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ATMENDER STEIN

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Zs den Symptomen, die ein Anpeilen unseres geistigen Standortes erlauben, gehört, daß die Vorliebe unserer Väter für die Gotik allmählich vom Hang zur romanischen Kunst abgelöst wird. Dieser Vorgang reiht sich ein in den allgemeinen Zug unserer Zeit zum Archaischen hin, der auch auf mannigfachen anderen Gebieten festzustellen ist. In der französischen Malerei des 17. Jahrhunderts beispielsweise stehen uns heute die bäurisch-schweren Figuren eines Georges de la Tour näher als die höfische Szenerie Poussins; ihr Zusammenschluß in elementare Kuben nimmt für unser Gefühl bereits das Menschenbild eines, Barlach oder Henry Moore voraus. In der griechischen Plastik etwa hat sich unsere1 Vorliebe längst von der hochklassischen Periode, die noch für einen Jakob Burckhardt im Mittelpunkt stand, den strengen Jünglingsfiguren des 6. Jahrhunderts zugewandt und sucht nun rückwärts in Richtung der auf geometrische Grundformen reduzierten kykladischen Idole. Dieselbe Tendenz macht sich auch vor Werken der Musik und der Dichtung bemerkbar.

Es ist üblich geworden, in solchen Tendenzen eine Abkehr vom christlich-humanistischen Erbe des Abendlandes zu erblicken. Nahrung fand diese Interpretation darin, daß etwa die Neuentdeckung der Romanik von Proklamationen begleitet wurde, die selbst in diese Richtung zielten. Aufschlußreich dafür ist das Werk von Hans Henny Jahnn, der ja für einen Teil der deutschsprachigen Geistigkeit seit Jahren die Rolle des umraunten „Alten vom Berge" spielt. Sein Romanwerk ist durchzogen von einer wilden Polemik gegen die Gotik, der er die Romanik — und zwar insbesondere die Kuppelkirchen von Zentralfrankreich — als die wahre Baukunst entgegenhält. In seinem Hauptwerk „Die Aufzeichnungen des Gustav Anias Horn“ (Willi Weismann, München 1951) stellt er die These auf, „daß die romanischen Kirchen die letzten heidnischen Bauten unseres Erdteils“ seien und die gotischen die ersten christlichen. Der Uebergang von der Romanik zur Gotik ist für Jahnn „eine Wandlung der Einstellung zur Schöpfung“: „Die Gotiker haben den Sieg über die Baukunst davongetragen. Seitdem die Verhöhnung der Materie vom Stein ertragen wurde, sind nur noch wenige Architekten erstanden, die sich ein höheres Ziel gesetzt haben als das der Raumgestaltung ... Die Baukunst ist eine Kunst der Masse. Jedes Bauwerk ist eine Höhle — erhöhlter Stein. Der Atem des Steines ist die Gravitation. Wird dem Stein der Atem genommen und der Raum an sich geschaffen, entsteht die Kulisse. Die gotischen Kathedralen sind großartige Kulissen, fast unbegrenzte Räume, in denen sich das Auge an bunten Glaswänden stößt — es würde sonst in die Auflösung der Helligkeit eingehen. Sie sind die Vorläufer der Eisenkonstruktion. Die romanischen Bauten, die alten Kirchen in Grusien, Georgien und Armenien, sind anderen Geistes, sind vom Geiste des Steins. In ihnen sind die Gewißheiten der wirklichen Welt.“

Nun, ein christlicher Dichter wie Bergengruen hat das Gedicht von der „Steinblüte“ geschrieben, in dem der Stein wie bei Jahnn atmet. Die Thesen Jahnns ruhen einer vom Protestantismus bedingten Sicht des Christentums auf. Im Künstlerischen kann man seiner Analyse zu-

stimmen. Für die Generation unserer Väter war die gotische Kathedrale mit ihrer Auflösung des Steinkubus in eine Dynamik von Funktionen, waren das Porösmachen des Steines durch das Licht und die Auflösung der Mauer in Scheiben Inbegriff einer „geistigen“ Kunst. Geist wurde dort fraglos als Gegensatz zur Materie aufgefaßt. Heute, nachdem die Folgen des allzu selbstherrlichen Umspringens mit der Materie sichtbarer geworden sind, fällt so unbeschwertes Ausgreifen nicht mehr leicht. Wir sind demütiger geworden. Aber die Rückkehr zur „Unversehrtheit“ des Steins in der Romanik ist keine Rückkehr zur bloßen Materie im Sinne des 19. Jahrhunderts. Es steht vielmehr eine gewandelte Auffassung des Geistes hinter dieser Wendung. Geist wird nicht mehr als Gegensatz zur Materie begriffen, sondern vielmehr in der Verschränkung mit der Materie auf gesucht. Stein ist kein totes Ding mehr, das durch seine Auflösung vergeistigt werden muß — Stein atmet und gebiert die Formen aus sich selbst.

Wer in dieser Wendung jedoch eine Abkehr vom Christentum sehen will, übersieht die parallel laufende Rückbesinnung auf das vorrefor- matorische Christentum des Mittelalters, die nicht nur innerhalb des Katholizismus festzustellen ist. (Hat nicht sogar der „dualistischeste“

unter den lebenden Christen, Karl Barth, sich in einem versteckten Winkel seiner vielbändigen Dogmatik ernsthaft mit der Frage beschäftigt, ob die Sterne eine Seele haben?) In jener Zeit, der in der Architektur bereits die zister- ziensische Reform ein Ende,7 setzte, hatte die christliche Lehre die heidnische Welt noch in sich einbezogen und unterlag damit weniger den spiritualistischen Versuchungen.

Wie sehr sich die Rückwendung zur Romanik gerade innerhalb entschiedener christlicher Geistigkeit zu vollziehen vermag, zeigt auch das bisher am größten angelegte publizistische Unternehmen dieser Art. Wir meinen das umfassende Korpus der romanischen Architektur, welches ein französisches Kloster aufzubauen begonnen hat. In Frankreich mußte ein solches Unternehmen wohl ansetzen. Bei allem Reichtum Italiens und Deutschlands an vorgotischer

Architektur liegt doch der Herzraum der Romanik zwischen Autun, Poitiers und Arles. An Bildbänden über die romanischen Kirchen dieses Raumes — weltliche Architektur aus jener Zeit ist wenig erhalten — fehlt es nun allerdings nicht. Es handelt sich aber bisher dabei stets um Monographien über einzelne besonders bekannte Bauten oder dann um Gesamtübersichten mit all ihrer Zufälligkeit und Gewaltsamkeit in der Auswahl.

Seit drei Jahren nun erscheint eine Buchreihe, „La Nuit des Temps“ (Nacht der Zeiten), die als'ein in Wort und Bild gleich gründliches Korpus der französischen Romanik angelegt ist (und in diesem Herbst sich auch auf außerfranzösische Gebiete zu erstrecken beginnt). Herausgegeben wird die Reihe in der Abtei Sainte- Marie de la Pierre-qui-Vire im Departement Yonne. Das von Dom Angelico Surchamp im Schoße dieses Benediktinerklosters geleitete „Atelier du Coeur-Meurtry“ und dessen Verlag „Zodiaque“ (Auslieferung durch den Verlag Achille Weber, Paris) bilden eines der wenigen kulturellen Zentren der Provinz, das neben der alles an sich raffenden Hauptstadt sich eine eigene Ausstrahlung hat schaffen können. Bis zum Erscheinen der genannten Reihe war diese klösterliche Arbeitsgemeinschaft vor allem durch ihre kühnen Versuche bekanntgeworden, die moderne Kunst mit dem katholischen Kultus zu versöhnen. Was da etwa an neuen Bibelillustrationen oder an liturgischem Gerät entworfen wurde, hält den Vergleich mit den kühnsten Vorstößen in den Nachbarländern aus — und ist zugleich wie diese von der Problematik aller sakralen Kunst in unserer Zeit berührt.

Ungeteilten Beifall hat jedoch die Buchreihe „Nacht der Zeiten" gefunden. Sie handelt übrigens nicht ausschließlich von der Romanik. Zwei Bände sind als „Schwelle“ gedacht. Ein Band, „L’Art Gaulois“ (Gallische Kunst, 1956) von Andrė Varagnac, führt von den jungsteinzeitlichen Megalithbauten der Bretagne bis zum Germaneneinbruch. Ein in Vorbereitung befindlicher Band über die merowingische und karolingische Kunst Frankreichs wird die Brücke von der gallischen Frühzeit zur Romanik schlagen. Alle übrigen Bände aber werden das große

Korpus der Romanik ausmachen. Jeder von ihnen behandelt eine einzelne Landschaft. Für ganz Frankreich sind rund zwanzig Bände vorgesehen. Davon sind bisher sechs erschienen: 1955 „Bourgogne Romane“ und „Auvergne Romane“, 1956 „Val de Loire Roman“ (der jedoch nur das obere Loiretal von Gien bis Tours umfaßt), 1957 „Poitou Roman“ und „Touraine Romane“, 195 8 „Roussillon Roman“. Ein der Schweiz gewidmeter Band, „Suisse Romane“, ist vor kurzem erschienen, mit dem sich die Reihe nun auch an die Erfassung der benachbarten Länder macht.

Jeder dieser Bände ist von einer Arbeitsgemeinschaft besonderer (und zwar weltlicher wie geistlicher) Kenner der jeweiligen Region geschrieben und die Photographien wurden fast ausnahmslos unter einheitlichen Gesichtspunkten neu aufgenommen (teils vom Atelier selbst, teils von Berufsphotographen). Die durchschnittlich 250 Seiten starken, soliden Ganzleinenbände von erschwinglichem Preis (zwischen 22 und 32 DM) lassen sich leicht zum Objekt mitnehmen. Ihre Typographie ist von der durch keine Bauhauspedanterie vergrämten Witzigkeit, wie sie die besten französischen Drucke und Plakate auszeichnet. Vor allem aber bietet jeder Band wirklich eine Essenz der geschilderten Kunstlandschaft.

Natürlich kann nicht jeder einzelne romanische Bau einer solchen Landschaft im Bilde wiedergegeben werden. Allein eine Provinz, wie das Poitou, umfaßt auf der ungefähren Fläche Kärntens an die 120 Sakralbauten, die ganz oder teilweise romanischen Stils sind. Die Reihe „La Nuit des Temps“ hat jedoch einen raffinierten Ritus ausgeklügelt, der die einzelnen Bände zu wirklichen Handbüchern der betreffenden Region macht. Das Prinzip ist, in ein weitmaschiges Gesamtbild jeweils sechs bis acht detailfreudige Monographien der wichtigsten Bauten der Provinz einzufügen. Typographisch wird dabei säuberlich zwischen drei Textschichten geschieden: lyrische Evokation (aus mönchischer Feder) — wissenschaftliche Synthese — Materialien.

Um beim Beispiel des Poitou zu bleiben, sieht das praktisch so aus: Auf eine poetische Anrufung der Landschaft folgen zwei Uebersichten aus Gelehrtenhand sowie eine Karte, aus deren differenzierten ..jngeJtjJ genau abzulesen ist, wo eine vollständige romanische (ir,che und, »yo nur ein Turm oder eine Krypta dieses Stils zu finden ist. Hierauf werden 47 Kirchen des Poitou in Kurzbeschreibungen vorgestellt. Den Hauptteil des Buches bilden Monographien der sechs schönsten Bauwerke: Saint-Hilaire und Notre- Dame-la-Grande in Poitiers, Chauvigny, Saint- Savin mit dem berühmtesten romanischen Freskenzyklus Frankreichs, Saint-Jouin und Aulnay. Und diese Monographien haben wiederum ihren Ritus: auf die kurze lyrische Anrufung („Von ferne gleicht Saint-Jouin auf seiner Anhöhe droben einem Schiff, das die Anker löst ...“) und die kunstgeschichtliche Deutung des Baues folgen seine genaue Beschreibung in Form eines Ganges durch und um das Gebäude, Grundrisse und Aufrisse, eine Geschichte der Kirche, eine Zusammenstellung der archäologischen Befunde und zuletzt sogar eine Aufstellung der genauen Metermaße. Englische und deutsche Zusammenfassungen des französischen Textes finden sich am Schlüsse des Bandes.

Ein besonderes Lob verdienen die Abbildungen, die jeweils ein gutes Drittel der Bände ausmachen. Es sind keine von jenen in der florie- ’ renden Bildbuchindustrie so beliebten Licht- Schatten-Kompositionen, welche die Architektur in unbestimmte Gefühligkeit auflösen — nein, sie ordnen sich dem Objekt unter und suchen Bau, Plastik und Fresken ohne „filmische“ Dramatisierung wiederzugeben. Und mit Farbtafeln wird glücklicherweise sparsam umgegangen. Sie geben nicht mehr, als eine Farbphotographie heute in der Druckwiedergabe an Sachbezeichnung leisten kann. Das muß betont werden, nachdem große Kunstverlage richtige Fälscherwerkstätten eingerichtet haben, in denen die Farben für die Bilderbücher auf den besten Druckeffekt in kaltem Anilinglanze hin präpariert werden.

In einer Zeit, in der der Büchermarkt von hastig geschmierten Vulgarisierungen überschwemmt wird, zeigt die Buchreihe des Klosters Sainte-Marie de la Pierre-qui-Vire, daß man die notwendige Bestandaufnahme des bedrohten Erbes durchführen kann, ohne das lebendige Kunstwerk unter Katalogstaub verschwinden zu lassen. Es dürfte schwer halten, in der deutschsprachigen Buchproduktion der letzten Jahre eine ähnlich geglückte Verbindung von wissenschaftlichem Kompendium und Vergegenwärtigung des Vergangenen zu finden. Daß ihr Gegenstand die Romanik ist, dürfte kein Zufall sein.

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