6666452-1960_36_19.jpg
Digital In Arbeit

Das alte Linz—eine neue Stadt

Werbung
Werbung
Werbung

Zweimal in der Woche fährt ein Autobus, vollbesetzt mit alten Menschen, durch die Stadt Linz. Der Autobus gehört der Stadtverwaltung, die Insassen sind Gäste des städtischen Fürsorgeamtes, das sie zu einer Rundfahrt eingeladen hat. Stadtrundfahrten werden in allen Städten mit größerem Fremdenverkehr veranstaltet, um Besucher durch die Stadt zu führen und ihnen die Sehenswürdigkeiten zu vermitteln. Doch hier sind die Fahrgäste nicht Fremde, es sind alte Linzer und Linzerinnen, Menschen, die in dieser Stadt aufgewachsen sind, die hier ihr ganzes Leben verbracht haben, und die, so sollte man meinen, eigentlich jede Gasse und jeden noch so versteckten Winkel kennen müßten. Aber die Stadt, die sie kennen, ist das Linz der ersten vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, das ist die Provinzstadt, die Hauptstadt eines vorwiegend agrarischen Landes. Diese Stadt, in der sie ihre Jugend und den größten Teil ihres Lebens verbracht haben, hat sich in den letzten zwanzig Jahren gründlich geändert, so gründlich, daß die Teilnehmer an den Rundfahrten für alte Linzer aus dem Staunen gar nicht herauskommen.

Nicht schrittweise, sondern in gewaltigen Sprüngen vollzog sich eine grundlegende Wandlung der Stadt Linz. Sie ist in erster Linie das Produkt einer in schwerster Nachkriegszeit geleisteten Aufbauarbeit. Der Linzer Aufbau war von Anfang an nicht nur bloßer Wiederaufbau, sondern ein Neubau, und er wurde bald zum Ausbau, der auch heute noch in unverminderter Intensität vorangetrieben wird.

Linz ist in doppelter Hinsicht eine Stadt des Aufbaues: Es war nach dem Krieg eine der meistzerstörten Städte Österreichs, und es hat durch die neugegründete Industrie eine völlige Strukturwandlung und damit verbunden eine gewaltige Bevölkerungszunahme erfahren. Verdoppelt wurde dadurch die Fülle der Aufgaben, die sich für die Stadt in den vergangenen fünfzehn Jahren ergaben.

Wenn man heute an einer der belebten Hauptverkehrsstraßen von Linz steht, den dicht vorbeiflutenden Verkehr sieht, die modernen Neubauten, die vielfältigen Schaufenster der Geschäfte und die gepflegten Grünanlagen und das pulsierende, großstädtische Leben spürt, dann gehört schon sehr viel Phantasie dazu, um sich noch das furchtbare Elend und die Verwüstungen vorzustellen, die in den Maitagen des Jahres 1945 herrschten. Das Bild des Jahres 1945 zeigte zerstörte Wohnbauten, verwüstete Grünanlagen, von Bomben zerwühlte Straßen, in Trümmern liegende Produktionsstätten, demolierte Gas- und Wasserleitungen, leere Läden und Magazine. Weit mehr als 200.000 Menschen weilten in dieser Stadt, die im Jahre 193 8 nur von 112.000 Linzern bewohnt gewesen war.

In dieser verzweifelten Situation, in der Hunger und Obdachlosigkeit das Schicksal von Zehntausenden waren, durfte keinen Tag mit dem Beginn des Wiederaufbaus zugewartet werden, sollte nicht zu dem materiellen ein moralisches Chaos sondergleichen kommen und damit die Situation hoffnungslos werden. Gleichzeitig mußte der Entschluß gefaßt werden, nicht in den vor 193 8 gegebenen Rahmen der Stadt zurückzukehreil, obwohl die eingeleitete Entwicklung ' zur Industriegroßstadt erst einen Torso erbracht hatte, der von der Kriegsfurie wieder größtenteils in Trümmer gelegt worden war.

Es mußte schon in dem Augenblick, als nach schwierigster Arbeit die wichtigsten Versorgungseinrichtungen wieder so weit instand gesetzt waren, daß das Chaos fürs erste abgewendet schien, nicht mehr für die augenblicklichen Bedürfnisse, sondern für die weitere Zukunft geplant und gebaut werden. Es galt nicht nur einen unmittelbaren Notstand zu beseitigen, sondern die Stadt Linz mußte auch das Unorganische an ihrem Wachstum überwinden.

Vor Beginn der Industrialisierung war der Kern des Linzer Stadtgebietes noch ziemlich geschlossen gewesen. Mit der Industrialisierung hatte im Jahre 193 8 eine Ära der Errichtung ansehnlicher Wohnsiedlungen begonnen. Diese zum Teil halbfertigen, zum großen Teil gebombten oder zumindest hart angeschlagenen Wohnsiedlungen reichten jedoch bei weitem nicht aus, um dem gewaltigen Bevölkerungszuwachs von 120.000 auf fast 200.000 Menschen gerecht zu werden. Dazu kam, daß der Krieg die Bautätigkeit jäh unterbrochen hatte, so daß in diesen vielfach weitab vom Stadtkern liegenden Siedlungen Schulen, Kindergärten, eine ausreichende Kanalisation, entsprechende Straßen und Straßenbeleuchtungen und viele andere notwendige Dinge fehlten. Daraus ergab sich für die Aufbautätigkeit auf allen Gebieten ein ganz gewaltiger Nachholbedarf.

Das drückendste Problem der Stadt war und ist noch immer die katastrophale Wohnungsnot. Obwohl in allen Stadtteilen Wohnhäuser gleichsam am laufenden Band geschaffen werden — in den Jahren 1947 bis 1959 wurden in Linz durch Neubau und Wiederaufbau insgesamt fast 20.000 Wohnungen errichtet —, warten noch immer Zehntausende auf eine Wohnung.

Nicht minder drückend war die Schulraumnot. Daraus ergab sich die Aufgabe, die beschädigten Schulgebäude wieder benutzbar zu machen, die zerstörten Objekte wiederherzustellen und darüber hinaus durch die Schaffung neuer Schulhäuser den Gebäudebestand zu erhöhen. Es verging kaum ein Jahr, in dem nicht eine oder mehrere neue, moderne Schulen der Benützung übergeben werden konnten, eine Regel, die auch heuer mit der Vollendung zweier weiterer großer Schulkomplexe eingehalten werden wird. Ebenso verdient erwähnt zu werden, daß die Stadt Linz in den letzten eineinhalb Jahrzehnten die Zahl der Kindergärten von drei auf dreiundzwanzig erhöht und elf Kinderhorte neu geschaffen hat. Ein Großprojekt für die zentrale Unterbringung von Kinderkrippe, Kindergarten und anderen Einrichtungen der Jugendfürsorge steht vor der Fertigstellung.

Es ist auf diesem engen Raum nicht möglich, alle Aufbauleistungen der Stadt Linz auch nur annähernd summarisch aufzuzählen. Neben dem Bau von Wohnungen, Schulen und Jugendfürsorgeeinrichtungen wäre die Schaffung einer Reihe von Marktanlagen, der Ausbau des Schlachthofes, die Schaffung eines modernen Großhafens, der heute die führende Stelle unter den österreichischen Donauhäfen einnimmt, der Neubau eines Altersheimes, der großzügige Ausbau des städtischen Krankenhauses, der größten Krankenanstalt des Landes, deren Bedeutung weit über die Stadt und das Land Oberösterreich hinausreicht, der Bau von mustergültigen Sportstätten und Bädern und vieles andere zu nennen.

Wesentliche Mittel waren auch für die Sicherung der Wasserversorgung aufzuwenden. Damit die gewaltige Menge von jährlich 15 Millionen Kubikmetern Wasser in einwandfreier Qualität zur Verfügung gestellt werden konnte, mußten umfangreiche Schutzmaßnahmen eingeleitet werden. Ebenso wichtig wie die Versorgung mit reinem Wasser ist der Abtransport der Abwässer. Das Linzer Kanalnetz, das im Jahre 1938 eine Ausdehnung von etwa hundert Kilometern hatte, ist heute rund 250 Kilometer lang.

Eine besondere Entwicklung nahm das Straßenbauwesen. Kaum war der enorme Nachholbedarf aus der Kriegszeit erfüllt, erschienen die mit großer Mühe vollbrachten Leistungen als überholt und unzureichend für die ständig zunehmende Verkehrsbelastung. Es wurde daher sofort eine auch einer weiteren Entwicklung gerecht werdende Lösung erarbeitet. Ein vom Gemeinderat beschlossener Generalverkehrsplan sieht neben der Verbesserung der Leistungsfähigkeit aller vom Norden nach Süden für den Durchgangsverkehr brauchbaren Straßenzüge den Ausbau einer vierspurigen Westumfahrung und einer Ostumfahrung vor. Dieser Plan steht nicht nur auf dem Papier. Seine Verwirklichung wurde sofort in Angriff genommen, und die ersten Teilabschnitte konnten bereits dem Verkehr übergeben werden.

Die Stadt Linz hat in den Jahren seit Kriegsende ein gewaltiges Aufbauwerk vollbracht, das sich an jeder einzelnen Straßenecke deutlich zeigt. Der Ausbau ist noch nicht abgeschlossen. Er geht weiterhin nach wohldurchdachten Planungen unter Berücksichtigung der modernsten städtebaulichen Erkenntnisse vor sich. Zielbewußt soll eine Etappe nach der anderen bewältigt werden, und es soll kein Stillstand eintreten. Hand in Hand mit dem materiellen Aufbau geht auch ein kultureller Aufbau, der in der Schaffung neuer Bildungseinrichtungen, wie Volkshochschule, Musikschule und Kunstschule sowie in der Pflege von Kunst und Wissenschaft, wie etwa in der Neuen Galerie der Stadt Linz, seinen Ausdruck findet. Die Gründung einer Hochschule für Sozialwissenschaften, die als neuer Typ eines wissenschaftlichen Instituts im Universitätsrang dem modernen Geist und der lebendigen Sphäre von Linz angepaßt sein soll, wird angestrebt. Die materielle und kulturelle Komponente zusammen ergeben das seit 1945 gebildete neue Gesicht der modernen, aufstrebenden Industriegroßstadt Linz, deren markanteste Unternehmen, die VÖESt. und die Österreichischen Stickstoffwerke, bereits weit über die Grenzen unserer Heimat hinaus Bedeutung erlangt haben.

Ich glaube, abschließend sagen zu dürfen, daß sich die oberösterreichische Landeshauptstadt im Rahmen unseres herrlichen, vielgestaltigen und zukunftsfrohen Bundeslandes in jeder Hinsicht würdig präsentiert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung