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Metanopolis

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Der wirtschaftliche Aufschwung Oesterreichs und Deutschlands in den letzten beiden Jahren hat die wirtschaftliche Entwicklung Italiens gewissermaßen überschattet. Nur wenige sind sich dessen bewußt geworden, daß sich in Italien eine Entwicklung anbahnt, die möglicherweise das wirtschaftliche Gefüge des Landes auf neue Grundlagen stellen wird.

Die großen Hoffnungen, die man hinsichtlich der wirtschaftlichen Umgestaltung Italiens hegt, knüpfen an zwei Faktoren an: die Bodenreform und die Ausnützung neuer Kra f i-quellen.

Wer die Küstenstraße von Genua nach Rom (die jetzt bis Neapel verlängert wird), benützt, erblickt etwa 100 Kilometer vor Rom alle 200 bis 500 Meter große Tafeln mit der Aufschrift „Ente della Maremma, riforma agraria“ (Maremma-Körperschaft, Bodenreform). Hinter jeder Tafel erhebt sich ein neues Bauernhaus mit Wirtschaftsgebäuden und Zufahrtsstraße; der Boden, der noch vor zwei Jahren mit Disteln bestandenes Brachland war, ist von Motorpflügen tief aufgerissen und in langen regelmäßigen Linien mit Getreide bebaut. Das ist das Ergebnis der Tätigkeit der Maremma-Körperschaft, die weiter im Süden von der „Cassa per il mezzogiorno“ (Südlandskasse) abgelöst wird.

Es ist schon viel über die italienische Latifundienwirtschaft geschrieben worden: Der Boden Süditaliens ist in der Hand weniger tausend Grundbesitzer, die zumeist in Palermo, Bari und Rom ein Drohnenleben führen, den Besitz dem „fattore“ (Verwalter) überlassen, der wieder den Besitzer bestiehlt, den Bauern aussaugt und rationelle Wirtschaftsmethoden oft nicht einmal vom Hörensagen kennt. Riesige Distrikte liegen brach oder sind nur extensiv bebaut. Bearbeitet werden die Güter von Taglöhnern mit einem Lohn von 300 Lire täglich (12 S, die aber angesichts der italienischen Preisverhältnisse nur eine Kaufkraft von 8 S oder noch weniger besitzen). Das Elend dieser Leute ist uns geradezu unbegreiflich : Die 300 Lire genügen “kaum für eine tägliche Mahlzeit, die Bekleidung besteht aus einem zerfetzten Hemd und einer Hose, ihr Heim ist eine Höhle oder Baracke, Schuhe oder Möbel sind Luxusgegenstände. So stehen auf einer Seite Millionen ohne Kaufkraft, auf der anderen Seite aber eine unentwickelte Wirtschaft, die den an einem jährlichen Handelsr passivum von 150 bis 200 Milliarden laborierenden Staat zur Einfuhr von Getreide, Oel-früchten und anderen Nahrungsmitteln zwingt. Die Idee einer Bodenreform ist nicht neu; Mussolini hat die Pontinischen Sümpfe ausgetrocknet, aber dann blieb das Werk stecken. Im Jahre 1950 wurde endlich nach langen Vorbereitungen durch De Gasperi ein Gesetz eingebracht, das mit dem Riesenaufwand von 1250 Milliarden Lire (über 50 Milliarden Schilling) im Verlaufe von zehn Jahren einen ansehnlichen Teil der süditalienischen Latifundien kleinen Besitzern zuführen soll. Enteignet kann nur Großgrundbesitz werden, der extensiv oder überhaupt nicht bewirtschaftet ist; der Besitzer wird durch Obligationen, entschädigt. Die enteigneten. Gründe werden parzelliert, auf ihnen Bauernhäuser errichtet, mit einigem Fundus versehen, Zufahrtsstraßen, Wasserleitungen werden gebaut, der Boden wird, wo notwendig, ent- oder bewässert, Staubecken werden errichtet, der oft jahrhundertelang brach gelegene Boden wird bebaut oder zumindest mit Motorpflügen tief aufgerissen und Saatgut bereitgestellt. Im März.

wird zur geologischen Erforschung der Halbinsel, zum Bau neuer Bohrlöcher und Leitungen sowie zur Erbauung einer eigenen Erdgasstadt verwendet. „Metanopolis“, das in der Nähe von Mailand erbaut wird, soll nicht nur die Verwaltungsorgane der halbstaatlichen Gesellschaft beherbergen, sondern auch wissenschaftliche Laboratorien und ein großangelegtes Forschungsinstitut mit 200 Gelehrten und einigen hundert Technikern, des weiteren je ein Werk zur Erzeugung von Kunstdünger und künstlichem Kautschuk aus Erdgas nach Verfahren, die in Italien entwickelt wurden. Die bereits in Bau befindlichen Anlagen werden jährlich 30.000 Tonnen künstlichen Gummi (von denen die Hälfte der Ausfuhr zugeführt werden kann) und 350.000 Tonnen Kunstdünger (also bedeutend • mehr als die Oesterreichischen Stickstoffwerke) erzeugen.

Dies ist in wenigen Ziffern der heutige Stand der Erdgasindustrie, die in wenigen Jahren stillen Wirkens zu einem wirtschaftlichen Faktor ersten Ranges geworden ist. Italien steht allem Anzeichen nach am Beginn einer Entwicklung, deren Größe noch nicht abgeschätzt werden kann.

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