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Ordnung in eine chaotische Welt

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ARCHITEKTUR IST ORDNUNG. Hauptinstrument der Architektur ist der Maßstab. Seit fast eineinhalb Jahrhunderten aber schafft Architektur Unordnung, denn sie arbeitet entweder mit gar keinem oder nur mit falschen Maßstäben. Das zeigt uns zur Genüge das berühmte Chaos, in dem wir leben: von einer gebauten Umwelt des Menschen kann man schon längst nicht mehr sprechen — höchstens von einer „verbauten“. Unerbittlich entlarvt die Luftaufnahme den Skandal unserer heutigen, aber auch schon der gestrigen und vorgestrigen Siedlungen:

„Historische Städte“, die hinter mehr oder weniger glanzvoll gewesenen Fassaden Hinterhöfe und Lichtschächte — “richtiger sollten sie „Dunkelschächte“ heißen — verfallende Stöckelanbauten, stinkende Müllkübel, Tbc und Rachitis verbergen.

Sogenannte „moderne Citys“, wilde Ausbrüche der Bodenspekulation, deren zur Schau getragene Dynamik ebensoviel menschliches Elend schafft wie der langsame Verfall altehrwürdiger europäischer Viertel.

Hier wie dort, in den Hinterhöfen von Paris oder London wie in den Schluchten von Manhattan, schütteln Menschen ungläubig den Kopf, wenn sie durch den Lautsprecher des allgegenwärtigen Radios ihres Nachbarn die schnatternde Stimme eines Professors hören, der gravitätisch verkündet: „Architektur ist Ordnung.“

Das nämlich,was für ihre Vorfahren Ordnung war, ist für sie zur quälenden Unordnung geworden. Man hat ihnen Waschmaschinen, Hubschrauber, elektronische Gehirnlappen, Fernschreiber und ferngesteuerte Rasenmäher geschenkt — aber man zwingt sie, in Städten zu wohnen, die nach den Maßstäben der Zeit der Nachtwächter und Sänftenträger gebaut wurden. Noch ärger: man baut ihnen immer noch neue Städte, die nach den gleichen Maßstäben „geordnet“ sind. Zwischen dem Maßstab, den man z. B. in der Pariser Altstadt vorfindet, und demjenigen der dem Rasterarnerikanischef Städte .wie New.York oder Buenos Aires zugrunde liegt, gibt es nämlich keinen wesentlichen Unterschied: ein engmaschiges Netz von Straßen, auf denen der Strom der Autos nur zähflüssig-lärmend an den Häusern vorbeistrudelt, schnürt die Behausungen der Menschen ein. Und das wiederholt sich nicht nur kilometer-, sondern Dutzende von Kilometern weit. Was jahrtausendealte Tradition vereinigt hat: Haus und Straße muß getrennt werden. Vor allem aber muß der Maßstab, nach dem die Riesensiedlungen unserer Zeit geordnet sind, einen radikalen Wechsel erfahren: erst dann wird das Verhältnis des Städters zu seiner Umgebung saniert werden. Die Maßstäbe nämlich, die wir von der Vergangenheit ererbt haben, stellten eine organische Verbindung her zwischen dem einzelnen und sozialen Größenordnungen, die es überhaupt nicht mehr gibt: entweder zwischen dem einzelnen und einer Gemeinschaft, die zahlenmäßig überschaubar und in deren Rahmen er ein „Gesicht“ blieb, oder, wie in der Barockzeit, zwischen der Stadt, dem Land und der sie erhaltenden mythischen Persönlichkeit des Herrschers.

Das ganze Werk Le Corbusiers ist der Erstellung eines solchen zeitgerechten Maßstabes gewidmet.

1914 MELDETE IM PARISER PATENTAMT ein junger Mann namens Charles Edouard Jeanneret ein neues Konstruktionssystem an. Dieses System, als „Dominohaus“ bezeichnet, sah vor, daß der Architekt, war sein Plan einmal festgelegt, zunächst nichts anderes zu tun hatte, als ein paar saubere Betonwürfel ausführen zu lassen, die den Bau tragen würden. Standardisierte Decken-, Träger- und Stiegenelemente bestellte er dann von einer Fabrik, die sie serienmäßig erzeugte und auch die Montage auf der Baustelle besorgte. Erst als dieses Gerippe aufgestellt war, griff der Architekt wieder ein, für die Gestaltung der „Schale“, die um das Skelett gespannt werden mußte, sowie für die Inneneinrichtung.

Diese neue Arbeitseinteilung und die Verlegung eines großen Teiles der Konstruktionsarbeiten von der Baustelle in die Fabrik bedeutete aber keine Bevormundung des Architekten. Im Gegenteil, abgesehen davon, daß dieser mit einer bisher unbekannten Sicherheit rechnen konnte (denn die Standardisierung der wesentlichsten Bauelemente schaltet die sonst bei der Ausführung auf der Baustelle unvermeidlichen Unregelmäßigkeiten -aus), wurde ihm für die Lösung seiner eigentlichen Aufgabe, nämlich für die Organisation des Hauskörpers in funktioneller und in plastischer Hinsicht, eine beispiellose .Freiheit gewährt. Dadurch nämlich, daß tragende Wände und Mauern durch einige wenige Betonpfeiler ersetzt werden, die ein Minimum an Platz einnehmen und dazu unabhängig von der Fassade sind, verfügt der Architekt praktisch über die ganze Decken- und Fassadenfläche: befreit vom Zwang der starren, tragenden Mauern, kann er den Grundriß frei nach den Bedürfnissen des Menschen gestalten.

Eigentlich war diese Möglichkeit, durch Anwendung des Betons den verfügbaren Raum fast völlig frei zu machen, schon längst erkannt worden. Auguste Perret, bei dem Jeanneret 1907 in die Lehre gegangen war, hatte schon 1903 am Wohnhaus der Rue Franklin davon Gebrauch gemacht: „Offener Grundriß“ und Glaswand erscheinen dort als Folgen einer konsequenten architektonischen Anwendung der Betonkonstruktion, die vollständige Trennung von Skelett und Schale erlaubt.

Es hatte also nichts wesentlich Originelles an sich, das schon so glänzend erprobte Stahlbetonskelett an einem bescheidenen Einfamilienhaus anzuwenden, man durfte sich sogar fragen, ob es nicht Verschwendung der Mittel war, denn der Beton schien sich eher für die Lösung konstruktiv schwieriger Probleme zu eignen. Die revolutionäre Neuheit des Systems liegt aber im Gedanken, durch Standardisierung der Elemente dieses Skelett zum Prinzip einer serienmäßigen Erzeugung von Häusern zu machen. Die Freiheit, die der Beton für die Grundriß- und Fassadengestaltung gewährt, hatten Jeannerets Lehrer und Vorläufer, insbesondere Perret, erkannt und ausgenützt, nicht aber seine Eignung zur fabriksm.äßigen Produktion standardisierter Elemente. In dieser Erkenntnis aber, die in der unscheinbaren „Domino“struktur ihren ersten Ausdruck gefunden hat, können wir den Ausgangspunkt der Ueberlegungen und Versuche erblicken, die Le Corbusier — unter diesem Namen, dgm Namen seiner Mutter, ist Charles-Edouard Jeanneret -berühmt geworden — zum größten Neuerer der modernen Architektur gemacht haben. Daher kommt dem Dominosystem entscheidende Bedeutung zu.

IN DER STANDARDISIERUNG UND INDUSTRIALISIERUNG der wichtigsten Bauelemente sieht zunächst Le Corbusier ein Mittel, das Bauen rationeller zu gestalten und zu beschleunigen. Denn darauf kommt es heute an, möglichst rasch und möglichst billig möglichst viele Häuser zu produzieren. Das Bauen steht im 20. Jahrhundert unter dem doppelten Zeicher der Massennachfrage und der Dringlichkeit.

Um diesen neuartigen, vom menschlichen Standpunkt aus bestürzenden Dingen zu entsprechen, muß der Baumeister nach den für unsere Zivilisation maßgebenden Produktionsmethoden greifen, das Bauen dem handwerksmäßigen Betrieb, in dem es seit den Aegyptern steckt, entreißen und an die technischen und wirtschaftlichen Forderungen unserer Zeit anpassen, will die Architektur ihre dringende soziale Aufgabe erfüllen.

Diese Gedankengänge, die heute selbstverständlich erscheinen, waren 1914 revolutionär. Der Sinn für die sozialen und technischen Bindungen der Baukunst war nur noch bei einigen wenigen, viel gelästerten Außenseitern lebendig, in Oesterreich etwa bei Adolf Loos, bei Peter Behrens und Gropius in Deutschland, bei Tony Garnier oder Perret in Frankreich, die sich auch als erste mit dem Fragenkomplex „Architektur und Industrie“ beschäftigt hatten. Wenn diese Pioniere sich aber auch um die Schaffung einer architektonischen Ordnung in der Industrie große Verdienste erwarben, so waren sie doch nicht — mit Ausnahme von Tony Garnier — zum Gedanken vorgedrungen, die industrielle Ordnung in die Architektur einzuführen.

Industrielle Ordnung? Der Ausdruck klingt paradox. Er umreißt aber genau den Kern des von Le Corbusier im „Domino “patent zum erstenmal skizzierten, dann aber von ihm zu einer neuen Philosophie der Baukunst entwickelten System der „Standards“ und weist auf die wahre Bedeutung hin, die er der „Standardisierung“ beimißt. Diese Bedeutung ist nämlich nicht rein technisch-wirtschaftlicher, sondern geistiger und sozialer Natur. Standard ist für Le Corbusier die moderne Form der Norm, der Regel: richtig gehandhabt, ist er ein unvergleichlicher Faktor der Einheit und der Harmonie. Der durch Normalisierung der wichtigsten Bauelemente geschaffene Maßstab gibt die Gewähr, daß die Kompositionen, die sich aus deren Kombinationen ergeben, Ordnung aufweisen werden. — Ordnung aber ist das, was die Massenarchitektur, die wir zu schaffen haben, am dringendsten braucht: Ordnung allein, eine lebendige, aus dem Menschen heraus entwickelte Ordnung kann dessen Freiheit retten. (

Es ist aber kein Widerspruch, daß diese rein menschliche Ordnung von Formen herkommt, die von der Maschine erzeugt werden: drückt sich doch heute der Mensch in der Welt der Formen viel weniger durch das Werk seiner Hände als durch die Produkte seiner Maschinen aus. Sie sind die Mittel einer neuen Sprache, in denen nun wieder der Mensch selbst sich heute ausdrückt.

Diese Betonung der Ordnung und dieser Ruf nach einer auf Ordnung beruhenden Architektur muten vollkommen „klassisch“ an. Man könnte sogar sagen, daß in dieser neuen Klassik die Standards die Funktion übernehmen, die die „Ordnungen“ in der historischen Klassik erfüllten: Sie geben der Verbindung des Menschen mit seiner Produktion einen Maßstab. Der „Modulor“, den Le Corbusier nach jahrelangen Versuchen 1948 herausgebracht hat, ist letzten Endes nichts anderes als die Maßskala, die er unserer Kultur mitgeben möchte, um ihr ein Zurückfinden zur Ordnung im Geist der Klassik zu erleichtern. In nuce ist er aber schon in den „Standards“ des Dominosystems enthalten.

Eine Rückkehr zur Ordnung im Geist der Klassik, aber gegen die Formen des Klassizismus. „Die Architektur hat mit Stilen nichts zu tun“, wird später einmal Le Corbusier schreiben. Die Einheit der Formen, die Voraussetzung des Stils ist, werden v/ir erst dann wieder erreichen, wenn wir den Stilen den Rücken kehren.

Aus dem „Domino“patent lassen sich also folgende Grundthesen herausarbeiten, in denen die Bedingungen zusammengefaßt sind, unter denen eine neue, lebendige architektonische Ordnung entstehen kann:

1. Die wichtigsten Bauelemente — Träger, Stiegen, Decken, Türen, Fenster, Einbauschränke — müssen in industriellem Verfahren erzeugt werden. ,

2. Die Maßnormen dieser Produktion sollen so definiert werden, daß sie für die architektonische Gestaltung Freiheit in der Einheit gewähren.

3. Jedem Bauproblem kann infolgedessen und soll eine „offene“ Lösung gegeben werden, das heißt, in der getroffenen Lösung soll die restlose Integration des Baues in seine natürliche Umgebung — Landschaft oder Siedlung — gegeben sein.

TROTZ ALLER SCHEINBAREN SPRUNG-HAFTIGKEIT — Le Corbusier schreitet von Intuition zu Intuition vor —, trotz aller vermeintlichen Widersprüche, die man in seinen Versuchen feststellen will und die nur die Vielseitigkeit der mit der strengsten Methode geführten Analyse eines unerhört schwierigen und verwickelten Fragenkomplexes spiegeln, ist Le Corbusiers Weg, vom „Domino“patent bis zur vierzig Jahre später fertiggestellten „Wohneinheit“ von Marseille, erstaunlich gerade und übersichtlich. Das Haus in Marseille wurde als erstes großes architektonisches Werk ganz nach dem Modulor berechnet. Den Modulor Le Corbusier als das Handinstrument einer neuen Klassik auf. Und es gibt wirklich nichts Klassischeres als die Wohneinheit am Boulevard Michelet, wenn man „Klassik“ nicht als R e-pertoire von Formen und Maßen, sondern als Sinn für die angemessene Form versteht. .

Die traditionellen Maßeinheiten und „Ordnungen“ stellten eine harmonische Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und den Ausmaßen der alten Siedlungen, Bauten und Gebrauchsgegenstände her. In der zeitgenössischen Zivilisation aber, deren Städte, Maschinen und Geräte völlig neue Raum- und Zeitdimensionen schaffen, sind sie nicht mehr brauchbar: ihre endlose Wiederholung wirkt erdrückend, ihre Steigerung emphatisch und verlogen. Durch Schaffung eines völlig neuen, allumfassenden Maßsystems, durch Aufgabe des Stockwerkmaßstabes in der Fassadengestaltung, noch mehr aber durch einen unerhört sicheren Instinkt für die Proportionen hat Le Corbusier seinen Riesenbauten jede Spur erdrückender Schwere genommen und sie zu Musterbeispielen klassischen Maßes gemacht, das mit der unmenschlichen Unordnung so mancher zeitgenössischer pseudomoderner Bauten scharf kontrastiert. Mehr noch als sein Lehrer Perret erscheint Le Corbusier als der reinste Vertreter der französischen Tradition, in deren höchsten Schöpfungen Logik und Lyrik eins werden im Zeichen des Dienstes am Menschen.

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