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Europas „echter“ gemeinsamer Markt

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KULTURGESCHICHTE FRANKREICHS. Stefan Suchanek-Fröhlich. Kröner-Ta-arhenausgabe, Stuttgart, 1966. 358 Seiten. DM 22.—.

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KULTURGESCHICHTE FRANKREICHS. Stefan Suchanek-Fröhlich. Kröner-Ta-arhenausgabe, Stuttgart, 1966. 358 Seiten. DM 22.—.

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Mit Recht betont der Klappentext des Bandes die „jahrzehntelange und gewissenhafte Forscher- und Sammeltätigkeit“, aus der diese „Kulturgeschichte Frankreichs“ entstanden ist und die ihr Sachlichkeit und Übersichtlichkeit sichert Es ist darüber hinaus nicht unwichtig zu wissen, daß der Autor „seine Jugend bei seinen französischen Großeltern in den Vogesen erlebte“, Romanistik studierte, über Barrls und den Regionatiismus dissertierte und sich später mehrmals in Frankreich aufhielt, um seine Forschungen zu vervollkommnen. Die 800 Seiten dieses Buches verraten eine profunde Kenntnis und eine nicht weniger tiefe Sympathie für dieses Land. Nicht zuletzt klingen die erfahrungsreichen und gedrängten Erklärungen des Vorwortes beinahe wie ein Bekenntnis zum französischen Humanismus. Nicht Ohne Freude und innere Zustimmung liest der Franzose, daß zum Beispiel der Geist seiner Kultur nicht einseitig und monolithisch ist, sondern die Verschiedenartigkeit und Komplexität eines durch Jahrhunderte hindurch langsam ausfwachsenden, andere Zivilisationen assimilierenden, echt europäischen Phänomens, mit all seinen Nuancen und Schattierungen darstellt. „In den meisten Versuchen, den französischen Charakter zu erklären, wird das rationale Element stark hervorgehoben und dem angeblich irrationalen deutschen Wesen gegenübergestellt. Leider sind solche Deutungen sehr problematisch, denn man kann ohne Schwierigkeit dieselben Gegensätze im französischen Volk selbst finden. Gegensatzpaare, wie Montaigne-Rabelais, Descartes-Pascal, Corneille-Racine, Voltaire-Rousseau, beweisen, wie mannigfaltig das französische Wesen ist und wie unmöglich es ist, es auf eine einzige Formel zu bringen.“ (XII) Ähnliche, ebenso aufschlußreiche Gegensatzpaare charakterisieren die französische Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts: lebt nämlich der Rationalismus und der Geist der Enzyklopädie im Positivismus und Szientismus eines A. Comte, eines Taine, eines Littre weiter, so stellt man gleichzeitig in der französischen Romantik, besonders in den Werken der sogenannten „kleinen“ Romantiker u. a. Aloysius Bertrand (606), Gefühlswerte, Inspiration und Irrationalität fest, die der deutschen Romantik eigen sind. Unleugbar ist darüber hinaus, auf dem Gebiet des reinen Denkens und der Philosophie, das Vorhandensein einer spiritualistischen beziehungsweise nicht kartesianischen Tendenz — von Maine de Biran, Ballanche, Blanc de Saint Bonnet, Laberthonniere, Edouard Le Roy, Blondel, Bergson vertreten —, die den schöpferischen Subjektivismus einer Existenzphilosophie vorausahnen läßt (667.) Mauraas ist Peguys Zeitgenosse (664, 700, 712), Alain und Valery (711) sind ebenso repräsentative Exponenten des französischen Geistes wie Claudel und G. Marcel (711, 713).

Der Autor hat diese Kontinuierlichkeit der Gegensätze, diese Homogenität in der Komplexität sehr übersichtlich dargelegt. Jedes Kapitel des Buches, das die großen, traditionellen Abschnitte — von dem keltischen Gallien an bis zur Gegenwart — behandelt, wird in der gleichen Reihenfolge geordnet: politisches, wirtschaftliches und soziales Leben, kulturelle Entwicklung in der Literatur, in der Kunst und in der Musik, in der Wissenschaft und in der Philosophie werden geschildert sowie die parallele manchmal krisenhafte, fast immer mit der philosophischen Entwicklung, oft auch mit dem politischen und soziologischen Geschehen verwobene Präsenz der religiösen Faktoren und der kirchlichen Institutionen eingehend analysiert. Querschnitte können somit, an Hand eines ausgezeichneten, ausführlichen Sach- und Namensregisters (771/816), zu chronologisch komplementären Längsschnitten umgeformt werden, die erlauben, den ganzen historischen Verlauf von bestimmten Kulturerscheinungen durch alle Kapitel des Buches zu verfolgen. Wenn man endlich die reichhaltige Bibliographie erwähnt (761/770), die zu jeder Epoche die zuverlässige Sekundärliteratur deutscher und französischer Zunge, auch jüngeren Datums, verzeichnet, dann kann der Leser sicher sein, mit dem Buch von Suchanek-Fröhlich ein Werk in der Hand zu haben, das das menschenmögliche Maximum an Seriosität und Zuverlässigkeit in einem so gedrängten Umfang bietet. Am besten gelungen scheinen die Seiten zu sein, die der Autor jenen Perioden widmet, die er durch persönliche Quellenforschung oder unmittelbare Zeugnisse kennt (zum Beispiel 1890/1914), oder noch — und dies in allen Perioden — die Abschnitte, die, die Ideengeschichte und -entwicklung behandelnd, Schmelztiegel und Schrittmacher von politischen Ereignissen beziehungsweise Revolutionen (410/433) darstellen.

Ebensowenig wie das Buch selbst kann eine Rezension auf alle Einzelheiten eingehen. Es sie hier jedoch erlaubt, einige Auslassungen oder Ungenauigkeiten zu vermerken, die leicht zu korrigieren wären. Zahlreiche Druckfehler (594: phantastique; 625: Societe Generale, 1964; 631: Hommais; 635: Madame Flaubert; 680, 813: Valodon; 775: Bergson, 621/7, usw.) wird eine zweite Auflage ausmerzen können. Ein paar wichtige Namen könnten darüber hinaus sowohl im Text selbst als auch im Register ihren Platz finden: so zum Beispiel Abbe Bremond, Ch. du Bos, Ballanche, Bachelard, G. Charpen-tier, Duc d'Enghien, M. R. Delalande, Ed. Lalo, J. M. Leclair, Pater Janvier, C. Mendes, J. Peladan, Nietzsche, Pater Ravignan, Valliers de l'Isle Adam, T. de Chardin, S. Weil.

Man wird mit Recht bemerken, daß Ungenauigkeiten oder riskante Urteile in einem solchen Buch unvermeidlich sind, das durch sein Vorhaben und seine Struktur an die Taschenenzyklopädien des französischen Verlags Gallimard (Biblio-theque de la Pleiade) erinnert. Daß ein einziger verantwortlicher Autor nicht imstande sein kann, in allen Sparten der Wissenschaft und der Kultur erschöpfende Informationen, eine unfehlbare Bildung und eine meisterliche Überschau zu besitzen, die von einem Team von Fachgelehrten verlangt werden muß, wenn sie unter der Leitung eines wirklich enzyklopädischen Geistes zusammenarbeiten, darf nicht wundernehmen. Nicht dem Autor, dessen enormes Wissen, Fleiß, Gabe der Synthese, Ausgewogenheit in den Urteilen (473 sq, 555/3, 404/5) und „esprit de flnesse“ nicht hoch genug gepriesen werden können, sondern dem Verlag selbst kann abschließend die Frage gestellt werden, ob die Publikation eines solchen Werkes den anerkannten Erfordernissen eines bestimmten, bildungsmäßig und soziologisch genau erfaßten Leserpublikums entspricht, und was für verlegerische Erwägungen beziehungsweise Hoffnungen an ein Werk geknüpft werden können, das weder ein Essay ä la Curtius oder ä la Sieburg ist noch, dem Format und dem Umfang nach, ein enzyklopädisches Lexikon sein kann. Der Rezensent muß also fürchten, daß weder der Spezialist irgendeiner Geisteswissenschaft noch der geistig interessante Laie, der seine allgemeine Bildung bereichern will, diese ..Kulturgeschichte Frankreichs)“ je zu Rate ziehen wird. Aus entgegengesetzten Gründen, aber mit demselben Ergebnis. Der Fachgelehrte wird darin ein Werk der Populärwissenschaft vermuten und der Laie eine zu kompakte und hochstrebende Studie befürchten. Der Rezensent begrüßt jedenfalls mit Freude die „Kulturgeschichte Frankreichs“ von St. Suchanek-Fröhlich, deren ungewöhnliche Verdienste er zu schätzen weiß: er stellt nämlich sein Heimatland in ein objektives und sympathisches Licht, und sein Buch bildet einen bedeutenden Beitrag zur gegenseitigen Verständigung, zur Vertiefung seelischer Affinitäten von zwei Nationen, die seit Jahrhunderten von einem geistigen, echt „gemeinsamen Markt“ profitieren.

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