6652389-1959_09_08.jpg
Digital In Arbeit

Benzin und Charakter

Werbung
Werbung
Werbung

„LASS MICH SEHEN, wie du fährst, und ich sage dir, wer du bist”, sagt der Verkehrsposten auf der Kreuzung. Die Kreuzung liegt unter mir. Aus hunderten Autos spüre ich die Wahrheit seiner Worte. .

„So nackt und so .echt sieht keiner das .Wiener Herz’ wie ich. Die Kreuzung breitet das Charakterbild des Wiener Autofahrers vor uns aus. Hier fährt er im Karussell, hier legt er die Maske ab.”

Lethargie iind Acht-Stunden- Tag-Mentalität auf Rädern macht den Verkehr klebrig und schwerfällig. Rowdytum und Rücksichtslosigkeit brechen aus der lethargischen Kette aus und preschen, ohne Rücksicht auf Verluste — es verlieren ja die anderen - beim letzten Blinken des „Gelb” noch über die Kreuzung.

Misanthrop würde ich werden, müßte ich Tag für Tag als Verkehrsposten auf der Kreuzung X stehen. Warum der Mann mit der weißen Mütze noch keiner ist?

„Es gibt auch andere. Man sieht sie nicht gleich Man muß sie herausklauben wie die Zibeben aus Mutters Kuchen.”

DER MODERNE VERKEHR ist nicht mehr eine technische Angelegenheit allein. Er ist ein soziologisches Problem geworden. Die statistische Zahl „sechshunderttausend Motorfahrzeuge in Oesterreich” bedeutet, daß jeder zehnte Oesterreicher in die soziale Kategorie „motorisierte Verkehrsteilnehmer” fällt. Da wird die technische Regelung des Verkehrs-von Tag-zu Tag wchfcigejv„ aber sie steht weit hinter dem Menschen zurück, der mit dem Volant Tod und Leben in seiner Hand hat.

Der Verkehrsposten auf der Kreuzung X kennt seine Pappenheimer:

„Ich arbeite im Achtstundentag. Warum soll ich mich zerfransen?”

„Ich sitze auf einem Zehntonner. Mir geschieht nichts, ich kann rempeln.”

„Wie herrlich die Fußgänger erschrecken, wenn man auf sie losfährt.”

„Ich habe einen schnelleren und teureren Wagen. Die Leute sollen das nur sehen.”

„Ich habe zwar nur einen kleinen Wagen, aber die großen sollen sehen, wie ich sie abhänge.”

Und das einsame weiße Schaf? Ich habe es-entdeckt: Der junge Mann, der einer alten Dame den Weg zur Straßenbahnhaltestelle abschnitt und der sich anbot. sie nach Hause zu fahren, als er sah, daß sie durch seine Schuld die Straßenbahn versäumt hatte.

Das ist das Bild der Kreuzung X in Wien, aufgenommen mit drei Pfunden Belichtungszeit.

SONNTAGS AUF DER LANDSTRASSE: „Ja, wie wär’s mit einer kleinen Ueberland- partie? Aber gehn S’, Herr Franz, aber schaun S’, Fräuln Marie”, war die Devise von früher. Heute heißt es: „Laßt die Pferdestärken schnauben.” — Auf gewissen Strecken, läßt das Ziel das SpieienlasSen der Kräfte bereits unterwegs ratsam erscheinen. So zum Beispiel an Wochenehden zwischen Wien und dem Semmering. Ich habe nirgends so viele Mercedes 190 und 300 SL gesehen wie an Sonntagen zwischen Wien und dem Semmering Fast immer saßen Herren mit graumelierten Schläfen am Volant, die sichtlich Kraft und Jugend sp den lassen wollten. Und in rasenden Volksv agen sitzen Buchhalter, die nach der Devise „wochentags kaue ich Bleistifte, sonntags fresse ich Kilometer” leben. Eine blutige Rinne ist diese Triester Straße, die an Wochenenden mehr Todesopfer fordert als irgendeine andere Straße in Oesterreich.

Nicht immer so kraß, aber in ähnlicher Art spielt sich der Sonntag auf allen Ausfallsstraßen Wiens ab. Hier habe ich als Kronzeugen den Mechaniker Franz des Streckendienstes des OeAMTC. „Ich spreche über die Sonntagsfahrer. Sie lassen den Alltag in der Stadt zurück und suchen ihr Erlebnis vor den Toren. Es gibt vielerlei Leute, und es gibt vielerlei Arten, Erlebnisse zu suchen. Ich sehe große Familien, die in alten Steyr-Wagen die Straße entlang fahren und ganz genau wissen: Die Straße, auf der wir fahren, führt durch eine Landschaft, am Ufer eines Baches kann man lagern. Aber mitten unter ihnen wüten die motorisierten Wehrwölfe — wochentags biedere Bürger, sonntags reißende Bestien.” Das Resultat: In jeder Woche wird der Sonntag zum größten Trauertag. Mehr als 70 Tote blieben im vergangenen Jahr auf den sonntägigen Straßen in! und um Wien zurück, mehr als 1500 Krüppel werden ihr Leben lang irgendeines der 52 Sonntage des Jahres 1958 gedenken! ‘

„FRÜHER HABEN SIE bei Demonstrationen Autos umgeworfen, heute fahren sie in Autos.” — Mit diesen Worten beschreibt ein alter Polizeibezirksinspektor einen entscheidenden Wandel: Die Prosperität schuf das Auto als Massenverkehrsmittel, und nur: wirkt das Auto selbständig vielter. Man kann nicht gut sein Auto in einer Seitenallee der Ringstraße parken, um an der Demonstration in der Mitte des Ringes teilzunehmen. Autofahren gibt ein Gefühl der Sättigung, auch wenn man zu Hause auf einem Strohsack schläft. Aber letzte Ueberreste des Klassenkampfes im Wiener Verkehrsbild sind die „Berufsfahrer”, die in jedem Privatauto einen „Herrenfahrer” wittern, der auf der Straße eigentlich nichts zu tun hat.

Und dann ist das Auto ein Ventil, das unsere Zeit dem Haß, dem Zorn und der Zwecklosigkeit läßt. „Der Mann, der früher seine Frau quälte, martert heute seinen Wagen”, sagt der Revierinspektor, und er meint: In vielen Fällen ist ein Autounfall ein getarnter Totschlag an einem unschuldigen Opfer. Der Zorn, der einem früher die Hand zum Schlag heben ließ, drückt einem den Fuß auf das Gaspedal.

Sö ist letzten Endes fast immer der Mensch die Ursache, wenn aus einer Autofahrt eine Tragödie wird. „Wenn lauter ausgeglichene, selbstbewußte Menschen am Volant säßen, gäbe es einen Bruchteil der Unfälle. Auch wenn die Menschen mit doppelt so großer Geschwindigkeit führen”, resümiert ein Offizier der „Weißen Mäuse”. „Würde man aber ein Rudel Neurotiker und Neurastheniker mit Autos versehen, würden sie innerhalb kurzer Zeit so viele Unfälle verursachen als ihre Anzahl beträgt, auch wenn sie nicht schneller als zwanzig Kilometer je Stunde fahren.” An die hundert Beispiele in einer Woche zeigen die Wahrheit des Satzes, daß die Unfallverhütung im Verkehr mit der Verhütung jedes asozialen Handelns b-ginnt.

‘DAS BEDEUTET NUN NICHT, daß man die technische Seite der Unfallverhütung nicht vollkommene’ gestalten solle, daß man nicht allen technischen Verkehrsvorkehrungen der Behörden mit strenger Kritik gegenüberstehen müsse ln Wien bildete sich eine Institution, die sich „Die Arbeit an Mensch und Verkehr” zur Aufgabe macht: das Kuratorium für Verkehrssicherheit. Es stehen ihm die Mitgel des OeAMTC zur Verfügung, die prächtigen Männer der Straßen- wacht, die Prüfungsanlagen. Nur schade, daß es sich mit der anderen Institution der Verkehrssicherheit, der Wienei Polizei, nicht allzu gut zu verstehen scheint. Wenn das Kuratorium A sagt, sagt die Polizei O; wenn das Kuratorium O sagt, sagt die Polizei A, und da es im Straßenverkehr noch keine Koalition zwischen Touring- Club und Polizei gibt, ist das Resultat für den zivilen Teilnehmer am Verkehr meistens negativ.

In diesem Gewirr von Ansichten ist es notwendig, daß wir uns in stundenlangem Fahren durch die Straßen selbst eine Meinung über die Maßnahmen bilden, die auf der Tagesordnung der Verkehrspolitik stehen und morgen angewendet werden sollen. Brennpunkte der Diskussion sind Parkverbot jind Blaue Zone.

Als ich am 2. Jänner durch die Straßen Wiens fuhr, fand ich daß die Stadt sich plötzlich verändert hatte. Ich hatte nach ‘an- ger Zeit wieder das Erlebnis der freien Straße. Fahren war wiederum Fahren und nicht ein motorisiertes Hindernislaufen auf engen Fahrbahnen. Es soll nicht sein, daß die freie Perspektive, die das Fahren und das Gehen zur Freude macht, wieder durch tausende parkender Autos verstellt wird. Die Stadt ist schöner geworden, das muß so bleiben. Das klingt unpraktisch, nicht funktionell, aber schließlich leben wir auch in dieser Stadt und funktionieren nicht nur. Ich fand auch noch keinen Wiener Autobesitzer, der das Auto in sein Schlafzimmer mitnehmen mußte, weil er unten keinen Platz hatte, oder de- länger als zehn Minuten im Kreis fahren mußte, um einen Parkplatz zu suchen. Und der Weg des motorisierte. Bürgers von seinem parkendeni’FahiaSue bis zu seinem Ziel, seinem Geschäft oder seiner Wohnung, muß nicht unter allen Umständen kürzer sein als der Weg des Tramwaybenützers von und zur Haltestelle. (..Aufgewachsen in einer samtenen Sänfte”, hätte’ meine Großmutter gesagt, wenn einer mit seinem Auto unbedingt bis zu seinem Geschäft oder seinem Bett fahren muß )

EINE TOSENDE VOLKSWUT erhob sich gegen das Parkverbot, als es in Kraft trat. Das war zum Teil die Folge der mangelhaften Offenheit, mit der man es der Oeffentlichkeit vors.teilte. Die Volkswut hat sich langsam ge- _ legt, weil man in den freien Straßen lernte, was fahren heißt.’ Jetzt berät man, ob es erhalten bleiben soll!

Am 16. März sind wir so weit, und die zweite Maßnahme soll in Kraft treten: die Blaue Zone. Innerhalb des Territoriums im Straßenring, der durch die Kärntner Straße, von der Annagasse an, Stephansplatz — Rotenturm- straße — Lichtensteg — Hoher Markt — Tuchlauben — Kohlmarkt — Michaelerplatz’ — Reitschulgasse — Augustinerstraße — Führichgasse begrenzt ist, wird man nur noch eine Stunde lang parken dürfen. Die Parkzeit wird auf einer Papierscheibe erkennbar sein, die man in einer Trafik kaufen kann. Natürlich bleibt die Möglichkeit, obwohl es verboten ist, daß einer dem Portier ein paar Schilling in die Hand drückt, damit dieser von Stunde zu Stunde den Zeiger nach vorne schiebt.

DER VERKEHR SCHUF einen eigenen Staat im Staate, abfcr in der Mitte ist der Mensch hinter dem Volant. Alles bewegt sich in ihm, alles schwirrt um ihn. Er möchte Gas geben und die Wand der fremden, der feindseligen Zeichen und Geschehnisse durchbrechen. Man muß sorgfältig auf ihn achten, damit er nicht das tut, was er manchmal möchte, sondern das. was er immer tun muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung