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Experimentierfeld oder Jahrmarkt der Eitelkeiten ?

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Seit ihrem Bestehen sind die Weltausstellungen zum großen Experimentierfeld der Architektur geworden. Entscheidende Impulse sind von ihnen ausgegangen, die für die Entwicklung der modernen Baukonstruktionen, für die Gestaltung dessen, was allgemein als „moderne Architektur“ — im Gegensatz zur historisierenden des vorigen Jahrhunderts - bezeichnet wird, von oft nicht abzusehender Bedeutung wurden. Fast jede Weltausstellung hatte ihre bauliche „Sensation“ — allerdings eine echte Sensation im Sinne einer weit in die Zukunft weisenden Ausschöpfung konstruktiver Möglichkeiten, die den ästhetischen Reiz der neuen Konstruktionen in großem Maßstab demonstrierten.

Schon die erste Weltausstellung macht in dieser Beziehung einen großartigen Anfang: Pax-tons Kristallpalast auf der Londoner Ausstellung 1851 war in einer Zeit, die eben den Klassizismus zugunsten eines allgemeinen Eklektizismus — die beide auf dem Prinzip des Mauermassenbaues beruhten — aufgegeben hatte, eine solche Sensation: die Auflösung der Baumasse in zarte Konstruktionselemente aus Eisen und Stahl (damals noch mit weitestgehender Verwendung von Gußeisen) und mit einer Flächenfüllung aus Glas in Dimensionen, die die damalige Welt in Erstaunen versetzte.

Die Pariser Weltausstellung von 1879 hatte ebenfalls zwei solche Sensationen aufzuweisen: den Eiffelturm (errichtet erst einige Jahre nach Vollendung der großen Oper in Paris, eines klassischen Beispiels der eklektizistischen Periode), mit einer konstruktiven Kühnheit und einer architektonischen Eleganz, daß dieses höchste Bauwerk in Europa schlechthin zum Wahrzeichen von Paris wurde; und die großartige „halle des machines“ in Fachwerkkonstruktion, so hoch wie das Mittelschiff der Kathedrale von Amiens, aber zehnmal so breit (ein Bau, der bedauerlicherweise abgerissen wurde; er hätte unter Denkmalschutz gestellt werden müssen).

II. -

Diese Bauwerke waren nicht ausschließlich vom technischen Standpunkte aus interessant. Man darf nicht vergessen, daß von ihnen nicht nur eine völlige Revolutionierung auch der übrigen bildenden Künste ihren Anfang nahm, sondern daß sie praktisch ein neues Sehen einleiteten, das das perspektivische Sehen, das seit der Renaissance die bildenden Künste beherrschte, entthronte. Durch die Transparenz ihrer räumlichen Begrenzung, durch das Erlebnis der Durchdringung von außen und innen, von oben und unten wird der Grundstein zum Kubismus gelegt, der die Objekte von einem veränderlichen Standpunkt betrachtet und transparent sieht. Guilleaume Apollinaire hat bereits 1910 auf diese Zusammenhänge hingewiesen, und Siegfried G i e d i o n hat sie in seinem Werk „Space, Time and Architecture“ eingehend untersucht.

Auf der Weltausstellung Barcelona 1929 war es der deutsche Pavillon, der das neue Bauen in einer bis dahin nicht erreichten Form dokumentierte und der eine für die Architekturentwicklung entscheidende Phase in Europa einleitete, nachdem in Amerika Frank Llyod Wright die Entwicklung vorbereitet hatte. Dieser Pavillon — einer, der edelsten Bauten, der je auf einer Ausstellung errichtet wurde — manifestierte mit einer seltenen Klarheit die Tendenzen der modernen Architektur: konstruktiv das Prinzip der großen Kragplatte auf zartesten Stützen; die grundsätzliche Trennung von Tragkonstruktion und Raumabschluß; die Preisgabe der Raumfolge eines Baues zugunsten der Raumdurchdringung; die Verschmelzung von Innenraum und Außenraum usw. Es war das erste Beispiel, daß ein Land auf einer Weltausstellung großartig repräsentiert sein kann, ohne einen einzigen Gegenstand auszustellen — nur durch die geistige Ausstrahlung eines kleinen Baues.

III.

Betrachtet man die Brüsseler Weltausstellung unter diesem kritischen Aspekt, so muß man die Frage, ob sie ähnliche in die Zukunft weisende Bauten aufzuweisen hat — trotz hervorragender Einzelleistungen — mit einem klaren Nein beantworten.

Das „Atomium“, das als Wahrzeichen der Ausstellung errichtet wurde, ist mehr als Effekt zu werten denn als „Bau“. Im Gesamtbild der Stadt spielt es in keiner Weise die Rolle wie etwa der Eiffelturm in Paris und besticht nur von der Nähe durch seine Dimensionen und seine zweifellos geschickte technische Durchführung.

Das Gesamtbild der Ausstellung bietet jedoch wertvolle Erkenntnisse für die Entwicklung der Architektur und der konstruktiven Möglichkeiten, die sich etwa folgendermaßen zusammenfassen lassen:

1. Die Entwicklung der Architektur geht zweifellos von der kristallin-kubischen Form des rationalen Bauens in eine Phase der plastischen Gestaltung der Baukörper über, basierend auf der Ausschöpfung neuer konstruktiver Ideen. Die Ausstellung zeigt jedoch mit zwingender Deutlichkeit, daß der Kulminationspunkt der „plastischen Entwicklung“ bereits überschritten ist und die Architektur Gefahr läuft, ins Absurde abzugleiten. Die plastische Gestaltung ist an das Einzelobjekt gebunden oder zumindest auf wenige Objekte beschränkt. Corbusiers Wallfahrtskirche Ronchamps ist großartig in ihrer isolierten Plastizität. Treten solche Bauten in größerer Menge nebeneinander auf, werden sie unerträglich — der zivilisierte Mensch braucht das Ordinatensys'-em der Vertikalen und Horizontalen als Ordnungselemente seiner baulichen Umgebung, wenn er nicht völlig in einer Architektur, von „Haden“ jede Beziehung zum „Raum“ verlieren will.

2. Das Konstruktionsprinzip des modernen Skelettbaues mit Stütze und Balken bzw. Stütze und Platte wird weitgehend abgelöst durch Hängekonstruktionen —/ ein Bau5ystem, das durch Jahrzehnte nur den “roßen Brückenkonstruktionen der Hängebrücken vorbehalten war. findet nun Anwendung auf große aufgehängte Dachplatten, Bai-lachine, Stege usw. Die Schwerelosigkeit des oberen Raumabschlusses whJ hierdurch weiter gesteigert, der

Laie merkt praktisch nichts mehr von Stützen, sondern sieht nur noch riesige, über ihm hängende Platten.

3. Bei großen Hallenbauten hat' sich eine neue Konstruktion„ die in der Fachliteratur als das „hängende Dach“ bezeichnet wird, überraschend schnell allgemein durchgesetzt. Hierdurch wird der „Zeltbau“ in Schalenbeton zu der baukünstlerisch vielleicht typischesten Bauform der Gegenwart. Daß sich diese Konstruktionsform sowohl architektonisch als auch durch ihren Symbolgehalt für moderne Sakralbauten hervorragend eignet, zeigt deutlich die Kirche des vatikanischen Pavillons. Auch zahlreiche Ausstellungspavillons zeigen das „hängende Dach“; in größter Dimension der französische Pavillon — ein Bau, der genial konzipiert ist als ein auf einer Mittelstütze und zwei bzw. drei Kragarmen hängenden Dachkonstruktion —, in der Durchführung allerdings — leider — mißglückt erscheint, da er dem Laien in keiner Weise die Bauidee vermittelt. Wenn er so ausgeführt worden wäre, wie er im Entwurfsmodell dargestellt war, wäre er zweifellos einer der eindrucksvollsten Pavillons geworden. Durch die Ausbildung der Fassade in einem Rohrfachwerk ergibt sich eine Zurschaustellung subalterner technischer Details, die verwirrend wirkt und auch bei rein technischen Bauten längst überwunden ist.

4. Allgemein herrscht die Tendenz vor, die bereits weitgehend erreichte Leichtigkeit der Konstruktion noch mehr zu steigern. Der riesige Rundbau des amerikanischen Pavillons ist ähnlich wie das Speichenrad eines Fahrrades konstruiert. Das Dach hängt auf „Drahtspeichen“ um eine mittlere Nabe, die zarten Außenstützen sind im Innenraum kaum sichtbar, so daß ein Eindruck völliger Schwerelosigkeit entsteht. Die stark kunstgewerblich betonte Fassade des Rundbaues zerstört allerdings wieder die straffe Wirkung. Von den USA hätte man sich eher eine der herrlichen filigranen Raumfachwerkkonstruktionen gewünscht, wie sie etwa Konrad Wachsmann für seine großen Hallenbauten für die amerikanische Luftwaffe entwickelt hat.

Mit ähnlichen, technisch und baukünstlerisch großartigen Hallenkonstruktionen hätte Italien durch eine Halle aus Betonfertigteilen, wie sie Pier Luigi Nervi entwickelte, aufwarten können. Anscheinend als Protest gegen das Protzentum der Technik, das auf dieser Weltausstellung häufig wie ein Alpdruck den Besucher verfolgt, errichtete Italien einen konstruktiv einfachen Pavillon in Ziegelbau, dessen Ehrenhalle allerdings von einer Schönheit ist, wie sie nur wenige Räume der Frührenaissance aufzuweisen haben.

IV.

Angesichts der häufig ans Akrobatische erinnernden Auswertung der Technik erfreuen jene Pavillons, die die Horizontale und Vertikale als Kompositionsprinzip beibehalten haben, wie die Pavillons von Oesterreich, Deutschland, Jugoslawien, Norwegen, Holland usw. Besonders nobel der deutsche Pavillon — vor allem am Abend — in seiner Transparenz der Flächen und Farben und seiner großartigen Differenzierung der horizontalen und vertikalen Elemente in Verbindung mit einer auf einer riesigen Stahlnadel aufgehängten Zugangsbrücke. . Eine weitere Tatsache, die in Brüssel besonders auffällt, ist, daß es nur wenigen Staaten gelungen ist, eine Einheit von Architektur und Ausstellung im Sinne einer modernen Ausstellungstechnik zu erzielen. Im besonderen ist dies nur den kleinen Nationen gelungen, die die kulturelle Mission ihrer Länder in den Vordergrund stellen, wie Oesterreich, Norwegen, Finnland, Jugoslawien, Israel u. a. Bei den Großmächten werden bedauerlicherweise die Pavillons häufig zum Tummelplatz und damit zum Jahrmarkt technischer Eitelkeiten.

Begrüßenswert erscheinen die Versuche einiger Staaten, traditionelle Bauformen und nationale Eigenheiten ins Moderne zu transponieren, ohne ins Sentimentale oder Triviale abzugleiten.

Eine besonders gelungene Arbeit in dieser Beziehung ist der türkische Pavillon, der überdies in hervorragender Weise die islamitische Ornamentik als Steinmosaik in eine moderne malerisch-abstrakte Komposition überträgt.

Ebenso ist der japanische Pavillon ein Beispiel, daß es möglich ist, zu einer Synthese von nationaler Tradition und moderner Technik zu gelangen.

Ein besonderes Lob gebührt den belgischen Veranstaltern für die städtebauliche Aufschließung des herrlichen, über der Stadt gelegenen parkartigen Ausstellungsgeländes. Es war Vorbedingung, daß der alte Baumbestand restlos erhalten bleibt, wodurch sich häufig eine prächtige Verbindung von Bau und Natur ergab, die zu einer starken Differenzierung in der Komposition der Baukörper zwang, wie beim schweizerischen und deutschen Pavillon.

Trotz der unerhörten Fülle von Ideen, die auf der, Weltausstellung Brüssel bauliche Gestalt angenommen haben, verläßt man sie mit der bedauerlichen Feststellung, daß wir von einem einheitlichen Stil, wie er in der Frühzeit der modernen Architektur sich verheißungsvoll abzeichnete, weiter entfernt sind als etwa vor dreißig Jahren. Vielleicht hat keine Weltausstellung bisher mit solcher Eindringlichkeit gezeigt, wie sehr die Technik zur Versuchung des modernen Menschen geworden ist. Und man freut sich, daß — ausgerechnet — am deutschen Pavillon der Satz steht: „Der Mensch darf nicht alles t u n, was er kann.“ Was zweifellos auch für die Baukunst der Gegenwart gilt.

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