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Lot des Fußgängers

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Ich bin ein unmoderner Mensch. Ich gehe nämlich zu Fuß. Auf mich sehen die Motorisierten herab wie auf ein Huhn, das über die Straße rennt. Aber ich versichere Ihnen, ich sehe nicht hinauf zu den Motorisierten. Keines Blickes würdige ich sie, wenn die Straße frei ist —- und auf kleinen Pfaden gibt es sie ja gar nicht.

Was sind das doch für arme Geschöpfe, die Motorisierten! Sie haben nie Zeit, sie müssen rasen! Hunderte von Vorschriften und Verkehrstafeln wirbeln in ihren Köpfen. Chronische Verkehrsangst beherrscht ihre Sinne. Rasanter Ehrgeiz und unaufhörlicher Aerger mit ihren lieblosen Motorkollegen lassen ihre Adern schwellen und wenig freundliche Worte schleudern sie den siegesbewußten Ueberholern zu! Arme Menschen! Ermattet steuern sie am Ende ihrer Raserei einem der übervölkerten Parkplätze zu und sind heilfroh, wenn sie wieder unfallfrei auf ihren schwachen, kümmerlichen Füßen stehen dürfen.

Sehen Sie, da lob ich mir den Fußgänger! Er hat Zeit. Er muß Zeit haben für seine „pedes apostolorum", für die .gottgeschaffenen Füße! Während die Motorsportler rasen, schlendere ich gemütlich des morgens zu meiner Arbeitsstätte. Der Weg ist ein einziger Genuß. Ich wähle nicht immer den gleichen. Einmal gehe ich durch den Park, halte jedesmal an, wenn ich unter dem kühlenden Dach der Lindenallee dahinschreite, bei der Entenfamilie des Teiches bleibe ich stehen und erweise mich als großen Gönner des Familienlebens. Ein anderes Mal ziehe ich die kleinen Straßen vor. Dort treffe ich immer um die gleiche Zeit auf die gleichen Gesichter. Das geht so lange, bis eines einmal zu grinsen anfängt, dann ist die Freundschaft geschlossen und zwei Menschen grüßen einander. In aller Ruhe betrachte ich die Schaufenster mit den Neuigkeiten des Textil-, Kosmetik- und des Buchhandels. Das Uebetholen ist für mich kein Problem und selbst wenn einmal ein Zusammenstoß mit einem Fußgängerkollegen stattfinden sollte, was eine Rarität ist, so ist das kein Unglück. Oder haben Sie schon einmal die Rettung ausfahren sehen, wenn Sie das Pech hatten, mit einer Dame zusammenzustoßen ? Selbst wenn ich einmal mehr als 0,5 Prozent Alkohol mir einverleibt habe, wird kein Verkehrsschutzmann mein kostbares Blut anzapfen und den Alkoholgehalt überprüfen. Mit einem Wort, ich bin ein geselliges Wesen. Der Motorisierte jedoch ist das ungeselligste, was Sie sich vorstellen können. Er kennt nur sich und seinen von glänzendem Blech umgebenen Motor. Das liegt in der Natur der Sacbe, da kann er gar nichts dafür.

Der Münchner Chirurg, der kürzlich behauptete, das Motorradfahren sei eine Krankheit, die in hohem Ausmaß zum Tode führt, übertreibt vielleicht ein bißchen. Die Umkehrung: Fußgehen ist ein chöne Uebung, die

Leib und Seele gesund erhält, ist aber gewiß nicht übertrieben.

Ich brauche keine Garage und keinen Parkplatz. Ich bleibe stehen, wo ich will. Mein Revier ist die weite Welt und nicht die Straße. Van meinen geringen Betriebskosten will ich lieber nicht reden, es könnte sonst dem findigen Finanzminister einfallen, eine Selbstbeför- derungs- oder Lustwandelsteuer oder beides einzuführen.

„Oft ist der Mensch selbst sein größter Feind" schrieb einstens Cicero. Heute müßte er in bezug auf den Motorisierten sagen: „Oft ist der motorisierte Mensch sein eigener Todfeind!" Aber lassen wir das! Oder sollen wir doch noch eine Lebensregel vom Weisen Sokrates abwandeln: „Wir leben nicht, um zu essen; wir essen, um zu leben." Das würde dann auf motorisch lauten: „Wir leben nicht, um zu rasen; wir rasen, um zu leben!"

Seltene Dinge haben Wert. Waren, die in Massen auf dem Viktualienmarkt vorhanden sind, verlieren an Wert. Bei der täglich zunehmenden Motorisierung können die Fußgänger ihren steigenden Wert an den zehn Zehen ihrer Füße ablesen! Wir werden immer weniger und gewinnen immer mehr!

Sonntag ist Ruhetag. Das können die Motorisierten doch bei bestem Willen nicht behaupten, wenn sie inmitten des sonntäglichen Verkehrsstromes auf dem Fließband der großen Straßen ihrer pathologischen Ruhelosigkeit frönen. Sie rasen so weit sie nur können, und jeder meint, er müsse noch ein Stück weiter kommen — siehe da — schon kommen die Massen der anderen Stadt entgegen und das ersehnte Ziel — das nichtexistente Autoparadies — finden sie nimmermehr. Ihre Lungen aber sind voll Auspuffgas, und noch im Traum hören sie den ohrenbetäubenden Lärm der anderen und stehen Aengste aus, ob die Phonmessung ihres Motors nicht den Entzug ihres Führerscheines bedeutet.

Die Fußgänger aber Was soll ich übrigens unsere Geheimnisse noch weiter ausplaudern? Warum soll ich von den verschwiegenen Waldwegen, den kleinen Gebirgspfaden, dem paradiesisc Hfcn Rasenstück erzählen ? Es könnte sein, daß die Motorisierten auf unseren Geschmack kommen.

Eine Bitte habe ich an den verehrten Leser: Bitte verraten Sie mein Bekenntnis keinem Werbefachmann der Autobranche. Möglich, daß der Mann mich für verrückt erklärt. Was würde aber geschehen, wenn mein Lob des Fußgängers ihm werbepsychologisch für seine Branche schädlich erscheint und er nun seinem Manager vorschlägt, die Serienproduktion von Rollern und Vierradlern auf automatische Fußgehapparate umzustellen. O Gott, o Gott, nur das nicht!

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