7103229-1995_19_24.jpg
Digital In Arbeit

Von der Mauerschwere zum Himmelslicht

Werbung
Werbung
Werbung

Große, mehrbändige Kunstgeschichten sind auch heute herausragende Ereignisse. Vor allem, wenn opulente Illustration und hoher wissenschaftlicher Anspruch auf einen Nenner gebracht werden. In diesem Sinne ist der Beginn eines bedeutenden Unternehmens anzuzeigen: Eine „Geschichte der europäischen Kunst” in vier Bänden im Benziger Verlag, deren erster Band nun vorliegt: „Die Kunst im Mittelalter” von Liana Castelfranchi Vegas mit einem Beitrag des 1994 früh verstorbenen Kunsthistorikers und Fachmannes für Bestaurierungsfragen Ales-sandro Conti über „Giotto und die italienische Malerei in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts”.

Es herrscht zwar kein Mangel an dem Umfang nach vergleichbaren Kunstgeschichten, die sind aber meistens nur noch in Bibliotheken greifbar. Das neue Werk soll eine Marktlücke schließen: Zwischen den vielen einbändigen Darstellungen der mittelalterlichen Kunst einerseits, den Monographien zu einzelnen Werken und Teilaspekten andererseits, will es die große Übersicht bieten, die den nerausragenden Werken gerecht wird, dabei aber den historischen und künstlerischen Kontext, in dem sie stehen, nicht vernachlässigt und die Entwicklungslinien nachzeichnet. Und, worauf besonderer Wert gelegt ,wird, dem Leser die Abgrenzung der europäischen KunsteDochen erleichtern.

Dazu sind hier nur einige Andeutungen möglich. Eine Stärke dieser Geschichte der mittelalterlichen Kunst ist ihr früher Einsatzpunkt. Den Auftakt bildet die sonst „als eine Art Niemandsland in der kunstgeschichtlichen Forschung” behandelte Zeit von 400 bis 600. Mit dem „Verfall der klassischen formalen Vorgaben” beginnt eine Entwicklung, deren späteren, frühmittelal-

terlichen Verlauf man aus diesem produktiven Blickwinkel sehr viel besser als vorher „durchschaut”. Der Begriff der Romanik wird durch die tiefere, großflächige Überlappung mit der römischen Antike mit sehr viel mehr Leben erfüllt.

Sie erleichtert es dem Leser, der nicht Kunsthistoriker ist, sich von den Resten der noch immer stark herumspukenden Trivialformeln nach dem Schema „Romanik gleich rund, Gotik gleich spitz” zu verabschieden.

Auch das Kapitel über „Die Entstehung der Gotik auf der Ile-de-France” profitiert von dieser überlappenden Darstellung der Epochen und Entwicklungen. Dabei ist, auch dies erscheint sehr produktiv, die spätere Gotik-Rezeption und Gotik-Mystik ab dem 19. Jahrhundert, von Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre Dame” bis hin zu Hans SedlmayT, welcher der Gotik eine antimediterrane Wurzel unterstellte, in die Darstellung integriert.

Mancher Nebensatz ersetzt bei Liana Castelfranchi langwierige Erklärungen, etwa wenn sie, im Hinblick auf die katastrophalen Verluste an für die Raumwirkung entscheidendem bildhauerischem Reichtum, Victor Hugos Satz von der Erinnerung an Notre Dame als „wunderbares Ergebnis aller Kräfte einer Epoche” so fortschreibt: „... und nicht mehr als lebloses, von der Revolution zerstörtes Bauwerk”. Sie versteht es

auch, mit wenigen Sätzen den Blick zu öffnen für die Gewaltigkeit der Bauprojekte der Gotik in der Enge der Städte.

Andererseits hat das aus dem Italienischen übersetzte Werk freilich auch die in vielen aus einer Feder stammenden Übersichtswerken notorischen, auf die Spezialisierungen der Autoren zurückzuführenden Lücken. Oder sagen wir: Akzentsetzungen. Die deutsche Bauplastik wird adäquat behandelt, das deutsche und österreichische Tafelbild kommt nicht vor.

Dafür ist die Bebilderung wiederum opulent: reichhaltig und von guter Qualität. Exzellent auch die schwarzweißen Fotos, die in unserer Zeit des editorischen Farbenrausches drucktechnisch oft vernachlässigt werden, beispielsweise der französischen Kathedralen.

Ich meine, daß gerade bei der mittelalterlichen Architektur der schwarzweiße Druck der Farbe manches voraus hat.

Der Beichtum der Illustration macht die ganze Bandbreite der Kunst des Mittelalters sichtbar. Von der statuarischen, schematisierenden Strenge, in der noch Byzanz nachklingt, zur feinen Charakterisierungskunst und den bewegten Fackeln und Prügeln in Giottos „Gefangennahme Christi” in Padua, von der Freundlichkeit der Szene in Lo-renzettis „Geschichten des Heiligen Nikolaus” (Florenz, Uffizien) zur -trotz des Goldgrundes - Düsternis im „Fall der rebellischen Engel”

Der Fall der rebellischen Engel, nach 1330, vom „Meister der rebellischen Engel”

(Louvre) mit seiner großartigen Raumaufteilung. Von der aus der Antike überkommenen, die Gleichheit der Menschen betonenden Rundform von Santo Stefano Roton-do in Rom (um 470) zu den strengen Oben-unten-hinten-vorne-Hierar-chien der Kathedralen, von der Mau-erschwere der Romanik zu den jeder Statik spottenden, lichtdurchfluteten gotischen Räumen.

In solchen Kunstgeschichten kann man schwelgen. Sie sparen die düstere Seite des Mittelalters, den Sturz des Engels in die zur Obsession gesteigerte Intoleranz und in die Inhumanität, aus. Diese Entwicklung ist schwerer zu begreifen als der Übergang von der Romanik zur Gotik.

Der zweite Band wird im Herbst erscheinen, darin werden mehrere Autoren „Die Baukunst im Mittelalter” behandeln, die freilich auch im ersten Band schon etwas übergewichtig zur Geltung kommt. Der dritte Band wird der Kunst der Benais-sance, der vierte Band der Atelierkunst gewidmet sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung