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Die Stadtbaupolitik und die neuen Städte-gründungen in England

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Über elf Millionen Menschen werden täglich durch die den „London-Transpoft“- Unternehmungen unterstehenden Verkehrsmittel befördert. Etwa eine Million davon fährt Tag um Tag des Morgens vom Lande herein in die City und des Abends flüchtet sie wieder hinaus in die grünen Vororte, zurück ins traute Heim. Die City liegt am Abend verödet, ein freies Spielfeld für die wildernden Katzen und Hunde, kaum vom Tritte eines Menschenfußes gestört. Draußen aber, in den zahllosen Vororten, die sich meilenweit bis an die Hügel der Chiltern oder hinaus ins wellige Sussex erstrecken, beginnt das Leben. Hunderttausenden, die ihr tägliches Brot in der Metropolis verdienen und abends zum eigenen Herd eilen möchten, kann dieser Wunsch noch nicht erfüllt werden, weil die Wohnungsnot noch immer riesengroß ist. Nicht nur in London, sondern überall in England, und trotz den entschiedenen Bemühungen der Regierung, dem Problem zu Leibe zu rücken. Der Krieg hat den Drang der Landbevölkerung nach London nicht gehemmt, ja eher noch verstärkt. London ist vielleicht mehr denn je ein Zentrum politischen und wirtschaftlichen Schwergewichts, der Verwaltungsapparat ist angeschwollen und beschäftigt nicht nur Zehn-, nein Hunderttausende mehr als vor dem Kriege. Londons Wohnviertel sind übervölkert und können die Massen nicht mehr fassen. So ist man denn darangegangen, vor allem dieses Bevölkerungsüberlaufs, des „overspill“, wie er genannt wird, Herr zu werden.

Schon am Beginne unseres Jahrhunderts hatte man sich mit dem Gedanken befaßt, in nicht allzu großer Entfernung von London neue Städte anzulegen. Eine Bewegung, von Ebenezer Howard, später Sir Ebenezer Howard, ins Leben gerufen, begann für den Bau geplanter und daher gesunder Städte zu kämpfen. Es sollten Gartenstädte sein, in denen jedes Haus seinen eigenen Garten hat; Industrien sollten an die Randgebiete verbannt werden, die berüchtigten „slum quarters“, die Elendsviertel, dürfe es nicht mehr geben, eine neue, an Leib und Seele gesunde Generation sollte in diesen Städten aufwachsen. Zunächst fanden sich nur wenige Idealisten, die die viktorianischen

Ideen des bisherigen Städtebaues verdammten. Aber als im Jahre 1913 doch die ersten Häuser der neuen Gartenstadt Letch- worth in der Grafschaft Hertford erstanden und für den Plan zu werben begannen, war man bereit, das Experiment mindestens zu dulden. Es hat sich dann glänzend bewährt und das heutige Letchworth, das zu einer Stadt mit 25.000 Einwohner gewachsen ist und weiterwächst, ist ein blühendes Gemeinwesen im wahrsten Sinne des Wortes.

Die revolutionärste Idee Howards, die zunächst wenig oder gar keinen Anklang fand, war jedoch, daß Grund und Boden der neuen Städte nicht mehr Privatpersonen, sondern öffentlichen Körperschaften gehören sollte. Für das Wirtschaftssystem des viktorianischen England eine wahrhaft ketzerische Idee. Howard dachte nicht als Politiker, sondern er ging von der rein sachlichen Erwägung aus, daß nur öffentliche Körperschaften in der Lage wären, die erforderlichen Geldmittel zum Ausbau der neuen Städte zu beschaffen. Er setzte es denn auch durch, daß zum Ausbau der Stadt Letchworth eine Art Kommanditgesellschaft auf Aktien gegründet wurde; diese Handelsgesellschaft, nach rechtlichen Begriffen, ist bis heute Eigentümerin des Grundes, oder zumindest des größten Teils, auf dem die Stadt erbaut wurde. Die in England beliebten Rechtsformen des Erbpachtes und des Erbzins- vertrages sichern den Hauseigentümern die Rechte zu den von ihnen errichteten Baulichkeiten auf 99 oder 999 Jahre.

Als im Jahre 1919 Howard eine Gesellschaft zur Erbauung einer zweiten Gartenstadt gründete, waren noch nicht alle Zweifel und Gegnerschaften überwunden.. Doch ein kurz zuvor erschienenes Buch „New Towns after the War“ („Neu-; Städte nach dem Kriege“) von F. J. Osborn, trug ein Wesentliches zu Horwards Ermutigung bei. Das BucHerlebte mehrer Neuauflagen und erschien während des letzten Krieges in neuer Bearbeitung, die bereits auf die Planung für durch Fliegerangriffe zerstörte Städte Rücksicht nahm. Sein Verfasser ist heute eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete des Stadtplanungswsens. Auch die 1919 in Angriff genommene Stadtgründung wurde 1925 zur Wirklichkeit; heute ist Welwyn

Garden City ein mustergültiges Gemeinwesen, das zusammen mit dem benachbarten Hatfield zum weiteren Ausbau bis zu einer Bevölkerungszahl von 60.000 bestimmt wurde.

Osborns Budi stellte gewisse Minimalforderungen für die Planung und den Ausbau neuer Städte. Seine Richtlinien wurden zum guten Teil von dem im Jahre 1946 im Parlamente angenommenen Städtebaugesetz (New Towns Act) übernommen. Osborn verlangt, daß eine neue Stadt „gerade nur so viele Einwohner haben dürfe, um eine gute industrielle Organisation und ein gediegenes Gemeinschaftsleben zu ermöglichen“; „das Stadtgebiet müsse in seiner Ausdehnung so begrenzt sein, daß die Bevölkerung bequem untergebracht werde und daß der Stadtraum von einer genug großen unverbauten Zone umgeben sei, um der Gegend einen ländlichen und sogar landwirtschaftlichen Charakter zu geben“. „Die Verwaltung sowohl der verbauten wie auch der unverbauten Zone sollte im Interesse des Gemeinwesens erfolgen.“ Das Gesetz trägt diesen Forderungen Rechnung. Die Bevölkerungshöchstzahl für die neuen Städte ist auf 60.000 angesetzt, eine Zahl, die man als ideal annimmt. Stadt und Land sind sowohl in bezug auf Verteilung von Industrie und Landwirtschaft, wie auch hinsichtlich des Bevölkerungszuwachses aneinander anzugleichen. Die bisher vom Parlamente beschlossenen Städteplanungen stützen sich auf bereits bestehende Ortschaften, deren derzeitige Bevölkerung von wenigen Tausend1 bis zu 25.000 schwankt. Meist handelt es sich, wie im Falle von Stevenage, Hemel Hempstead, Harlow und Crawley, um Orte, die ungefähr 25 bis 45 Kilometer von London entfernt und daher die „overspill"Bevölkerung aufzunehmen bestimmt sind. Eia gut ausgebauser Vororteverkehr der Eisenbahnen bringt täglich Tausende von diesen Orten zu ihren Arbeitsstätten in London. Der erste Schritt zu dem bereits im Zuge befindlichen Ausbau der angeführten Städte war die Bildung einer „Development Corporation“, einer öffentlichen Körperschaft, der zunächst die verwaltungstechnischen Arbeiten anvertraut sind. Wenn der Ausbau beendet ist, soll sie durch die übliche gewählte Stadtvertretung ersetzt werden Die Corporation funktioniert zunächst nur für bestimmte Aufgaben und setzt sich aus ernannten Mitgliedern zusammen. Die Regierung stellt die notwendigen Gelder zum Ankauf von Grund und zu Bauzwecken zur Verfügung. Die Beamten sind Staatsbeamte.

Die ersten Schritte zum Beginn der Planung begegneten besonders im Falle von Stevenage, das als erster zum Ausbau bestimmter Ort eine Art Versuchsstation darstellte, nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten Die zum Konservativismus geneigte Bevölkerung wehrte sich gegen den Ausbau und die damit verbundenen Maßnahmen, nicht zuletzt aus ideologischen Gründen: man hatte Sorge vor der Einmischung der öffentlichen Hand in das 'Wohnungswesen. Erst als das Oberhaus endgültig für di Regierung, beziehungsweise den Minister für, Planung entschied, legte sich die Opposition. Der Minister, beziehungsweise die Development Corporation haben denn auch von den ihnen gesetzlich gegebenen Vollmachten zur zwangsweisen Bodenerwerbung zu Ausbauzwecken bisher keinen Gebrauch gemacht. Alle Grundkäufe erfolgten im normalen Verhandlungswege gegen Bezahlung eines deflationierten Marktpreises

Eine vor kurzem in London abgehaltene internationale Ausstellung für Landschaftsplanung, an der zahlreiche kontinentale und überseeische Länder teilnahmen, gab einige interessante Hinweise auf die Richtung der zeitgenössischen Landschafts- und Städteplanung, besonders auch in England. Der moderne Städtebauer sieht vor allem die reichliche Anpflanzung von Baumgruppen und Einzelbäumen vor, die besonders in den Schwerindustriestädten Mittel- und Nordenglands so sehr fehlen. „Der Schrei nach mehr Grü n“, so möchte man es fast nennen, wird überall vernehmlich. Wo immer angängig, ist die Eingliederung bestehender Wasserläufe zur Auflockerung des Stadtgebildes vorgesehen. In diesem Zusammenhänge ist der Plan für Hemel Hempstead von Interesse, wo man im Stadtzentrum Wassergärten vorgesehen hat. In allen Neuplanungen ist die Einteilung des Stadtgebietes in sogenannte „neighbourhood units“, Nachbarschaften, von etwa 6000 bis 7000 Einwohner vorgesehen. Diese sollen ihre eigenen Schulen, Kirchen, Geschäftszentren, Kindergärten und vor allem auch ein Gemeinschaftszentrum erhalten. Das letztere soll dem sozialen Leben der „unit"dienen, und neben Bücherei, Vortragshallen, auch Klubräume und alles, was dem sozialen und kulturellen Leben nützlich sein kann, enthalten. Die Verwaltungsbehörden der Gesamtstadt sollen in einem besonderen Viertel, anschließend an die Hauptgeschäftsstraßen, ein Heim finden. Theater, Museum, Kunstgalerie, Vergnügungspark, alles ist vorgesehen.

Man darf nicht vergessen, daß die Ge- samtplanung bestehende Einrichtungen und Landschaftsbildungen berücksichtigen mußt So soll zum Beispiel in Stevenage 'did bestehende Stadt eine „Nachbarschaft“ füd sidi bilden, während der Jtovßlkerungs- jjuwachs in anderen Einheiten konzentriert werden wird. Andere Faktoren, die in die Pwnung mit hineinspielen, sind die Verfügbarkeit von Baumaterialien und Arbeitskräften an Ort und Stelle! Beide sind meist nicht vorhanden. Voraussetzung für den Beginn der Bauarbeiten ist daher deren Beschaffung und die Errichtung von Unterkünften für die Arbeitskräfte. So ist es begreiflich, daß die ersten Maßnahmen zur Durchführung des Bauprogramms kaum sichtbar sein können und dessen Vorbereitung geraume Zeit in Anspruch nimmt. Dazu kam die Drosselung jeder vermeidbaren Kapitalsaufwendung, bedingt durch die wirtschaftliche Zwangslage der Jahre 1946 47 und auch noch in diesem Jahre. Nun soll aber die Arbeit n)i"t aller Energie in Angriff genommen werden. In der Hauptphase des Baüprogramms sollen, zum Beispiel in Stevenage 5000 und anderenorts eine ähnliche Anzahl von Arbeitern eingesetzt wenden. Das Bauprogramm war ursprünglich für einen Zeitraum von zehn Jahren vor gesehen. Man kann aber wohl mit Sicherheit annehmen, daß nunmehr die doppelte Anzahl von Jahren benötigt werden wird, um den Gesamtplan zu verwirklichen.

Was immer man der Labourregierung nachsagen mag, die Planung und gesetzliche Sicherstellung des städtebaulichen Programms ist ein Verdienst, das ihr die Dankbarkeit des Landes sichern muß. In diesem großzügigen Maßstabe ist anderwärts eine moderne Städteplanung noch kaum erfolgt, mit der einzigen Ausnahme vielleicht von Sowjetrußland. Nun .vollzieht sich ein scharfer Bruch mit der Vergangenheit, mit ihrer Anhäufung von Steinschluchten und Massenquartieren und allem sozialen und sittlichen Elend jenes Großstadtwesens, das einer ungezügelten, von vielen üblen Trieben bestimmten Entwicklung überlassen war.

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