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21 Meter — Weltrekord

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DER MANN WARF DEN SPEER 21 Meter weit und erzielte damit einen Weltrekord. Das ist ein Witz? Das ist kein Witz. Das ist die in einem harten Training erreichte Höchstleistung eines gehandikapten Menschen. Sein Handikap heißt Querschnittlähmung. Der Mann heißt Walter Prössl

SIE STEUERN IHRE AUTOS quer durch Europa zu sportlichen Veranstaltungen. Sie vertreten die österreichischen Farben gegen schwerste internationale Konkurrenz. Sie erringen Olympiamedaillen und stellen Weltrekorde auf. Doch nur ein winziger Kreis von Freunden und Eingeweihten feiert ihre Siege, und außerhalb dieses Kreises kennt kaum jemand ihre Namen.

Doch sie betreiben den Sport ja auch nicht, um bekannt zu werden oder Geld zu verdienen, sondern sie kämpfen dabei gegen ihren ärgsten Feind, die eigene Behinderung. Am Ziel jeder Autofahrt vertauschen sie den Wagen mit dem Wagerl.

Jahr für Jahr im Herbst findet in der Bundessportschule Obertraun der einwöchige Sportkurs für Querschnittgelähmte statt. Die Bundessportschule wurde ausgewählt, weil ihr Verwalter, Edmund Dworak, Verständnis für die Probleme der Körperbehinderten hat, vor allem aber, weil hier genügend ebenerdige Wohnräume zur Verfügung stehen. Die paar Stufen, die trotzdem zu überwinden sind, werden mit Hilfe von Brettern entschärft. Erst wenn der gesunde Mensch die Welt einmal einen Tag lang mit den Augen eines Gelähmten betrachtet, fällt ihm auf, wie viele unnötige Stufen er Tag für Tg passiert, wie voll von Hindernissen die Welt eigentlich ist.

NICHT NUR IHREM ROLLWAGEN stellen sich Hindernisse entgegen. Was immer Querschnittgelähmte auch tun, sie haben gegen Hindernisse anzukämpfen. Allein schon die Tatsache, daß sie in der Lage sind, selbständig ein Auto zu besteigen und es zu lenken, daß sie einen Beruf ausüben, daß sie nebenbei noch einen Sport ausüben, beweist, was menschliche Willenskraft vermag. Ein Speer, 21 Meter weit geworfen, eine Strecke von 50 Meter in einer Minute geschwommen, das sind sehr bedeutende Leistungen. Allein, daß sie ein erfülltes menschliches Leben führen, statt unter ihrem Schicksal zusammenzubrechen, ist schon eine bedeutende Leistung.

Im Rollstuhl sitzend, werfen sie den Speer. Sie selbst allerdings nennen den Rollstuhl lieber „Wagerl“ und sich selber „Wagerlfahrer“, das klingt nicht so hart. Mit dem Wagerl also fahren sie direkt an das Schwimmbecken heran, wenn sie für eine Olympiade oder für ihre noch härteren, alljährlich in England stattfindenden Konkurrenzen trainieren. Vom Wagerl aus schleudern sie den Diskus, stoßen sie die Kugel, wirbeln sie die Keule durch die Luft.

In ihrer Sportwelt gelten selbstverständlich andere Leistungsnormen, aber hier wird nicht weniger hart gekämpft als bei den Gesunden. Nur fairer und freundschaftlicher. Denn nicht der andere, der mehr kann, sondern die eigene Behinderung ist der Gegner, deshalb gibt es hier keinen Neid.

DIE MEISTEN LEUTE haben überhaupt keine Ahnung davon, daß Querschnittgelähmte tatsächlich Sport betreiben und in eigenen Sportveranstaltungen ihr diesbezügliches Können messen. Schließlich hat die Zahl der Querschnittgelähmten erst in den allerletzten Jahren stark zugenommen — Straßenverkehr und Sport tragen die Schuld daran.

Zweitens aber gab es noch vor kurzer Zeit wenig Chancen, eine solche Verletzung zu überleben, und wer davonkam, hatte wenig Hoffnung, das Spital verlassen und im Rollstuhl weitgehend selbständig weiterzuleben.

Noch etwas kommt dazu. Es gibt zwar mehr an den Rollstuhl gefesselte Menschen als je zuvor, aber sie treten im Straßenbild nicht mehr in Erscheinung. Für keine andere Menschengruppe hat die Motorisierung eine solche Erleichterung bedeutet wie für sie. Ein Knopf am Lenkrad ermöglicht Bedienung mit einer Hand, die andere ist frei, um Gashebel, Kupplung und Bremse zu betätigen. Der Umbau eines normalen Wagens zum Versehrtenfahrzeug ist ohne großen Aufwand durchführbar.

So kommen die Kursteilnehmer von Obertraun denn fast durchweg mit dem eigenen Wagen. Mit Hilfe einer über dem Fahrersitz angebrachten Griffstange schwingen sie sich aus dem Rollwagerl in das Auto, dann wird das Wagerl zusammengeklappt und hinter den Sitz geschoben. Manche erreichen Tag für Tag ganz ohne fremde Hilfe ihren Arbeitsplatz. Manche machen sich durch ein kurzes Hupsignal bemerkbar, wenn sie da sind, worauf morgens die Arbeitskollegen und abends die Angehörigen zu Hilfe kommen.

Sie stellen also ihren Mann. Sie erhalten ihre Familien. Sie pflegen ihre Hobbys. Sie haben ihren Freundeskreis — manchmal mühsam! — dazu erzogen, sie nicht zu bemitleiden, denn unter dem Mitleid leidet mancher mehr als unter der Lähmung.

In vielen Fällen ist ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft am Mitleid, sprich an der Dummheit, an den gaffenden Blicken, an den gedankenlosen Bemerkungen der Umwelt gescheitert. Doch mit dem Rückzug aus der Welt der Gesunden in die vermeintliche Geborgenheit der eigenen vier Wände beginnt der große Abrutsch in die Lethargie.

AUCH HEUTE NOCH DREHEN SICH IN WIEN von drei Leuten durchschnittlich zwei auf der Straße um, wenn sie einen Gelähmten im Wagerl sehen. Sie drehen sich nach ihm um, aber sie denken nicht daran, ihm zu helfen. Sie denken nicht daran, ihm eine Wohnung zu bauen, in dre er von der Straße mit dem Wagerl direkt hineinfahren kann, deren Türen breit genug für sein Gefährt sind. Sie denken nicht daran, daß es Menschen gibt, für die die acht oder neun Stufen vom Hauseingang zum Aufzug und von der Aufzugs- zur Wphnungstür eine unüberwindliche Barriere zwischen sich und der Umwelt bedeuten. Und wenn er um die Erlaubnis ansucht, die Stufen zur Tür seines Reihenhauses durch eine mit dem Wagerl befahrbare, kurze Rampe zu überbrücken, dann bedauern sie höflich, denn irgendwelche Bestimmungen sind dagegen.

Einer, der ein Lied davon singen kann, ist Winfried B. Er ist beim Turnen vom Hochreck abgestürzt und hat als Gelähmter den Beruf eines Bilanzbuchhalters erlernt. Er demonstriert, wie man, das Wagerl artistisch auf zwei Rädern in der Balance haltend, Treppen hinunterfahren kann. Hinauf geht es leider nicht...

Unglaublich klingt, was der ehemalige Bergmann Karl K. zu erzählen hat. Er wurde 1960 in Grünbach verschüttet. Er war Bergmann mit Leib und Seele. Dank seiner Unfallrente lebt er heute mit seiner Familie kaum schlechter als vor dem Unglück, aber es gab ihm bis vor einiger Zeit immer einen Stich, wenn er seine alten Kameraden in den Schacht einfahren sah. Nun fahren auch sie nicht mehr ein ...

Dieser Karl K. ist unter den Querschnittgelähmten, die zum Sportkurs nach Obertraun kommen, einer der wenigen, die keinen Beruf ausüben. Aber er hat eine ehrenamtliche Tätigkeit angenommen. Wer in fünf Stunden zehn Tonnen Gestein an die Erdoberfläche schaffen konnte, verträgt das Stillsitzen in jungen Jahren nicht.

Der ist auf der Heimfahrt vom Dienst mit dem Roller verunglückt. Er war Angehöriger der Exekutive. Jeder Arbeiter, jeder Privatangestellte bekäme eine Rente nach dem ASVG, von der er leben könnte. Ein Bundesbeamter ist nicht unfallversichert. Man muß es zweimal gesagt bekommen, um es zu glauben.

So bekommt der querschnittgelähmte Beamte nur eine Pension. Genau die Pension, die ihm auf Grund seiner Dienstjahre zustünde, wenn er den Dienst freiwillig quittiert hätte. Er ist knapp 30 Jahre alt. Er hat eine Frau zu versorgen. Aber in Wirklichkeit geht sie zur Arbeit, um für ihn sorgen zu können, denn seine Pension macht ungefähr 800 Schilling aus.

DIE GELASSENE HEITERKEIT, die so viele der Kursteilnehmer an den Tag legen, wirkt einerseits echt und ist anderseits doch kaum zu glauben. Das muß doch Fassade sein, dahinter muß doch das Elend hausen — das glaubt man wenigstens. Nach einigen Tagen weiß man: Die Gelassenheit, die Heiterkeit ist echt. Echt wie ihre Freundlichkeit und wie der unmittelbare menschliche Kontakt, den man zu diesen Menschen sofort gewinnt.

Haben sie Kräfte entwickelt, die der gesunde Mensch kaum je in sich entdeckt? Haben sie charakterliche Reserven mobilisiert, Möglichkeiten genützt, die wir anderen zwar besitzen, aber nicht benötigen und daher schlummern lassen?

Mag sein, daß hinter der Fassade, dort, wo so viele das nackte Elend vermuten, ein Bereich menschlicher Möglichkeiten beginnt, dessen Vorhandensein wir nur selten ahnen.

KURSTAG IN OBERTRAUN. Aus den eingebauten Lautsprechern in den komfortabel eingerichteten Stuben dringen launige Sprüche und eine den mühsamen Prozeß des Aufwachens fördernde Musik. Eine Spezialität der Bundessportschule.

7.45 Uhr: Atemgymnastik. Sie ist besonders wichtig, wenn man wenig Bewegung macht und im Wagerl nicht gerade kerzengerade zu sitzen pflegt. Langsam einatmen, stoßweise ausatmen. Wenn sich rund 30 Teilnehmer und ein halbes Dutzend Sportlehrer daran beteiligen, kann man es 100 Meter weit hören.

8 Uhr: Frühstück. 9 Uhr: Beginn des Turnens in der Halle. Vorerst eine Stunde Ballspiel zum Aufwärmen. Vor allem Korbball. Es geht ziemlich wild zu. Die Wagerln sind zum Glück recht massiv gebaut. Stürze werden nicht tragisch genommen. Anschließend Turnen auf der Matte mit dem Medizinball. Selbstverständlich erreicht jeder seinen Platz aus eigener Kraft.

Ein Sportlehrer ist selbst gelähmt. Walter Prössl, aus München hergereist, vor seiner Erkrankung aktiver Sportler, vor allem Skiläufer, heute dreifacher Weltmeister im Sport der Querschnittgelähmten. Er führt den anderen vor, wie man mit dem Speer zielt, wie man sich dann im Wagerl möglichst weit nach hinten neigt und mit möglichst viel Kraft wirft. Ohne Anlauf, aber mit voller Wucht.

Einer, der auf Grund seiner Halswirbelverletzung auch die Hände nicht mehr besonders gut gebrauchen kann, kämpft verbissen, um seine Leistung von knapp drei Meter zu verbessern.

Sie sind ja umso schlechter daran, je höher die Wirbel Verletzung sitzt. Wesentlicher ist die sogenannte Läsionshöhe, das ist die Höhe jenes Wirbels, von dem an abwärts die komplette Lähmung beginnt. Alles, was sich unter diesem Wirbel befindet, ist motorisch und sensorisch stillgelegt, nicht gebrauchsfähig und unempfindlich für jeden Schmerz.

Trotzdem verbringen viele querschnittgelähmte Sportler nicht nur relativ, sondern auch absolut erstaunliche Leistungen. In einer Disziplin, im Bogenschießen, sind sie jeder Konkurrenz gewachsen. Einziger Nachteil dieser Sportart: ein guter Bogen kostet rund 3000 Schilling. Ein ordentlicher Pfeil 60 bis 90 Schilling.

Aber auch in anderen Sportarten geben sie ernstzunehmende Gegner ab. Wer sich als Gesunder zum Beispiel auf eine Partie Tischtennis mit Rosa Kühnei einläßt, sollte nicht allzu siegesgewiß sein. Er muß ein sehr guter Spieler sein, um gegen die gelähmte Sportlerin zu gewinnen. Bei der letzten Olympiade der Querschnittgelähmten, die jeweils anschließend an die Olympiade am gleichen Ort stattfindet, hat sie — es war in Tokio — für Österreich vier Goldmedaillen gewonnen.

ÖSTERREICH KÜMMERT SICH NICHT VIEL DARUM, ob seine gelähmten Sportler nun siegen oder nicht. Dabei haben wir auf dem Gebiet der Sozialmedizin einen ausgezeichneten Ruf und vieles, was im Rehabilitationszentrum Tobelbad für die Querschnittgelähmten entwik- kelt wurde, findet heute Beachtung und Nachahmung in anderen Ländern. Hierher kommen sie aus den Unfallkrankenhäusern, hier werden sie auf das Leben unter völlig geänderten Umständen vorbereitet, hier bauen sie ihre auf dem Krankenlager zurückgebildete Muskulatur wieder auf, hier lernen sie, ihre Körperfunktionen wieder zu beherrschen. Hier werden sie mit dem Gedanken an den Rollwagen konfrontiert, hier überwinden sie die große seelische Krise, hier machen sie die Entdeckung, daß auch für den querschnittgelähmten Menschen ein erfülltes, sinnvolles und schönes Dasein möglich ist. Auch der Verband der Querschnittgelähmten Österreichs, der den Großteil der Kosten für die jährliche Sportveranstaltung in Obertraun trägt, hat in Tobelbad seinen Sitz.

Einst ließ man die gelähmten Menschen langsam und qualvoll zugrundegehen, weil man es nicht besser wußte. Heute werden sie zu gehandikapten, aber einsatzfähigen, vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft.

Sie haben ihr Schicksal überwunden. Sie leben wieder. Sie leben zwischen und mit uns, sie leben, wie jeder andere auch. Und so sollte man sie auch behandeln. Ohne Mitleid, aber hilfsbereit.

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