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Kommt ein unterirdisches Wien?

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I.

Wer nicht nur Zeitungen, sondern auch die illustrierten Zeitschriften zu lesen versteht, dem wird in letzter Zeit die geradezu beängstigende Zahl der Autowitze aufgefallen sein. Während in den vorderen Abschnitten der Illustrierten die Tendenz vorherrscht, möglichst vom Alltag abzulenken, erlauben,sie es sich auf dem Umschlag, die echten Zeitprobleme — wenn auch nur in heiterer, verniedlichender Form — zu streifen. Da sieht man also Zeichnungen, in denen ein Paar in Abendgarderobe seinen Wagen in einer langen Reihe auf einer Landstraße geparkt hat; er sagt zu ihr: „Liebling, zur Oper sind es jetzt nur noch zwei, drei Stündchen.“ Oder: Ein Parkwächter versteigert einen Park-

platz: „100 Schilling zum ersten, zum zweiten ...“ Oder: Ein Kleinauto parkt unter einem Lastwagen; der Lenker sagt zu seiner Begleiterin: „Ich hätte nicht gedacht, daß wir hier doch noch einen Platz finden würden ...“

Witze dieser Art sind Legion geworden., Sie legen Zeugnis dafür ab, wie sehr das Verkehrsproblem — oder sagen wir lieber gleich: die Verkehrsmisere — die Gemüter beschäftigt; nicht nur die der Automobilisten, sondern auch die der Fußgeher. (Denn die Leser der Illustrierten sind ja nicht alle Autobesitzer.) Oft wird auf denselben Seiten auch nach einem Ausweg gesucht. Lieber den verstopften Straßen brausen dann ein paar lustige Hubschrauber dahin, Wachleute stehen auf den Dächern und regeln den Luftverkehr, Lufttaxi und Luftbusse erscheinen als einzige Möglichkeit, sich in einer Stadt zu bewegen. So findig solche Zeichner auch sein mögen, das Ausweichen in die Luft scheint uns vorläufig doch noch ein viel zu phantastisches Projekt, als daß man es ernsthaft diskutieren könnte. Ein anderes Projekt aber — das auch bei der großen Wiener Verkehrsenquete angeschnitten wurde — soll hier besprochen werden: das Ausweichen unter die Erde.

II.

Wien leidet an Arterienverkalkung. Die Straßen der Inneren Stadt, die Zufahrtstraßen zum Ring, der Ring selbst und der Gürtel, die Hauptverkehrsadern der Stadt, sind ständig verstopft. Dies ist eine Folge der großen Parkraumnot und der zahlreichen Kreuzungen. Viele

Autobesitzer garagieren ihre Wagen im Freien. Auf der Mariahilf er Straße sind ständig beide Fahrbahnränder besetzt, was zur Folge hat, daß Lastwagen, die Waren entladen wollen, oft in einer zweiten Reihe anhalten müssen. Durch Straßen, die reine Durchzugszugstraßen sein sollten, rollt der Verkehr nur langsam und zögernd. Gefährliche Kreuzungen halten ihn immer wieder auf.

Dieser Zustand wird von Tag zu Tag bedrohlicher; in Wien werden täglich etwa achtzig Kraftfahrzeuge neu zum Verkehr zugelassen. Gegenwärtig sind über 130.000 Fahrzeuge gemeldet, bis 1965 rechnet man mit 300.000 ...

Die Frage, wie da Abhilfe zu schaffen ist, beschäftigte die Verkehrsenquete in diesen Tagen. Etwa hundert Fachleute aus aller Welt tagten beinahe zwei Wochen lang, an die 1500 Reden wurden gehalten und zuletzt von den fünf Kommissionen, die gleichzeitig die verschiedenen Teilfragen erörtert hatten, dem Wiener Bürgermeister insgesamt 109 Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung des Wiener Verkehrs überreicht — sie waren, die Wichtigkeit des An-

lasses unterstreichend, in schönes dunkelrotes Leder gebunden ...

Lieber fast alle Fragen hat man sich relativ einfach einigen können. Eine aber blieb bis zuletzt umstritten Sie betraf den Bau der U-Bahn. Die Empfehlung, in das unterirdische Wien auszuweichen, schien gefährdet.

III.

An einzelnen „neuralgischen“ Punkten (immer wieder drängen sich hier Wörter aus der Medizin auf: sie kennzeichnen treffend, wie sehr die Stadt Wien mit einem Patienten zu vergleichen ist.'), an besonders überlasteten Kreuzungen, gibt es heute bereits ein Ausweichen unter die Erde. So bei der Hietzinger Brücke, wo die

Wientalstraße parallel zur Stadtbahn hinuntergeführt wird, so beim Matzleinsdorfer Platz, wo die Fahrzeuge, die dem Gürtel entlang fahren, unter die Erde ausweichen, so bei der Opernpassage, wo die Fußgänger den Ring nicht mehr über-, sondern unterqueren.

Aber das sind nur einige Ausnahmefälle, die nur eine sehr begrenzte Entlastung schaffen können. Die Verkehrsenquete hat in diesem Zusammenhang ein großzügiges Projekt empfohlen: Die Schaffung von kreuzungsfreien innerstädti-

schen Schnellverkehrsstraßen, vor allem im Zuge der Wien und längs des Donaukanals. Eine Ueberdachung des Flußbettes der Wien

— und unter Umständen auch des Donaukanals

— durch eine Betonpiste würde eine anbau- und kreuzungsfreie Expreßstraße schaffen. Dieser Vorschlag, den vor allem Architekt Professor Dr. Roland Rainer vertrat, würde zwei neue wichtige Hauptverkehrsadern schaffen, und, wenn man die Linie Westautobahn—Wienbettstraße unter der Inneren Stadt durchführte, auch eine Verbindung zur Linie Klosterneuburg— Donaukanal—Schwechater Flughafen.

Diese Empfehlung der Verkehrsenquete stellt also, genau betrachtet, den ersten Schritt zu einem unterirdischen Wien dar. Sie zeigt; daß eine noch stärkere Frequentierung der jetzt bestehenden Straßen nur zu einem heillosen Verkehrschaos führen muß. „Der oberirdische Straßenverkehr hat von der Ringstraße überhaupt zu verschwinden“, erklärte u. a. Architekt Prof.. Siegfried Theiß. Zwar werden Wiental-und Donaukanalstraße noch nicht unter der Erde verlaufen, wohl aber tiefer liegen als das übrige Straßensystem und von diesem überbrückt werden.

Waren sich die Teilnehmer der Verkehrsenquete über diesen Punkt im großen und ganzen einig, so gab es über einen anderen heftige Debatten: über den Bau der U-Bahn. Eine Empfehlung der Kommission III, für die der Straßenbaufachmann Senatsrat Dipl.-Ing. Ernst verantwortlich zeichnete, versuchte den Bau dieser U-Bahn auf möglichst weite Sicht hinauszuschieben, indem sie eine Staffelung der einzelnen Projekte naxh ihrer Dringlichkeit vorsah. Die Notwendigkeit einer Untergrundbahn fungierte da erst in dritter und letzter Linie als Ausweg „für alle Fälle“.

Senatsrat Ernst motivierte seinen Gedanken, den Bau von Untergrundbahnen hinauszuschieben, wie folgt: „Der Charakter dieser Art von Untergrundbahn wird sich gegenüber dem klassischen Typ, wie'er vor der Erfindung des Autos bestand, völlig gewandelt haben. Viele kurze

Linien innerhalb des Geschäftsviertels werden den Massenverkehr aufnehmen, der zum Teil von den individuellen Fahrzeugen, zum Teil von den oberirdischen Massenverkehrsmitteln außerhalb des Gürtels stammt. Der Umsteigverkehr muß daher aufs beste gefördert werden, sei es durch unterirdische Umkehrschleifen mit Fahrmittelwechsel auf gleichem Perron, sei es durch Pvolltreppen oder Aufzüge (bei den Parkgaragen) von den Haltestellen zu Parkgaragen über U-Bahnstationen. - Diese U-Bahn wird durch ihren Netzumfang einen relativ hohen Aufwand erfordern, aber sie wird wahrscheinlich billig im Betrieb sein, da sie zum Teil als vollautomatische Bahn, zum Teil als rollender Teppich konstruiert sein wird. Diese Typen sind noch in Entwicklung. Aus diesem Grund — die Entwicklung abzuwarten — besteht kein Anlaß zu besonderer Eile im Bau von U-Bahnen.“

Nachdem dieser Vorschlag aber von allen Seiten — von den Verkehrsplanern vor allem — energisch angegriffen wurde, wurde er fallengelassen. Die Vernunft hatte gesiegt. Endgültig wurde in dieser Hinsicht empfohlen:

Dringende Fertigstellung der U-Bahnplanung, wobei die U-Bahnlinie Praterstern—Innere Stadt— Westbahnhof den Vorrang haben soll. Diese Trassenführung ist unbestritten. (Südbahnhof und Floridsdorf am Spitz sollen bekanntlich durch eine eigene Schnellbahn verbunden werden, wodurch dieser Trassenvorschlag hinfällig wird.) Die Schnellbahnwaggons, die künftig auf der erweiterten Stadtbahn fahren sollen — nicht aber die auf der oben erwähnten neuen Schnellbahn! — sollen auch auf der U-Bahn verwendbar sein. Der U-Bshnbau soll durch die Gemeinde Wien finanziert werden.

IV.

Das Eis ist also gebrochen. Die Empfehlung ist dem Bürgermeister von Wien unterbreitet worden. Die Verkehrsfachleute haben ihr Gutachten abgegeben. Die Forderung nach einem „sofortigen Beginn der Planung eines Untergrundbahnsystems“ (wenn auch der Bau auf jeden Fall noch einige Jahre auf sich warten lassen wird) ist unüberhörbar.

Lieberblicken wir die Summe der Empfehlungen, so zeichnet sich ihre Tendenz klar ab: Weg mit dem Schnellverkehr von der Straße und hinunter unter die Erde!

Auch uns scheint die einzige Rettung in einem Ausweichen unter die Erde zu liegen: zwei oder drei unterirdische Expreßstraßen, eine unterirdische Schnellbahn sowie unterirdische Großparkplätze, die zugleich Garagen wären — unter größeren Grünflächen, wie etwa dem Stadtpark — scheinen uns die einzige Lösung zu sein, die in einem Wien, in dem es 300.000 Fahrzeuge gibt — und in zehn Jahren wird es soweit sein — überhaupt noch so etwas wie Verkehr ermöglichen. Gewiß ist das ein ungeheures Milliardenprojekt, dessen Verwirklichung vielleicht gut zwei Jahrzehnte in An-, spruch nehmen und nur durch großzügige Anleihen zu finanzieren sein wird. Aber es gibt eben keine andere brauchbare Lösung — es sei denn, man glaubte an Hubschrauber! Wir müssen endlich damit aufhören, nur auf ein, zwei Jahre hinaus zu denken und zu planen, ständig fortzuwursteln und zu sagen: „Nach uns die Sintflut!“

Außerdem hat schon der Umbau der Opernkreuzung gezeigt, was der Ausfall von einigen hundert Metern Straße für eine Katastrophe für den Verkehr bedeutet. Und das wird von Jahr zu Jahr schwieriger werden! Der Baubeginn einer LI-Bahn mit all ihren Stationen etwa erst in zehn Jahren wäre — mit den erforderlichen Umleitungen — vielleicht kaum noch durchzuführen. Paris hat seine Metro gebaut, als der Autoverkehr noch eine Sensation und keine Katastrophe war. Deshalb: rasch, aber zugleich auf weite Sicht planen! Und bald mit dem Bau beginnen!

Der Automobilverkehr ist eine gigantische Sache geworden. Wir dürfen nicht glauben, daß wir ihn mit kleinlichen Maßnahmen in vernünftige Geleise lenken können.

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