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Pole deutscher Geistigkeit des 19. Jahrhunderts

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Im letzten Kriege proklamierte das Regime einen „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften”. Auch diese sollten also an der totalen Mobilmachung teilnehmen. 1943, 1944 begannen die ersten Publikationen — zu gewichtigeren, großen Veröffentlichungen ist es nicht mehr gekommen. Inzwischen war aber bereits 1941 in München im Verlag des Deutschschweizers Ernst Reinhardt ein Werk erschienen, das ein Ruhmesblatt deutscher Geistforschung und objektivier Wissenschaft darstellt, das Werk von Alfred v. Ma r t i n „N ietzsche undBurckhardt — zwei geistige Welten im Dialo g”. 1 9 4 5 kam es in dritter, veränderter und vermehrter Auflage in der Basler Zweigniederlassung desselben Verlages heraus und ist bis heute eines der wenigen Werke geblieben, das an die konkreten geistigen Wurzeln jener Erschütterungen heranführt, denen die deutsche Seele und der deutsche Geist im Spannungsraum der letztenjahr- hunderts ausgesetzt waren. Denn: Jakob Burck- hardt, der Senior der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, und Friedrich Nietzsche, der Wetterhahn aller Stürme des fin de siede und darüber hinaus, erscheinen hier nicht bloß als mit hoher Objektivität und tiefspürenden Einfühlungsgabe erfaßte, sdiarfprofilierte Repräsentanten zweier immanenter Entwicklungstendenzen innerhalb der Geistigkeit und Wissenschaft ihrer Epoche. Nietzsche und Burckhardt siind vielmehr gleichzeitig personale Symbole, die in Berührung und Abstoßung, Anziehung und Entfernung die große Wende eines Zeitalters anzeigen. Beide stammen aus artverwandten Bildungsräumen, dies; beiden großen Einsamen, die verschwistert sand in ihrer Neigung zu Kunst und Wissenschaft. In beiden fließt eine klassische und eine romantische Ader, steht anlagemäßig Zucht und Disziplin der abendländischen Ratio und Sehnsucht und Sentiment unerfüllter seelischer Potenzen. Mehrmals berühren sich die beiden Großen in Gesichtspunkten ihres Geschichtsbildes — und doch gehen ihre Wege immer weiter auseinander. Burckhardt vollendet sich, sein Werk und seine Persönlichkeit als größter Heiimholer der gesamteuropäischen Tra1 dition in das Wissen und Erfahren des modernen Menschen — er ist der Mann, dessen Auge den Sieg furchtbarer Zukunftsmächte sieht, an deren Spitze als Führet jene schrecklichen Vereinfacher aller Dinge stehen, die dem Leben seine Buntheit und Schönheit, seine Freiheit und Menschenwürde rauben werden. Nietzsche vollendet sich, sein Werk und seine Persönlichkeit, in der Zerstörung der großeuropäischen Tradition, in der Lästerung und Auflösung der tausendjährigen Ehe eines antikischen Humanismus mit dem Christentum. Sein Geschichtsbild dient einer radikalen revolutionären Reduktion und Destruktion: durch die Verneinung der christlich-humanistischen Vergangenheit, durch die Darstellung der Antike als eines feuerspeienden Vulkans will er Land gewinnen für seinen Übermenschen, den Zwingherrn der Zukunft, in dem der kranke Träumer den neuen Heiligen eines erneuerten Kosmos sieht. Wo wurzelt nun dieses so augenfällige und folgenschwere Auseinandergehen der beeiden Basler Professoren? A. v. Martin führt in seiner sorgfältigen Untersuchung ein wichtiges soziologisches Signum ein. „Burckhardt und Nietzsche vertreten zwei einander schlechthin entgegengesetzte Typen: der eine den bodenständigen Bürgerhumanismus, der andere den freien, das heißt freischwebenden Literatenhumanismus.” Nietzsche als „Typ der völlig entwurzelten Intelligenz” erscheint demnach als Wegbereiter jener Intelligenz (wie heute die westliche Soziologie, einen Begriff der östlichen Welt übernehmend, sagt) jener Schicht intellektueller Proletarier, das heißt ständig, geistig und seelisch ortlos gewordener Menschen, denen eine Führungsrolle bei allen den großen Umwälzungen unserer Zeit zufällt. Zu Trotzki, bis zu Göbbels und manch anderem Propagandachef des Umbruchs zieht sich über Evola und Mussolini hier geradewegs eine Linie, die von dem deutschen Pastorensohn und Professor ausgeht, der die Deutschen, die Pastoren und Professoren mit Haß und Spott sondergleichen übergossen hat — im Jahrhundert Schleiermachers und Harnacks, Liebigs und Virchows, Rankes und Mommsens. Im Jahrhundert, das den Triumph pastoral-professo- naler Kultur zu verwirklichen schien. — Burckhardt, der große Antipode Nietzsches, hat fredich nie an diesen Triumph geglaubt. Es blieb ihm deshalb auch erspart, ein Lästerer seiner Zeit zu werden. Auch er sieht, wie sein Kollege Nietzsche, die tiefen’Wunden seiner Gegenwart und die Gefahren der Zukunft. Noch einmal scheiden sich jedoch hier, an entscheidender Stelle, die Geister und ihre Wege. Durch Forschung, Besprechung, weise Mahnung heilen will Burckhardt, durch Proklamation noch tiefer aufreißen und anklagen will Nietzsche.

Unmöglich, den Reichtum des Werkes v. Martins hier in allen Einzęlbezūgen aufzuzeigen. Hier muß die Anzeige genügen: Nietzsche und Burckhardt zusammen bilden den Januskopf der großen deutschen Forschung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert: in Vergangenheit und Zukunft äugend, ist sie bestrebt, in ersterer die verräterischen Spuren der letzteren zu erspähen. Sie ist dem Leben und seiner Sicherung zugewandt und zugleich dem Tod, der Zerstörung, deren Wüten sie auch nicht in Erscheinung und Werk ihrer hervorragendsten Vertreter zu bannen weiß.

Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch. Von Julius Pokorny. Verlag A. Franke A. G., Bern. Für Österreich: Humboldt-Verlag, Wien. Erste Lieferung.

Man hat die Entdeckung der indogermanischen Sprach- und Völkerverwandtschaft als die bedeutendste Tat der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert gepriesen. (So Hermann Güntert.) Der Entdeckung würdig ist der Fortschritt, den die indogermanische Sprachwissenschaft und die von ihr befruchteten Nachbardisziplinen seither genommen haben. Die Ursprache der indogermanischen Völker ist seit Jahrtausenden verklungen. Aber weniger als hundert Jahre, nach Bopps grundlegenden Feststellungen, lagen die ersten Wörterbücher vor, die aus der Vergleichung der lebenden indogermanischen Sprachen den Grundbestand an Wörtern (beziehungsweise Wurzeln) der verklungenen Ursprache mit Sicherheit erschlossen; mit umfassender Gelehrsamkeit begann Alois Walde nach 1923, den Ertrag der Forschung dreier Gelehrtengenerationen in die Scheuern seines „Vergleichenden Wörterbuchs der indogermanischen Sprachen” einzufahren. Er starb vor der Vollendung. Julius Pokorny, von Fachgelehrten aller Sparten unterstützt, führte Sen großen Wurf mit nicht weniger tiefgründigem und umfassendem Wissen, aber streng im Geiste Waldes und in der noch von ihm getroffenen Ordnung zu Ende. Nachdem der alte „Walde- Pokorny” vergriffen ist, legt er nun ein eigenes, in Anordnung und Darstellung von dem älteren Werk abweichendes „Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch” vor. Der Ordnung der Wörter, beziehungsweise Wurzeln nach dem europäischen Alphabet wird man ebenso zustimmen wie dem Bestreben des Verfassers, gegenüber bloßen Wurzelgleichungen nach Möglichkeit Wortgleichungen in den Vordergrund zu stellen. Weniger Behagen erweckt die Ankündigung, daß durch Weglassung „überflüssiger Ableitungen in den klassischen und germanischen Sprachen” Raum für Einarbeitung minder bekannten Stoffes gewonnen werden soll (das 1923 noch nicht voll erschlossene Hethitische und Tocharische soll nach dem Stand der Veröffentlichungen bis Ende 1947 in die Darstellung hineingenommen werden). Nach der als Probe vorgelegten, friedensmäßig gediegen ausgestatteten ersten Lieferung zu schließen, könnte der Druckanordnung eingebracht werden. Diese Lieferung enthält übrigens unter anderem die Ableitung des Landesnamens Österreich, über althochdeutsch östar-richi, zu althochdeutsch östar „östlich”, germanisch — auströ (aus älterem ansos), indogermanische Wurzel aues „leuchten”, besonders vom Tagesanbruch zu der aus den bekannten Sprachen noch lateinisch aurora „Morgenröte” und griechisch-homerisch gehören.

Daß ein Wiener Verlag die östereichiscbe Lizenzausgabe dieses Standwerfces der allgemeinen Sprachwissenschaft herausbringt, ist ein Ehrentitel des sich auf seine Überlieferungen und Weltverpflichtungen besinnenden österreichischen Verlagswesens. Möchte es uns vergönnt sein, in der für die geplanten zehn Lieferungen vorgesehenen Zeit den Abschluß dieses großen Werkes bewundernswerter Gelehrsamkeit zu erleben, zu dessen Schaffung Julius Pokorny wie kein zweiter berufen ist.

Rainer Maria Rilke. Von Fritz Klatt. Amandus-Edition, 1948.

Wenn sich das vorliegende Buch die erste vollständige Rilke-Biographie nennt, so kann das wohl nur in einem materiell-quantitativen Sinn gemeint sein, indem ungefähr alles, was Rilke angeht, zur Sprache kommt; sicher mit einem „hohen Maß von Einfühlung, Verehrung und Ehrfurcht für den Dichter”. Leider aber ist das Buch nicht ebenso angemessen nach der qualitativen Seite hin durchgearbeitet, wie es die Tiefe Rilkes verlangen würde. Biographische Daten mischen sich mit Deutungen des Werkes und so kommen weder die Biographie noch die Deutung auf ihre Rechnung. Es sind oft sehr feine psychologische Erkenntnisse des Menschen Rilke niede’rgelegt, doch muß man immer wieder bedauern, daß sie an der Oberfäche haftend bleiben. Ebenso sind die mit großer Einfühlung gegebenen Interpretationen des- dichterischen Werkes im Ansatz steckengeblieben. Was Carossa zu diesem Buch geschrieben hat, ist richtig: daß nämlich, wer dem Dichter überhaupt noch ferne steht, sich keine bessere Führung wählen kann; doch gibt es dieser Art von Rilke-Literatur nicht bereits genug, wenn nicht gar zuviel? Wohl aber mag man unter dieser dem Namen Fritz Klatts einen besonderen Platz einräumen.

Provenęalisches Tagebuch. Von Leopold Lente r. Mit Zeichnungen von Arnulf Neu- wirth. Verlag J. L. Bondi, Wien. 100 Seiten.

Nach jedem der letzten großen Kriege erlebte die Literatur der Reiseschiiderungen eine Renaissance. Verständlicher Reflex nach Jahren der Abschnürung und Beengung, des Hasses und der Unduldsamkeit: das innere und äußere Auge will sich wieder weiten, will bunte Bilder, Falter des Fernen und Unbekannten sehen. Auch die Gegenwart steht in dieser organischen Erbfolge. Allenthalben sprießen kulturgeographische und länderkundliche Neuerscheinungen empor. Da liegt nun ein kleines, vom Verlag sorgfältig ausgestattetes Geschenkbändchen auf unserem Tisch, Leopold Lentners „Provenęalisches Tagebuch”. In flottem Erzählerton berichtet es von Land und Leuten, Geschautem und Gedachtem in der Provence, in jener Kulturwiege des neueren Europas, das Ur-, beziehungsweise Wahlheimat so vieler eigenwilliger, ruh- und rastloser Geister wurde. Von Lyon führt der Weg des Wanderers nach Avignon, der Stadt der Päpste und Maler, ins Ruinenfeld von Arles, nach Marseille, in die . kleinen, halbtoten Fischerstädte am Golf du Lion. Seltsame Landschaft, verhangen in seine tragische Vergangenheit, verschwebend in einem sonnüberfluteten harten Alltag. Diese Atmo- späre wird außerordentlich stark lebendig in den vierzehn Zeichnungen Arnulf Neuwirths, die, ein Musterbeispiel eigenständiger Buchgraphik, dem scįmucken Bändchen einen eigenen Reiz schenken.

Der Knecht. Volks- und Lebenskunde eines Berufstandes im Oberpinzgau. Von Josef Walleitner. Verlag O. Müller, Salzburg.

Diese „Volks- und Lebenskur.de eines Berufsstandes” durchzieht bei aller wissenschaftlichen Sachlichkeit ein gefühlswarmer, lebensnaher Ton. Das Leben und das Milieu des ländlichen Dienstboten wird von allen Seiten — vom Knecht, vom Bauern und von der Landschaft her — beleuchtet und so ein bei aller Gedrängtheit umfassendes Bild aufgebaut. Zwar ist die sachliche, engere Grundlage für die Erhebungen des Verfassers der Oberpinzgau, ein Bergbauern, und Almengebiet im Lande Salzburg, aber viele Ergebnisse dieser sozialen Volkskunde treffen ebensogut auch auf die meisten anderen Landschaften Österreichs zu. Doch der Verfasser bleibt nicht bei der bloßen Volkskunde stehen; er sucht und weist auch Wege, die die soziale Seite des Knechtlebens bessern und damit diesen selber fester an seine Landheimat binden. Die vielen ganzseitigen Photos beleben das kleine, gut ausgescattete Werk sehr ansprechend. Im ganzen liegt damit eia anregende und erfreuliche Einführung in einen bisher fast unbeachteten Berufsstand vor. Franz Braumann.

Die Amnestie. Erzählung von W. A. Oerley. Wiener Verlag. Der Verfasser schildert in diesem Buch das Schicksal eines Menschen, der mit dem Totalitätsanspruch der Politik, der in Zeiten erbitterter Kämpfe kein Beiseitestehen gestattet, in Konflikt gerät. Der unheldische Held der Erzählung kann schlechthin als die tragische Gestalt des Zeitgeschehens bezeichnet werden, weil er, behaftet mit Fehlern und Schwächen, wie sie nun einmal einem Menschen von Fleisch und Blut zu eigen sind, infolge des inneren Zwiespalts zwischen Kopf und Herz, das heißt wegen des Widerstreits zwischen Neigung und Erkenntnis, den harten, zeitbedingten Forderungen nicht gewachsen ist und deshalb daran zerbrechen muß. Die äußeren Ereignisse, der Freiheitskampf Jugoslawiens, geben dieser allgemeingültigen Tragödie einen wirkungsvollen Hintergrund. Lebendige Milieuschilderungen und eine Reihe gut gezeichneter Gestalten in charakteristischen Episoden vermitteln ein anschauliches Bild Kroatiens in jenen Tagen. Alfred Buttlar-Moscon.

Salzburger Musikbücherei. Die Herausgeber dieser Sammlung (Verlag O. Müller, Salzburg) wollen sich nicht damit begnügen, die Ausgaben barocker Spielmusik durch eine weitere zu vermehren, sondern möchten barockes Musiiziergut für die heutige Kammer- und Hausmusik neu erschließen. Dies geschieht durch moderne, gefällige und der modernen Spielpraxis entspre chende Ausgaben. Von den 14 vorgesehenen Heften, welche auch Zeitgenössisches, das aus volkstümlicher Wurzel kommt, umfassen sollen, sind bisher vier Zyklen erschienen. Leopold Mozarts Notenbuch für Wolfgang Amadeus wird in zwei Ausgaben vorgelegt: für Klavier und für Stroichtrio. Von G. Ph. Telemann wurden unter dem Titel „D i e güldene Zeit” 14 Lieder für Singstimme und Guitarre ausgewählt; die „Alt wiener Kon- t r e t ä n z e” sind für zwei Geigen und ein Baßinstrument bearbeitet. — Sämtliche bisher erschienenen Hefte machen einen guten, gediegenen Eindruck. Dies Urteil muß deshalb mit Vorbehalt ausgesprochen werden, weil es dem Rezensenten nicht möglich war, Spielproben zu hören und das Lesen von zwei der besprochenen Sammlungen wegen des Fehlens der Partituren erschwert wird.

Muß ich Vermögensabgabe zahlen? Von Dr. H. C. Emmer - Reissig. Im Selbstverlag, Wien 1948. 95 Seiten, broschiert, S 8.—.

Diese Broschüre will dem Leser eine praktische Hilfe und ein Ratgeber bei der Beurteilung aller Fragen sein, die mit der Ausfüllung der Erklärungen für die Vermögenszuwachsabgabe, die Vermögensabgabe und die Vermögenssteuer 1948 in Zusammenhang stehen. In Frage und Antwort werden dem Leser sämtliche wesentlichen Bestimmungen der einschlägigen Gesetze in kurzer Form erläutert und die dem Steuerpflichtigen sich bietenden Vorteile in allgemeinverständlicher Weise, ohne lange theoretische Ausführungen aufgezeigt. Die Broschüre ist nicht als Komentar für den Fachmann bestimmt, sondern will ein praktischer Helfer sein. Es wurde deshalb bewußt von erschöpfenden Spezialdarstellungen und der Klärung von solchen Zweifelsfragen Abstand genommen, die nicht von allgemeiner Bedeutung sind. Zweifelsfragen einfacherer Art wurden an Hand gutgewählter und einfacher Beispiele gelöst. Im Anhang wurde der Gesetzestext der Vermögenszuwachsabgabe und der Vermögensabgabe auf genommen. Die schon erschienenen Durchführungsverordnungen konnten nicht mehr zum Abdruck gelangen, und es muß diessbezüglich auf das Bundesgesetzblatt vom 19. Oktober 1948, Nr. 202 und’203, verwiesen werden. Ein kurzes Stichworteverzeichnis erleichtert die Benutzung.

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