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Rettung vom Reich der Mitte?

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Die Präsentation eines neuen Bildbandes mit dem harmlosen Titel „Die Welt als Garten — China“ könnte zum Ausgangspunkt explosiver Überlegungen werden. Könnte, sollte, müßte — muß? — zum Anlaß eines Umdenkens in sehr konkreten, sehr gegenwärtigen, sehr hiesigen, österreichischen, nicht zuletzt Wiener, Angelegenheiten werden. Der Verfasser dieses Buches heißt Roland Rainer

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Die Präsentation eines neuen Bildbandes mit dem harmlosen Titel „Die Welt als Garten — China“ könnte zum Ausgangspunkt explosiver Überlegungen werden. Könnte, sollte, müßte — muß? — zum Anlaß eines Umdenkens in sehr konkreten, sehr gegenwärtigen, sehr hiesigen, österreichischen, nicht zuletzt Wiener, Angelegenheiten werden. Der Verfasser dieses Buches heißt Roland Rainer

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Obwohl der Professor für Architektur an der Wiener Akademie der Bildenden Künste und ehemalige Wiener Stadtplaner ein prächtiges, unter anderem mit 74 Farbtafeln nach eigenen Aufnahmen opulent ausgestattetes Opus vorgelegt hat, veranlaßte ihn keineswegs ein gegenwartferner Ästhetizismus, seine Kameras einzupacken und nach China zu reisen, um dort Gärten zu photo-graphieren, kleine und große Gärten, jahrhundertealte und ganz neue Gärten, kaiserliche Gärten und die gärtnerisch ausgestatteten Wohnhöfe kleiner Leute.

Im 20. Jahrhundert ist bekanntlich jeder Architekt von Bedeutung mehr als nur Baukünstler. In einer Epoche ohne allgemeinverbindliche Vorstellung davon, wie Menschen leben und zusammenleben sollen, muß zumindest er, der Architekt, eine Idealvorstellung vom Zusammenleben der Menschen haben. Anderenfalls ist er nicht in der Lage, die baulichen Vorkehrungen für ebendieses Zusammenleben zu treffen — und das ist schließlich sein Beruf, zumindest im Wohnbau und in der Stadtplanung. Der Pluralismus der Vorstellungen, denen die bedeutendsten Architekten dieses Jahrhunderts teils anhingen, teils anhängen, ändert daran nichts: Ein Architekt ohne eigenes Leitbild, ohne Vorstellung von der Gesellschaft, wie sie sein sollte, ist. in Gefahr, zum Erfüllungsgehilfen rein kommerzieller Interessen herabzusinken.

Roland Rainer ist im Wiener Rathaus Unperson, seit er als Stadtplaner seinen Abschied nahm, weil er keine Möglichkeit mehr sah, in dieser Funktion seine Vorstellungen, genug von seinen eigenen Vorstellungen, zu verwirklichen. Seine eigenen Vorstellungen stehen im krassen Gegensatz zu der in dieser Stadt betriebenen Wohnbaupolitik. Und zu einigen weitverbreiteten, offenbar nur mit größten Schwierigkeiten auszurottenden Vorurteilen.

Radner hat zwar unter anderem die Wiener Stadthalile, das Fernsehzentrum auf dem Küniglberg und andere Großprojekte geplant, aber sein Denken kreist unermüdlich um das Wohnhaus — und hier wiederum in erster Linie um Wohnformen, die dem Menschen den Kontakt mit der Natur erhalten oder zurückgeben. Er trat der zum Dogma erhobenen Meinung, großstädtische Viertel müßten in die Höhe gebaut werden, da die Großstädte sonst allzusehr in die Breite wachsen würden, bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Argumenten entgegen,die die Fürsprecher des Wohnhochhauses um so mehr erbosten, als es unmöglich war, sie zu widerlegen.

Schon damals, etwa in seinem Artikel „Das arme Land“ aus dem Jahre 1948 (!), beruft sich Rainer auf chi-. nesische Vorbilder, weist darauf hin, daß im dichtbesiedelten China die Menschen in ebenerdigen Häusern, daß auch in London und anderen westlichen Großstädten ein großer Teil der Einwohner in (zweigeschossigen) Einfamilienhäusern wohnt, ohne daß diese Städte ausufern. Denn je höher ein Haus, um so größer muß ja auch der Abstand zum Nachbarhaus sein. Überdies wird zwar beim Übergang von der ein-zur zweigeschossigen Bauweise bei gleicher Wohnfläche der Grundbedarf halbiert, baut man aber statt fünfgeschossiger zehngeschossige Wohnhäuser, spart man nur noch zehn, baut man statt zehngeschossiger 20geschossige, gar nur noch ganze fünf Prozent des Grundbedarfes gegenüber ebenerdigen Einfamilienhäusern. Wohnhochhäuser, dies eine zentrale, aber in Wien in Rathausnähe ungern gehörte These Rainers, nützen nicht dem Gemeinwohl, sondern einzig dem Interesse der Grundstücksspekulanten.

Ökonomisch und raumplanerisch unmöglich wäre es allerdings, für jeden Großstädter, der ein Einfamilienhaus seiner Stockwerkswohnung vorzöge, zum eigentlichen Baugrund auch noch 1000 Quadratmeter Garten bereitzustellen und dieses Grundstück auch noch aufzuschließen. Aber der Garten dient ohnehin in erster Linie dem Distanzbedürfnis der Menschen. Rainer wurde daher schon vor langer Zeit zum Theoretiker, Praktiker und Propheten des Atriumhauses, des intimen, sichtgeschützten, ganz oder teilweise von Wohnräumen umschlossenen Wohnhofes oder Innengartens, und der „füßläufigen“ Siedlung, deren Bewohner ihre Autos außerhalb der Siedlung abstellen und ihre Häuser auf schmalen Fußwegen erreichen.

Roland Rainer ist ein Zorniger — aus sehr verständlichen Gründen. In seinen Augen ist es Wahnwitz, wenn einerseits — Umfragen beweisen es immer wieder — immer mehr Menschen sich nach einem Eigenheim sehnen, anderseits aber eine Großstadt wie Wien, deren Bevölkerung eher ab- als zunimmt und die nur noch eine qualitative, aber längst keine quantitative Wohnungsnot mehr kennt, sich mit Haut und Haar dem Hochhaus verschreibt und die Bauihöhen wider alle Vernunft in die Höhe treibt. Siehe die neuen, noch höheren und noch häßlicheren Menschensilos an der Donaustadtstraße, siehe vor allem die babylonischen Türme von Alt-Erlaa. Niemals seit 1880 wurde in Wien der Bau von Ein-und Zweifamilienhäusern so vernachlässigt und auch das Wohnhaus mit drei bis zehn Wohnungen so zurückgedrängt, der Silo mit über 21 Wohnungen derart forciert wie jetzt.

Anderseits ergaben soziologische Untersuchungen in der von Rainer entworfenen Gartenstadt von Linz-Puchenau, daß die Menschen, die dort leben, nicht nur glücklicher und zufriedener sind. Diese Zufriedenheit drückt sich auch darin aus, daß sie einen wesentlich größeren Teil ihrer Freizeit zu Hause verbringen als die Bewohner von Stockwerkswohnungen. Das heißt: Eine Ausbreitung des Eigenheimes käme nicht nur den Wünschen eines großen Teiles der Bevölkerung entgegen, sie würde auch die „Freizeit-Mobilität“ verringern. Dies in einem Land, in dem gewisse Verkehrsadern an Feiertagen stärker belastet sind als werktags, dies aber vor allem auch in einer Stadt, in der eben jene Kreise, die auf der einen Seite das Wohnhochhaus forcieren, auf der anderen Seite die Verteufelung des auf diese Weise indirekt verstärkten Individualver-kehrs chic finden. Es ist eine Tragödie, daß ebendiese Stadt, Wien, nicht die Kraft zum überfälligen Umdenken in der Wohnungspolitik findet. (Oder stehen dem gewisse,nicht unbedingt privatwirtsohaft-liche Profitinteressen entgegen?)

Nun gelten aber heute chinesische Vorbilder als besonders attraktiv. Und gerade China lieferte dem Wiener Roland Rainer die Belege dafür, daß sich dieses sein Konzept eines platzsparenden und humanen Eigenheimes für viele, wenn nicht den Großteil der Großstädter, in der Praxis seit langem bewährt. Und dies in einer der volksreichsten Großstädte der Erde. In Peking leben heute rund acht Millionen Menschen — und der allergrößte Teil von ihnen genau so, wie es Rainer seit Jahrzehnten auch für unsere Großstädte vorschlägt. Nämlich in eingeschossigen Wohnhäusern mit gärtnerisch ausgestalteten Innenhöfen getreu der von Adolf Loos formulierten Devise, das Wohnhaus solle sich nach außen verschließen und seinen Reichtum im Inneren entfalten. Da diese Wohnform die Distan-zderungswünsche der Menschen mit geringem Platzbedarf erfüllt, ufert Peking trotzdem nicht aus. Dazu kommt, daß sich materieller Wohlstand in der chinesischen Gesellschaft traditionellerweise nicht in einem größeren, sondern in einem schöner ausgestatteten, bis in die Details mit großem Aufwand künstlerisch ausgestalteten Haus äußert.

Roland Rainer hat längst jenen „point of no return“ überschritten, jenseits dessen es dem Architekten nicht mehr möglich ist, sich auf von außen an ihn herantretende Aufgaben zu beschränken. Jenseits dieses Punktes steht der Architekt nicht mehr für im engeren Sinn baukünstlerische Ideen, sondern für ein, für sein Konzept von einem menschenwürdigen Zusammenleben. Das Atriumhaus in der „fußläufigen“ Siedlung, das ohne räumliche Explosion der Großstädte viel mehr Menschen als heute das Wohnen im Eigenheim mit Garten ermöglichen könnte, ist heute im Denken Rainers nur noch Teil eines Konzeptes von einer neuen Gesellschaft jenseits der großen Vergeudung.

Der Vegetation und vor allem den Bäumen in der Großstadt mißt er bereits in seiner vor der Chinareise erschienenen Publikation über „Lebensgerechte Außenräume“ größte Bedeutung bei. Sein eigenes, vor zehn Jahren errichtetes Haus wurde nicht nur aus Ziegeln von abgebrochenen Häusern gebaut, ein Teil des Wohnzimmers ist auch etwas erhöht, um zu verhindern, daß die Wurzeln einer bereits vorhandenen alten Linde geschädigt wurden.

Wenn Roland Rainer heute von seiner Angst angesichts der rasch fortschreitenden Zerstörung der biologischen und ökologischen Lebensgrundlagen durch die wirtschaftliche und technische Entwicklung spricht, ist das sehr ernst zu nehmen. Und man sollte keinesfalls die Möglichkeit von der Hand weisen, daß China nicht nur eine Wohnform, sondern tatsächlich Modelle für die Rettung der Menschheit (ein sehr großes, aber hier kein allzu großes Wort!) anzubieten hat. Denn die Souveränität, mit der das Reich der Mitte die Überlebensprobleme eines 800-Mil-lionen-Völkes auf engstem Raum (China ist etwa so groß wie die USA) tatsächlich zu meistern scheint, ist kein Produkt der letzten 20 Jahre — schon eher eines der letzten 20 Jahrhunderte.

Rainers Buch, optisch ein ganz großer Genuß, ein Spaziergang durch chinesische Gärten zum Sich-Verlieren für Stunden, hat textlich ganz anderes zu bieten. Nicht mehr und nicht weniger als: Ein abendländischer, im Geist der abendländischen Technik geschulter Architekt analysiert die Mittel, mit denen eine jahrtausendealte Kultur wohl schon in grauer Vorzeit die Probleme einer Bevölkerungsexplosion meisterte. Möglicherweise unterschied sich die Existenzkrise, in der, irgendwo in einem übervölkerten Teil des heutigen China, Menschen einst neue, ihrer Situation angepaßtere Formen des Zusammenlebens entwickelten, nicht allzusehr von unserer Krise der Gegenwart. Rainer geht bis in die Details der chinesischen Wirtschaftsweise, beschäftigt sich mit dem außerordentlich interessanten chinesischen Konzept eines biologischen Recycling — und mit der unerhörten Arbeitsintensität, auf der dieses System basiert — und die gerade uns sicher nicht schaden könnte.

Das Lemmings-Syndrom, die psychologischen Begleiterscheinungen der Übervölkerung, sind dabei nur eines der von China gelösten Probleme. Abschließend ein Zitat aus dem Buch zu diesem Thema: „Seit der noch vor wenigen Jahren kolportierte Trugschluß, eine geschützte Privatsphäre im Einfamilienhaus verhindere Kontakt und Kommunikation zwischen den Bürgern, durch Biologen, Verhaltensforscher und Wohnpsychologen... widerlegt ist, die festgestellt haben, daß der Mangel an Distanz oder Einengung des persönlichen Bereiches zu Aggressionen und sozialem Fehlverhalten führt, seit wir wissen, daß Nachbarschaft und persönliche Kontakte besser bei mäßiger als bei zu großer Dichte, besser über den Gartenzaun als im Aufzug gedeihen, könnten wir uns vielleicht vorstellen, daß die bekannte, immer wiedej beobachtete Geselligkeit der Chinesen unte'r anderem auch damit zusammenhängen kann, daß sie sich seit jeher des Schutzes eines unantastbaren, geräumigen privaten Lebensraums erfreuen.“

Über die ökologische Krise der Menschheit wurden in den letzten Jahren viele Bücher geschrieben. Nur wenige enthalten brauchbare Ansätze zu einer Lösung der Probleme. Dieses hier enthält möglicherweise mehr als nur Ansätze.

CHINA — DIE WELT ALS GARTEN. Von Roland Rainer. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz, 206 Seiten, davon 74 Farbtafeln, 68 Schwarzweißtafeln und zahlreiche Textillustrationen; Vorbestellpreis öS 680.—.

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