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Die Verkehrslawine rollt

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Werden wir in zwanzig Jahren in Europa in einer großen Stadt leben? Wird sich dort, wo heute noch Dörfer und Landstädte sind, ein Gürtel der Industrie befinden, Ballungszentren einer urbanisierten Arbeiterschaft? Der Prozeß der Verstädterung geht unaufhaltsam weiter. Die bäuerliche Bevölkerung wird immer kleiner; neue Industrien brauchen neue Voraussetzungen: Labors und Technologieschulen treten an die Stelle herkömmlicher Lehrlingsausbildungsstätten. Die Stadt wird zum tragenden Element Europas. Sauberkeit und Erholung werden neben neuen Formen der Gesundheitspflege in den kommenden zwanzig Jahren entscheidende Fragen des Lebens in den neuen Siedlungen sein. Aber der Verkehr wird zur eigentlichen Entscheidungsfrage des Zusammenlebens für die Stadt der Zukunft.

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Werden wir in zwanzig Jahren in Europa in einer großen Stadt leben? Wird sich dort, wo heute noch Dörfer und Landstädte sind, ein Gürtel der Industrie befinden, Ballungszentren einer urbanisierten Arbeiterschaft? Der Prozeß der Verstädterung geht unaufhaltsam weiter. Die bäuerliche Bevölkerung wird immer kleiner; neue Industrien brauchen neue Voraussetzungen: Labors und Technologieschulen treten an die Stelle herkömmlicher Lehrlingsausbildungsstätten. Die Stadt wird zum tragenden Element Europas. Sauberkeit und Erholung werden neben neuen Formen der Gesundheitspflege in den kommenden zwanzig Jahren entscheidende Fragen des Lebens in den neuen Siedlungen sein. Aber der Verkehr wird zur eigentlichen Entscheidungsfrage des Zusammenlebens für die Stadt der Zukunft.

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Heute schon ist der städtische Verkehr zu einer Belästigung geworden, die Gesundheit, Nervenkraft und Sicherheit in extremer Weise berührt. Fast überall in den entwickelten Ländern werden Anstrengungen unternommen, um der steigenden Flut von Fahrzeugen Herr zu werden.

Die Automobil-, Flugzeug- und Schiffahrtindustrie sind zu Konjunkturfaktoren geworden. Für die großen Industrienationen sind diese Industrien Lebens- und Nervenzentren. So befindet sich die Flugzeugindustrie in den USA derzeit in einer schweren Krise; tausende Entlassungen haben zu einer fatalen Arbeits-msrkteituation geführt, und die Wirtschaftsfachleute des Weißen Hauses geben offen zu, daß diese Krise den Konjunkturverlauf stark beeinflußt.

In Japan ist der Schiffsbau einer der wichtigsten Zweige der Volkswirtschaft. In den Werften werden die größten Tankschiffe der Welt gebaut. Und nach dem großen Boom im Tankerbau, der durch die Sperre des Suezkanals 1967 entstanden ist, spürt Japan derzeit stark den Nachfragerückgang an großen Tankschiffen. Ähnlich ist die Lage in England. Vor allem aber ist die Bundesrepublik, die die meisten Autos Europas produziert, brennend daran interessiert, den Absatz an Automobilen stabil zu halten. Denn die Autoindustrie ist in Europa derzeit die kapitalintensivste Großindustrie; tausende Arbeitsplätze sind im Falle einer Krise im Verkehrswesen nicht allein in den Werkstätten von Opel oder Fiat, der British-Motor-Corpo-ration oder Renault betroffen, sondern auch in den Stahl- und Gummi-firmen, in den Unternehmen der Speziaigtas- und Kunststoffindustrie. So versucht sich die Automobiiindu-strie mit Fusionierungen zu helfen, um durch eine stärkere Marktposition und durch bessere Kooperation weniger, krisenanfällig zu sein. So sind Citroen und Fiat zusammengewachsen, VW hat sich mit Porsche liiert, die BMC ist mit Leyland zusammengewachsen.

Um 10 Jahre zurück In den nächsten 20 Jahren werden die neuen Stadtlandschaften mit noch nicht abschätzbaren Verkehrsschwierigkeiten zu rechnen haben.

• Das stetige Wachsen der Städte ist in den letzten 100 Jahren ziemlich planlos erfolgt und die Stadtplanung ist auch heute noch nicht überall eine Selbstverständlichkeit. Es entstehen neue Wohn- und Arbeitsstätten, die funktional den Verkehrsbedürfnissen nicht entsprechen. Neue Verkehrsbauwerke hinken fast durchwegs den neuen Ansiedlungen um einige Jahre, ja Jahrzehnte nach Im 22. Wiener Gemeindebezirk etwa entstand im letzten Jahrzehnt eine nahezu völlig neue Stadtsiedlung. Erst in diesem Jahr wird eine Autobahnbrücke fertiggestellt, die diesen Raum mit dem diesseits der Donau gelegenen Arbeits- und Zentralgebiet Wiens verbindet; Autobusse oder neue Straßenbahnen sind überhaupt nicht in die neuen Siedlungsräume gelegt.

• Der Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln, die bequem, schnell und billig sind, hat das Anwachsen des Individualverkehrs beschleunigt. In den nächsten 20 Jahren wird es voraussichtlich noch erheblich mehr Privatautos geben als heute. In Wien wird die Zahl der Pkws je 1000 Einwohner von heute 193 auf 354 im Jahre 1980 steigen. Das Prestige und die Bequemlichkeit wird dem an sich „alogischen“ Privatauto weiter Vorrang geben — und die Automobilgiganten werden nichts unternehmen, um diese Entwicklung zu stoppen. Trotzdem ist damit zu rechnen, daß die Verkehrsregelung in der Zukunft besser funktionieren wird als bisher. Durch den zu erwartenden Einsatz von Computern wird eine ständige Verkehrszählung möglich sein. Die heute noch starren automatischen Kreuzungssignale werden sich fernsteuern lassen und den individuellen Verkehrsverhältnissen entsprechen. Ganz utopische Spekulationen gehen dahin, daß Computer in den Wagen selbst die automatische Steuerung übernehmen können.

Es ist zu erwarten, daß doch — etwa auch in österreichischen Städten — immer mehr Verkehrsbauwerke kreuzungsfrei angelegt werden, wodurch mittels Unter- und Überführungen eine spürbare Erleichterung einträte.

Zukunftsforscher sagen dem lärm-und geruchlosen Elektromobil im Stadtverkehr eine große Zukunft voraus. Vor allem aber wird es das kleinere Auto sein, dem im Stadtverkehr die Zukunft gehört. Auch das Taxigewerbe wird sicherlich einen großen Aufschwung nehmen.

Fußgängerzonen und Fahrverbote in Stadt- und Ortskernen sind schon heute in den USA und in den großen Siedlungsgebieten Europas eine natürliche Selbstverständlichkeit. Bald wird man auch in Österreich — parallel zum Ausbau unterirdischer Parkgaragen — dazu übergehen müssen.

Der Verkehrsforscher Bouladon vom Battelle-Institut in Genf meint, daß der derzeit in England erprobte vollautomatische öffentliche Elektro-viersitzer, der auf einer eigenen Trasse verkehrt, große Zukunftschancen besitzt Der Benutzer besteigt nach Münzeinwurf das Fahrzeug, wirft mit einer Computerkarte das Fahrziel ein und wird auf einem eigenen — in die Straßen eingelassenen Geleise fahrerlos befördert. Etwas Ähnliches soll auch schon bald auf unseren Autobahnen selbstverständlich sein. Die Fahrzeuge sollen sich ferngesteuert mit mehr als 200 Stundenkilometern bewegen können, ohne daß sich der Fahrer um die Lenkung kümmern muß. Die RAND-Corporation sagt voraus, daß 1980 dadurch die Kapazität der Autobahnen um 50 Prozent erhöht und die Unfallquote um den gleichen Prozentsatz herabgesetzt werden könnte.

Sicherlich werden fahrerfreie, vollautomatisierte Eisenbahnzüge bereits bald Wirklichkeit werden. Schon heute gibt es ferngesteuerte Werksbahnen, die sicherer und weniger störungsanfällig sind als herkömmliche Eisenbahnen. Dem derzeit in England erprobten

Luftkissenfahrzeug wird für die nächsten 30 Jahre eine ganz ungeheure Zukunft prophezeit. Dieses Fahrzeug kann sich über jede Wasserstraße fortbewegen und braucht über Land nur billige, grobe Betonpisten, die leicht verfertigbar sind. Insbesondere der Verkehr über unwegsames Gelände, etwa auch über Alpenpässe und im Nahverkehr zwischen Satellitenstädten und Stadtkern wären vernünftige Einsatzmöglichkeiten.

Der Ausflug in die Luft zwecks Lösung der irdischen Verkehrsprobleme dürfte nicht ganz so vor sich gehen, wie es sich die Luftpioniere vorgestellt haben. Der Hubschrauber dürfte nicht die Zukunft haben, die man ihm ursprünglich zugebilligt hat. Allerdings wird er als großer Lastentransporter, als optimal-beweglicher Riesenkran von steigender Bedeutung sein.

Die Entwicklung im Passagierflugverkehr ist bereits in den letzten Jahren ungeheuer und sprunghaft vorwärtsgetrieben worden. Aber nicht die Entwicklung von noch größeren Flugzeugen als die „Jumbo-Jets“, oder noch schnellere Giganten als die Ubersohallmaschinen, ist das Problem der nächsten Jahre: vielmehr ist der Ausbau der Flughäfen, der Zubringerdienste vordringlich. So wird bei Ankunft einer 300 Personen fassenden Maschine die hotelmäßige Unterbringung der Gäste zu einem ernsthaften Problem, dem zum Beispiel eine Fremdenverkehrsstadt wie Wien in den Sommermonaten hilflos gegenüberstehen würde.

Woher das Geld?

Die Verkehrsentwicklung der nächsten Jahrzehnte wird aber nur dann nicht in chaotische Verhältnisse führen, wenn schon jetzt eine ernsthafte, kontinentale Verkehrsstrategie eingeleitet wird. Die Zusammenarbeit in Europa beginnt nur langsam und zögernd. Jedes Land baut seine eigenen Straßen, baut seine eigenen Autos, hegt seine nationale Fluglinie.

Die nationalen Regierungen und Parlamente müssen darüber hinaus eine bewußtere Einstellung zum wahrscheinlich wichtigsten Wirtschaftszweig der Zukunft finden. Denn mit der Verkehrsexplosion kommt die Explosion der Energieversorgung, die Explosion in der Bauwirtschaft, die Explosion der Dienstleistungen (vom Autobahnrasthaus bis zum Großhotel). Der Verkehr wird eine noch unvorstellbare Mobilität der Menschen forcieren, die beruflich und in der immer mehr wachsenden Freizeit mit Verkehrsmitteln über weite Distanzen unterwegs sein werden. Vor allem aber wird er ungeheure Kosten verursachen, über deren Aufbringung man sich derzeit so gut wie überhaupt noch keine Vorstellung macht. Die Politiker haben nirgendwo erkannt, welche Lawine auf sie zurollt.

In Österreich haben wir wenigstens seit einem Jahr ein Gesamtverkehrskonzept der Bundesregierung, das an Hand einer Bevölkerungsprognose und an Hand von Strukturanalysen eine fachmännische Schätzung der Entwicklung des Verkehrs auf der Straße und auf der Schiene vornimmt. Ein Professorenteam hat Vorschläge zur Umgestaltung des Verkehrs in den Zentralräumen, überregionale, regionale, kommunale Planungen und Modelle für den öffentlichen Verkehr erarbeitet, die vor allem für ein so ausgeprägtes Fremdenverkehrsland geradezu lebensentscheidend sind. Das Parlament hat darüber hinaus die Autobahnplanung bis zum Jahr 2000 im Groben festgestellt. Über die Aufbringung der notwendigen Mittel sind sich allerdings auch in Österreich weder Bundes- noch Landesoder Kommunalpolitiker im klaren.

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