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Von der Qualität des Alltäglichen

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Vorarlbergs Beitrag zur Architektur der Gegenwart ist vor allem dem Thema Wohnbau gewidmet. Dieser Beitrag findet aufgrund seiner Qualität und Grundsätzlichkeit österreichweit und international große Beachtung. Warum diese Entwicklung gerade in Vorarlberg möglich wurde, ist für denjenigen schwierig zu beantworten, der diesen Prozeß persönlich mitträgt und mitgestaltet. Ich neige zum Urteil, daß eine vergleichbare Entwicklung überall in Österreich möglich wäre, wo eine kritische, mutige und engagierte Schar von Architekten sich weder resigniert der alles beherrschenden Baumaschinerie ergibt, noch als „unverstandene Künstler“ im Elfenbeinturm schmollt.

In Vorarlberg hat eine Gruppe jüngerer Architekten eine Arbeitswirklichkeit geschaffen, die den technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten sowie den gesellschaftlichen Notwendigkeiten angepaßt ist. Vorarlbergs Architektur ist eine (angewandte) Kunst zur Befriedigung tieferer Bedürfnisse und Sehnsüchte und zur Gestaltung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens. Ihr Bemühen hat dabei nicht nur platte Nützlichkeit zum Ziel, sondern Kultur und Schönheit als Qualität des Alltäglichen.

Dieses Vorarlberger Bauen schafft inhaltlich eine kleine Gegenwelt zu den Megatrends des international gleichen, alles dominierenden Baugeschehens. Thematisch wurden dabei jene Inhalte verarbeitet, welche die positiven gesellschaftlichen Ströme der Gegenwart (Ökologie-, Frauen-, Demokratiebewegung et cetera) für das Bauen zu fordern haben:

ökologische Verantwortung, Energieautarkie durch Sonneneinstrahlung, Rücksicht gegenüber regionalen Besonderheiten, Selbstbestimmung und

Beteiligung am Bauprozeß, kostengünstiges und platzsparendes Bauen, neue Formen des Zusammenlebens, konsumkritische Haltung, hohes Maß an Wohnlichkeit und physiologischer Verträglichkeit, Sanierung und Restaurierung des Altbestandes.

Diese Zielsetzungen entsprin gen unserer spezifischen gesellschaftlichen Situation am Ende des 20. Jahrhunderts. In Vorarlbergs neuer Baukunst sind sie verbunden mit traditionellen Architekturtugenden: klare Konstruktionen und Formen, solide Detailbewältigung, hohe Raumqualitäten und Wohnlichkeit sowie die Definition des jeweiligen Ortes. Begonnen hat alles vor dreißig Jahren, als etwa Purin und Wäger für Klein- und Mittelverdiener zum Preis üblicher Zwei- bis Dreizimmerwohnungen komplette Wohnhäuser geschaffen haben. Die Ergebnisse waren radikal in der Reduktion der Mittel und Formen. Die Bewohner, die mit eigenen Händen an der Errichtung beteiligt waren, haben die Häuser selbstbewußt demonstriert, als Ergebnis einer neuen Bau- und Lebenshaltung.

Als Reaktion auf den städtebaulichen Strukturverfall und eine perspektivelose Zersiedelung und getragen vom Bedürfnis nach neuen Gemeinschaftsformen, haben, angeleitet von oftmals selbst beteiligten Architekten (Eberle, Juen, Koch, Mittersteiner, Strieder), junge Familien im ganzen Land Reihenhäuser und Siedlungen gebaut.

Holz wurde zum Mittel disziplinierter Konstruktions- und Improvisationskunst, und im Verband mit großen, oftmals mehrgeschossigen Glasveranden konnte sich kaum jemand der Wohnlichkeit dieser Häuser entziehen. Weil die Holzbauformen — besonders außerhalb Vorarlbergs — einen nahezu exotischen Reiz ausübten, wurde Holz bald zum Synonym, aber auch zur vereinfachten Kurzformel für das neue Vorarlberger Bauen. Regionale Vorbilder und internationale Trends werden heute gleichermaßen verarbeitet, aber ohne die Tendenz zum vordergründigen Regionalismus und Postmodernismus.

Mehr von außen als von innen ist formal eine regionale Eigenart erkennbar, zunehmend mehr wird eine Formensprache variiert und individuell erweitert (etwa durch Hohenfellner, Kues und Ritsch). Einige Baukünstler haben ihren Arbeitseinstieg bei der Sanierung eines kulturträchtigen Bregenzerwald- oder Rheintalhauses gefunden. Damit wurden nicht nur wertvolle Althäuser einer ignoranten Zerstörung entrissen, sondern bewiesen, daß neue

Bedürfnisse und eine zeitgerechte Haltung alte Häuser in ihrem Ge- schichts- und Detailreichtum neu beleben. Im Bereich der Haussanierung sowie der Wohnungsgestaltung hat sich beispielsweise durch Holzmüller so etwas wie eine architektonische Kleinkunst entwickelt. Larsen wiederum baut und berechnet Häuser, deren notwendige Wärme zu 70 Prozent die Sonne liefert.

Das Einfamilienhaus hat inzwischen als notwendiges persönliches Gestaltungs- und Entwicklungsfeld der angeführten Ideen an Bedeutung verloren. Es gibt auch verantwortungsvollere Siedlungskonzepte: Aufgrund genossenschaftlich organisierter Gemeinschaftsarbeit werden heute bei Siedlungen Baukosten und Mehrwertsteuer gespart. Beim F. M. Felderhof haben Gnai- ger und Schweitzer Mietwohnungen mit der traditionellen Überlegenheit des Einfamilienhauses verbunden.

Entstanden ist ein öko-sozialer Wohnbau mit privaten Gärten und Wohnungseingängen, Glasveranden, Bastei- und Lagerräumen, Holzschuppen und Kaminanschlüssen in jeder Wohnung. Den sichtbaren Qualitäten, den rechenbaren Vorteilen und den im Wohnbau gewonnenen Erfahrungen können sich auf Dauer auch andere Bauträger nicht entziehen.

Der Einfluß und die Bedeutung dieser „Bauschule“ nimmt in Vorarlberg ständig zu. Es wäre falsch zu glauben, dieses Land würde nicht wie jedes andere durch ein gedankenloses, technokratisches und kurzsichtig kommerzorientiertes Bauen dominiert. Aber dieses bekommt in Vorarlberg einen kräftigen Widerpart. Kultur nicht als Feierabendereignis, sondern als Alltagsgeschehen schafft eine Verbindung zwischen der Volksarchitektur, die ständig provinzieller und kleingeistiger zu werden droht, und der Hochkultur der Experten, die überall immer mehr Bodenkontakt verliert: Architektur als Angebot nicht nur für Kunstsinnige und Inhaber großer Brieftaschen, sondern für jeden Aufgeschlossenen mit üblichen menschlichen Bedürfnissen. Erstaunlicherweise ist das Ergebnis künstlerisch.

Der Autor arbeitet als Architekt in Vorarlberg, hält einschlägige Seminare und Vorträge und gestaltet arcmtekturkritische Beiträge für den ORF.

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