemühungen zuerkannt haben. Und da er es nicht ertragen könne, daß das parlamentarische Mandat künftig ein Gewerbe wie jedes andere sein soll, meldete er seinen Rücktritt an.

Das Gesetz, mit dem sich die italienischen Deputierten ein Ruhegehalt gaben, wurde kurz vor Weihnachten fast einstimmig beschlossen Publikum und Presse mußten vor der Debatte die Tribüne räumen. Gewisse Dinge tut man nicht vor den Augen und Ohren der Oeffent-lichkeit. Aber die Beratung dauerte nur kurz, nicht tage- und wochenlang, wie etwa das Gesetz Merlin über die Schließung gewisser Häuser, in denen ein unmoralisches Gewerbe ausgeübt wurde. Parteigegensätze und Ideologien schwiegen. Kein Parteiorgan sprach sich gegen das Pensionsgesetz aus und nur aus einigen unabhängigen Blättern konnte man Einzelheiten über den Beschluß der Kammer erfahren. Nämlich: jeder Parlamentarier, der mehr als 49 Monate sein Mandat ausgeübt und das 55. Lebensjahr erreicht hat, besitzt Anspruch auf ein Ruhegehalt, das mindestens 50.000 und höchstens 150.000 Lire monatlich (25 Lire •= etwa 1 österreichischer Schilling) betragen wird, je nach der Dienstzeit. Wer vor der Erreichung der Altersgrenze aus dem Parlament ausscheiden sollte, erhält eine Abfindung von 600.000 Lire. Sollte ein Abgeordneter das Pech haben, kein zweitesmal gewählt zu werden, erhält er immerhin 300.000 Lire. Diese Summen seien dafür gedacht, dem Abgeordneten die Rückkehr ins bürgerliche Leben zu erleichtern und ihn für den Verdienstentgang während seiner politischen Tätigkeit zu entschädigen.

Der Ausdruck „Entschädigung“ hat viele italienische Zeitungsleser verärgert. Tatsächlich gibt es nicht viele Kategorien, die über ein monatliches Einkommen von durchschnittlich 250.000 Lire verfügen. Abgeordnete, die nicht in Rom ihren Wohnsitz haben, beziehen sogar 300.000 Lire. Dazu kommen aber auch zahllose

Vergünstigungen besonderer Art: in Monte-citorio haben die Abgeordneten einen Arzt und' einen Friseur zu ihrer Verfügung, Medikamente, Brötchen und den Espresso. In allen Zügen wird ein Abteil erster Klasse zu ihrer freien Benützung freigehalten. Aber kostenlos reisen auch ihre Familienangehörigen. Ein besonderer Ausweis gestattet ihnen die freie Benützung aller öffentlichen Verkehrsmittel und ein anderer gewährt ihnen freien Eintritt in die Kinotheater. Wenn man in Betracht zieht, daß sich Italiens Parlamentarier vorsorglich auch die Steuerfreiheit gesichert haben, dürfte man nicht fehlgehen, wenn man ihr monatliches Einkommen mit dem Bruttogehalt von 400.000 Lire (etwa 16.000 österreichische Schilling) eines gewöhnlichen Staatsbürgers gleichsetzt.

Die Pensionskasse der Deputierten bringt dem italienischen Steuerzahler eine neue Belastung von 93 Millionen Lire im Jahr. Denn während der Abgeordnete nur einen monatlichen Beitrag von 9000 Lire leistet, zahlt das Sekretariat der Kammer 12.500 Lire zu. Aber mehr noch als um die Neuaufwendung, die ohne öffentliche Diskussion beschlossen wurde, findet die prinzipielle Seite der Angelegenheit Widerspruch und Kritik. In den Parteisekretariaten, bei den Präsidenten der Kammer und des Senats, regnet es Telegramme und Protestbriefe, in denen das Eingreifen der obersten Parteistellen gefordert wird. Vielleicht fürchtet man auch, daß das Beispiel der Abgeordneten Schule machen könnte? Denn was den Deputierten recht ist, könnte auch den Mitgliedern der Regional-, Provinz- und Gemeinderäte billig sein. Wenn die Ex-Deputierten und Ex-Senatoren schon das Bedürfnis nach Altersversorgung haben, warum wenden sie sich . . .

Die Frage ist müßig, denn kein einigermaßen nach kommerziellen Gesichtspunkten geleite-tetes Institut könnte die Bedingungen bieten, die sich die Abgeordneten zu verschaffen wußten. Selbst verfassungsmäßige Einwendungen werden geltend gemacht: der Artikel 69, in dem die finanzielle Entschädigung für die Parlamentsmitglieder festgelegt ist, scheint jede weitere Zuwendung auszuschließen.

„Die Einrichtung der Pensionskasse für die Deputierten würde das endgültige Abgehen vom Begriffe der .Vertretung' und die Einführ-rung jenes des .Berufes' im parlamentarischen Mandat und bei der politischen Tätigkeit im allgemeinen bedeuten“, stellt ein Blatt verbittert fest. „Der Vorschlag stellt die letzte Stufe eines Degenerierungsprozesses dar. Die Büro-kratisierung der Parteien ist ein ernstes Symptom für die Krise des demokratischen Systems. Die politischen Parteien haben mit ihrem aufgeblasenen Apparat eine Klasse berufsmäßiger Politiker geschaffen. Aus Mitarbeitern gewählter Parteiführer sind sie zu den wahren Herren der Partei geworden, Individuen, die keinen anderen Beruf, kein anderes Einkommen haben als die des Politikers, die von einer Führerclique abhängen und sich ihr unterordnen, weil sie in jedem Augenblick ihren Posten verlieren und gezwungen sein könnten, sich eine produktive Arbeit zu suchen.“

Die Heftigkeit der Polemik ist bezeichnend für die Stimmung, die heute in weiten Kreisen der italienischen Oeffentlichkeit herrscht. Unter den Christlichen Demokraten, Liberalen und Sozialdemokraten ist man nachdenklich geworden. Dem Beispiel des Ingenieurs Veronesi, der es vorgezogen hatte, in seinen alten Beruf zurückzukehren, statt Abgeordneter i. R. zu werden, ist nun auch ein Abgeordneter des Movi-mento Sociale gefolgt. Der Advokat Enrico Endrich, trotz seines Namens echter Sarde, hat dem Kammerpräsidenten Gronchi folgendes Schreiben geschickt: „Die Gewährung einer Pension an die Senatoren und Abgeordneten bedeutet, daß sich das Prinzip des parlamentarischen Berufes durchgesetzt hat. Ich bin nicht geneigt, dieses Prinzip anzuerkennen, und trete zurück. Hochachtungsvoll Enrico Endrich.“

Der sardische Deputierte ist im Oktober 1899 geboren. Ab Jänner hätte er seine Pension beziehen können. Ein Subversiver und Asozialer.

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