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Zentren der Belastung

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Großstädte gab es schon in der Antike: Babylon dürfte 350.000, Konstantinopel 700.000 und Rom sogar über eine Million Einwohner gehabt haben. Diese Städte waren Ausnahmeerscheinungen in einer agrarisch geprägten Welt. Dörfer und Kleinstädte prägten das Bild Europas bis ins 18. Jahrhundert. Erst mit der beginnenden Industrialisierung setzte jene Verstädterung ein, die heute ausufert und die ganze Welt prägt.

Eingesetzt hat die Entwicklung zunächst in England. London war die erste moderne europäische Millionenstadt (Tabelle). Explodiert sind die Städte aber erst ab der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: eine halben MiUionen Zuwachs in nur 20 Jahren in Wien (1870-1890), von 700.000 in Berhn (1870-1890), von 800.000 in Paris (1850-1870), von 1,8 MiUionen in London (1980-1900). Was sich während dieser Periode in Europas Städten abgespielt hat, läßt sich mit dem heutigen Elend in der Dritten Welt (Seite 10) vergleichen. Wie jäimnerlich etwa die sanitären Verhältnisse waren, berichtet unter anderen Thomas Mal-thus: „In London starb die Hälfte der Geborenen vor dem dritten Jahr, in Wien und Stockholm vor dem zweiten, in Manchester vor dem fünften…" Die durchschnitthche Le-benserwartimg betrug 40 Jahre.

Ein beachtlicher Teil dieser Probleme wurde im 20. Jahrhundert relativ gut bewältigt. Und dennoch bereiten heute die Städte Europas zunehmend wieder Sorgen. Es ist das Ausufern der Ballungsräume, die hi- storisch gewachsene BUUUHTRNE, Schlafstädte imd Vororte, Industrieansiedlungen und Einkaufszentren umfassen und durch ein dichtes Verkehrssystem verbunden sind (Seite 14). Die heutigen Gebilde unterscheiden sich von der traditionellen Stadt, die von den Bewohnern als gemeinsamer Lebensraum gesehen vrarde und ein großes Maß an Überschaubarkeit aufwies. Heute körmte man eher von - bauüch uninteressanten - Siedlungsräumen sprechen.

Ein Großteil der Struktur unserer Städte sei zerstört, beklagt das „Grünbuch über die Städtische Umwelt der EG". Nur wenige Bauten unserer Zeit vrärden „von künftigen Generationen als historisches Ejbe betrachtet werden." VieKach verfielen die Stadtzentren, weil die Mittelschicht aus ihnen auszieht. Dieser Entwicklung versuchen allerdings in jüngster Vergangenheit Verkehrsberuhigung und die Schaffung von Fußgängerzonen entgegenzuwirken.

Was sind nun die typisch städtischen Problembereiche? Da gibt es die breite Palette der Umweltbelastungen. Die meist Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Kanalisationssysteme entsprechen oft nicht mehr den heutigen Anforderungen: Das Abwasser ist weitaus stärker chemische belastet und sein Volumen hat stark zugenommen. Probleme bereitet das großflächige Versiegeln der Landschaft. Das Wasser versickert nach RegenfäUen nicht, sondern muß innerhalb kurzer Zeit wegbefördert werden. Enorme Wassermassen fallen an, sodaß die Urbanisierung die Gefahr von Überflutungen stromabwärts erhöhen kann. Die Sanierung der Kanalisationssysteme und die Einrichtung von Kläranlagen erfordern von den Städten gigantische Investitionen.

Aufwendig ist auch die Beseitigung der MüUmenge. Wie bei anderen Verschmutzungen sind die spezifisch städtischen Abfallprobleme bedingt durch die hohe Bevölkerungsdichte und die Bandbreite wirtschaftlicher Tätigkeiten: Krankenhäuser, Warenmärkte, Schutt, Verpackungen aller Art, Haus- und verschiedenster IndustriemüU… Dazu kommt die Straßenreinigung. Immer schwieriger wird es, Deponieraum aufzutreiben. Also wird vielfach auf Müllverbrennung mit ihren ungelösten Abgasproblemen (FURCHE 46/93) gesetzt.

Damit tritt ein weiteres Umweltproblem in den Blick: die Luftverschmutzung. Zwar verringerte sie sich nach dem Krieg zunächst durch weniger Kohleheizung. Bald aber sorgte die Explosion des Straßen-und Luftverkehrs für eine starke Belastung der Luft (Staub, NOx, CO, Blei). D ie immer häufiger werdenden Verkehrsstaus gleichen positive Wirkungen des Katalysators aus.

Oft verstärken stadttypische klimatische Effekte die Luftverschmutzung. Wo es wenig Durchlüftung durch Wind gibt, konzentrieren sich die Schadstoffe im verbauten Gebiet, vor aUem bei Inversionslagen (Kälte am Boden, warme Luft in der Höhe). WeU Ballungsräume außerdem Wärmeinseln darstellen, erzeugt die über der Stadt aufsteigende Warmluft eine Tiefdruckzone, in die kühlere Luftmassen aus der Peripherie einströmen. Wo sich am Stadtrand Kraftwerke und Industrien befinden, werden deren Abgase ins Zentrum „angesaugt".

Die Luftverschmutzung hat verheerende Wirkungen auf die Substanz historischer Gebäude. Nicht nur Rußschichten auf den Gebäuden bereiten Sorgen, sondern es kommt auch zu chemischen Reaktionen der Bau- mit den Schadstoffen, zum sogenannten Steinfraß.

Eines der Hauptprobleme ist der Lärm, besonders der vom Verkehr verursachte. In den größeren österreichischen Städten klagt, Erhebungen zufolge, jeder vierte Haushalt über Lärmstörungen. In drei von vier FäUen ist der Straßen- und in fünf Prozent der Wohnungen der Schienenverkehr dafür verantwortlich. Diesem Problemkreis wird vielerorts durch Verkehrsberuhigung zu Leibe gerückt (Seite 12).

Daneben gibt es die vielen sozialen Probleme, die mit der anonymen Lebensform in den Städten einhergehen. Ihre bedenklichste Folge ist wahrscheinlich der für Städte kennzeichnende, kinderfeindliche Lebensstil: Außerhalb der Wohnung können Kinder kaum spielen: Tosender Autoverkehr und Abgase machen die Straße zu lebensbedrohenden Räumen. Parks haben Seltenheitswert. Um die Rasenflächen gibt es Interessenskonfhkte zwischen Alten, die gepflegtes Grün bevorzugen und den Kindern, die einen gestaltbaren Lebensraum brauchen. Also bleibt die Wohnung als Aufenthaltsort, der Fernseher wird zur bequemen und beliebtesten Beschäftigung.

So wächst ein neuer Menschentyp heran: mit wenig Kontakt zu Mitmenschen, zur Natur, mit seinen Emotionen alleingelassen, umgeben von Apparaten und anonymen, sozialen Systemen, in denen er auf Funktioneren getrimmt, materieU aber gut versorgt wird.

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