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Erlöste Erde in der Sila

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Im vergangenen schneereichen Winter erschien ein kleiner, schmächtiger Mann beim Bürgermeister eines weltvergessenen Dorfes in der Sila, der bis zu 1200 Meter ansteigenden Hochebene Kalabriens, berühmt wegen ihrer Nadelwälder, berüchtigt wegen der Rückständigkeit ihrer Bewohner. Der Mann war auf pistenähnlichen Wegen heraufgekommen, die nicht den Namen Straße verdienen, und hatte Skier angeschnallt, die das Erstaunen der Dorfbewohner im höchsten Maße erregten. Das Erstaunen wuchs, als sich der Mann als Vertreter der Regierung vorstellte und den Willen kundgab, sich über die Lage der Bauern, Pächter und Landarbeiter, über die Besitz-und Bodenverhältnisse genauestens unterrichten zu wollen. Etwas Ähnliches war seit Menschengedenken nicht mehr vorgekommen: die Regierung hat sich bisher nur in Gestalt eines Steuerbeamten, manchmal in der Uniform eines Karabiniere vorgestellt, und ihr Interesse war stets selbstsüchtiger Natur oder doch mit Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung verbunden gewesen.

Der Mann war die meistgeliebte und meistgehaßte Persönlichkeit Kalabriens, der „Prokonsul“, wie ihn seine Feinde nennen, denen die weitgehenden Vollmachten ein Dorn im Auge sind: der Professor für Chemie an der Universität Rom, selbst ein Sohn dieser zu erlösenden kalabresischen Erde, Vincenzo Cag-1 i o t i. Vom Regierungschef De Gasperi zum Präsidenten der „Opera di Valo-rizzazione della Sila e Territori Jonici contermini“ ernannt, hat er sein Hauptquartier nicht in einem römischen Ministerium, sondern mit einem tüchtigen Maß von Selbstverleugnung in dem kleinen Ort Camigliatello aufgeschlagen. Hinter dem langatmigen offiziellen Namen seiner Dienststelle verbirgt sich jene Organisation, die vom Parlament zur Durchführung der Agrarreform in der Sila geschaffen wurde. Wenn die „Latifondisti“, die ihre prächtigen Wildschweinreviere in Gefahr sehen, geglaubt hatten, daß der Winter die rastlose Tätigkeit des regsamen Professors hemmen würde, so sahen sie sich in ihrer Hoffnung enttäuscht. Von einem Mißbrauch der „prokonsularischen Vollmachten“ kann keine Rede sein, aber Vincenzo Caglioti entwickelt eine Energie und Dynamik, die in einem Landstrich, wo Esel und Maultier das Tempo bestimmen, nur als unbequem empfunden werden kann. In Camigliatello ist der Professor mit den Kinderhänden zu einem Fanatiker der Agrarreform geworden; an ihm liegt es, einen Ausgleich zwischen den sozialen Erfordernissen und dem in der Demokratie durch Gesetz und Verfassung geschützten Privateigentum zu suchen. „Die Lage ist nicht ohne Ausweg“, sagt Caglioti.

Die Rekruten aus den kalabresischen Provinzen Catanzaro und Potenza sind seit jeher ein Schrecken aller italienischen Feldwebel: Menschen, die nicht lesen noch schreiben können, die bei jedem Brief ihres Pfarrers aus dem Heimatdorf in Tränen ausbrechen und kindliches Unverständnis für die primitivsten Grundbegriffe der Hygiene zeigen. Erst auf dem Kampffeld zeigen sie ihren Wert, und der Ausruf eines kalabresischen Soldaten: „Nun me posso arrendere, so' calabrese — Ich kann mich nicht ergeben, ich bin Kalabrese!“ hat historische Berühmtheit erlangt. Diesen Menschen nun, die sich ihrem Leben niemals ergeben, so elend und erbärmlich es sein mag, will die Regierung De Gasperis zuerst die wirtschaftliche und soziale Freiheit bringen. Noch in diesem Monat Oktober werden 31.000 Hektar Grundbesitz enteignet und davon 10.000 an Neubauern übergeben. Vor Tagen hat der Landwirtschaftsminister Segni die ersten Lose vergeben — die einzelnen Grundstücke wurden tatsächlich verlost —, und es fehlte dabei nicht an pathetischen Augenblicken.

Die Hochebene der Sila, die wasserarmen Abhänge mit der Markgrafschaft Crotone als Zentrum (Crotone! Ein Schreckenswort für jeden Offizier, der dorthin in Garnison gehen muß) erstrecken sich über eine Fläche von 330.000 Hektar, aber nur 98.700 davon sind Acker- und Waldland in privater Hand. Von diesen gehörten bis gestern noch 52.000, also 52,3 Prozent, nur 42 Personen. Es gab Landgüter mit mehr als 10.000 Hektar, ein einzelner Grundbesitzer verfügte über deren 15.082, wozu weitere 8513 in Lukanien kamen. In Isola Capo Rizzuto, um nur einen Ort als Beispiel herauszugreifen, gehören 11.000 Hektar von dem insgesamt 19.400 umfassenden Gemeindeareal nur fünf Besitzern. Der Ort zählt 5000 Einwohner, von denen der größte Teil in einer wirtschaftlichen Abhängigkeit lebt, die durch das Uberangebot an Arbeitskräften oft dramatische Formen angenommen hat. Die „braccianti“, Landarbeiter, finden nur an 180 Tagen im Jahr Beschäftigung, und ihr tägliches Entgelt beträgt 300 Lire, was etwa drei Kilogramm Brot entspricht. Die „terreggieri“, Grundpächter, sind kaum besser daran.

Obwohl sich so die Agrarreform als zwingende Notwendigkeit, als moralische Aufgabe vorstellt, der sich keine verantwortungsbewußte Regierung entziehen kann, ist kein Programmpunkt der Regierung De Gasperi auf größeren Widerstand gestoßen als gerade dieser. Widerstand von rechts und links, von Seiten der Liberalen, die an einem starren Prinzip unbeschränkten Eigentumsrechtes verharren wollen und dabei übersehen, daß sich die Auffassungen von der sozialen Funktion des Eigentums seit einem halben Jahrhundert geändert haben, von seiten der Linksextremisten, die ihre propagandistischen Felle wegschwimmen sahen, und sogar Widerstand in den Reihen der eigenen Partei, von seiten jener Parlamentarier nämlich, die über dem Studium der technischen Schwierigkeiten, von Plänen und Programmen die Dringlichkeit der Lösung übersahen.

Man könnte annehmen, daß die Latifundien Süditaliens ein Erbe des alten Feudalsystems seien, aber die Tatsachen liegen anders. Der Großgrundbesitz ist verhältnismäßig jungen Ursprungs, da bereits Joachim Murat eine Agrarreform durchführte, indem er den erblichen Feudalbesitz zerschlug. Aber sehr bald bildete er sich neu, indem es einzelnen gelang, Boden vom Staat oder von den Gemeinden zu oft lächerlichen Preisen an sich zu bringen. Giolitti, Gianturco und Orlando hatten sich 1906/08 um ein Gesetz zugunsten einer neuen Agrarreform in Kalabrien bemüht, aber sie scheiterten am Geldmangel. Im Dringlichkeitsverfahren ist nun das Gesetz über die Sila aus dem für die allgemeine Agrarreform, die längere Vorbereitung erfordert, herausgehoben worden, um zunächst 1 2.0 0 0 Familien mit 6 0.0 0 0 Köpfen eine gesicherte Existenz zu bieten. Auf den ersten Blick erscheint diese Ziffer gering; aber von den 170.000 Hektar der Sila und ihrer Abhänge sind 58.000 völlig unproduktiver Boden, 26.000 Waldland, das nur verbessert werden kann, 53.000 Weideland mit Niederwald, von dem etwa 15.000 in Almbetriebe umgewandelt werden können, 7000 liegen unmittelbar vor den Gemeinden und sind bereits gut bewirtschaftet, und nur 25.000 Hektar sind geeigneter Kulturboden. Aber die Hälfte davon gehört Grundbesitzern mit weniger als 300 Hektar, die daher vom Gesetz nicht betroffen werden. Eine größere Konzentration des Grundeigentums finden wir im jonischen Unterland, wo für die Enteignung 40.000 Hektar zur Verfügung stehen. 10.000 Familien können dort Grundstücke von 4 bis 8 Hektar in Besitz nehmen.

„Scorporo“, Enteignung, ist ein böses Wort, das irrige Vorstellungen erwecken könnte. Es handelt sieb tri Wahrheit um eine zwangsweise Ablösung durch den Staat, der je nach dem Bodenertrag 20.000 bis 115.000 Lire pro Hektar teils in bar, teils in verzinsbaren Schatzscheinen bezahlt. Es kann allerdings nicht, geleugnet werden, daß diese Preise eine gewisse Malice des Fiskus bedeuten. Sie sind nämlich genau die Ziffern, welche die Grundeigentümer bisher dem Steueramt als Bodenwert angegeben haben, und wer sich von ihnen über zu niedrige Preise beschweren wollte, müßte sich selbst der Steuerhinterziehung beschuldigen. 20 Milliarden Lire beträgt der Kapitalaufwand, denn umfangreiche technische Arbeiten, Str-ßenbauten und Wasserleitungen, sind notwendig, dazu Beschaffung von Saatgut, Maschinen, Werkzeugen, Vieh und Wohnhäusern. Es ist der Preis für die Lebensexistenz von 25.000 bis 30.000 Siedlerfamilien in einem Gebiet, wo heute zwei Einwohner auf dem Qudrat-kilometer hausen.

Als die Neubauern ihr Grundstück in Besitz nahmen, da stürzte der eine oder andere auf den Boden und küßte die Erde mit Inbrunst; andere wieder überreichten dem Minister Segni ihre zerrissene KP-Mitgliedskarte als Geschenk.

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