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Statist, die menschliche Kulisse

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IN ZERLUMPTEN KLEIDERN, ein Krügelglas voll Wasser vor sich auf dem Tisch, sitzt der Alte da und kaut an einer hausgemachten Mehlspeise. Ein großer Mann, angetan mit langer, roter Kutte, in der Hand einen Helm, kommt langsam und würdevoll wie ein Feldherr auf den Alten zu und fragt in urwüchsigstem Wiener Dialekt: „Was ißt denn da?" — „Topfen- strudel“, antwortet der Gefragte mit vollen Backen. Umständlich läßt sich der „Rote“ jetzt neben dem in Lumpen Gehüllten nieder, und die beiden beginnen eifrigst zu diskutieren.

DIESES SONDERBARE PÄRCHEN ist nicht das einzige komisch anmutende Bild, das sich einem bietet. Schier ein Heer von Männern, bekleidet mit weiß-gelben und roten Kutten oder angetan mit schmutziggrünen Lumpen, hat sich hier versammelt. Nur ganz selten ist jemand in Zivil zu sehen. Abseits von dieser Gesellschaft sitzen junge und ältere Damen in weiten Gewändern und schlürfen Mokka.

Wo sich einem dieses bunte Bild bietet — die Schicksale und Charaktere der Darsteller sind ebenso vielfarbig —, ist nicht etwa ein Separee eines Ballsaales, wo gerade ein Gschnasfest auf vollen Touren läuft. Es ist nur eine Kantine — allerdings eine besondere: die der Wiener Staatsoper. Und das Bild, das hier allabendlich zu sehen ist, malt sich selbst viel besser und eindrucksvoller, als es je ein Künstler malen könnte. Es ist immer ein anderes. Einmal scheint es der düsteren spanischen Zeit entnommen, ein andermal glaubt man sich in ein altagyptisches Heerlager versetzt.

STATISTEN. Bei diesem Wort pflegt man einen Mundwinkel heranzuziehen und eine Miene aufzusetzen, die wohl besagen soll: Was sind sie denn schon, diese Statisten! Menschliche Kulissen und nichts anderes! Doch macht sich niemand die Mühe, über diese menschlichen Kulissen nachzudenken und sich zu fragen, weshalb die Männer und Frauen wohl Kulissen geworden sind.

BEISPIELSWEISE DER ALTE, der in der Kantine bei einer mitgebrachten Mehlspeis’ und einem Glas’ Wasser sitzt; er hätte statt dem Wasser sicher lieber auch ein Glas Wein oder Bier vor sich auf dem Tisch, wie seine „Kollegen“. Nicht schwer zu erraten, weshalb er es nicht hat: Das Geld, das er heute Abend verdient, muß zum Leben reichen.

So düster sein Kostüm aussieht, das er als Bühnengefangener trägt, so düster ist auch seine Vergangenheit. Schon in frühester Jugend war es sein größter Wunsch, Schauspieler zu werden. Da aber die Bretter, die die Welt zu bedeuten pflegen, ein recht unsicherer Boden sind, ließ ihn sein Vater lieber Feinmechanik erlernen. Trotzdem gab er die Schauspielerei nicht auf. Nach dem ersten Weltkrieg — er war eingerückt — bekam er einige kleinere Rollen, und später dann sogar zwei Hauptpartien in Sprechstücken. Das Schicksal schlug unerbittlich zu, als sich ein Bühnenerfolg einzustellen begann: der zweite Weltkrieg nahm seinen Anfang. Und als die schrecklichen Jahre vorbei waren, stand er mit seiner Frau da. Zu alt und innerlich zu hohl, um nochmals von vorne zu beginnen.

Heute ist er 75 Jahre alt, seine Frau nicht viel jünger. Die beiden leben von einer winzigen Rente, und zur Aufbesserung des schmalen Lebensunterhaltes geht der Alte, sooft wie nur möglich, statieren. Die Statistenführer kennen ihn schon und wissen Bescheid. Sollte man aber jetzt glauben, der Alte ziehe das Kostüm nur an, damit er die Abendgage von ganzen fünfundzwanzig Schilling einstreifen könnte, irrt man gewaltig. Er liebt die Theaterluft, auch wenn er sie nur auf diese Art einatmen kann.

WAR DIE KOMPARSERIE FRÜHER ein totes Element auf der Bühne — heute ist sie es nicht mehr. In „Andre Chenier", „La Boheme“, „Carmen" und vielen anderen Opern leben die Bühnenbilder dank den Statisten, über die man heute noch immer die Nase rümpft. Durch die moderne Regieführung wurde die Komparserie zum Leben erweckt und ist heute von den Opernbühnen gar nicht mehr wegzu- ienken. Selbst der gestrenge Maestro Herbert von Karajan bedient sich bei Beleuchtungs- und Inszenierungsproben gerne der Statisten. Man überträgt ihnen sogar kleine Rollen. So kommt sehr oft der Schrei, den der gefolterte Maler Mario Cavaradossi im zweiten Akt von „Tosca“ in dem Kämmerchen au3Stoßt, aus der Kehle eines Statisten.

Jeden Abend, vorausgesetzt, daß das Stück Statisten verlangt, drängen sich eineinhalb Stunden vor Beginn der Vorstellung Männer und Frauen, Burschen und Mädchen vor einem Seiteneingang der Oper. Im Kassenvorraum suchen dann die Statistenführer Klos und Kres ihre Mannen aus. Die meisten kennen sie schon, nur vierzig Prozent sind immer heu.

Der Name des Engagierten wird in eine Liste eingetragen, der Mann — oder die Frau — bekommt eine Nummer und muß unterschreiben. Das Ziel ist nun die Statistengarderobe im dritten Stock, wo in langer Reihe auf den Haken schon die Kostüme warten. „Aida“ steht heute auf dem Spielplan, und 166 gelbe und rote Soldaten, Wachen, Gefangene und Hohepriester müssen eingekleidet und geschminkt werden. Zwar ist der „große Auftritt“, der Triumphmarsch, erst um etwa 20.30 Uhr, doch schon lange vorher muß alles bühnenreif sein.

EMSIGES TREIBEN herrscht in der Garderobe. Da plagt sich einer mit dem schweren Gewand ab, einem anderen passen die Schuhe nicht, er sucht verzweifelt neue. „Schminken gehen“, ruft eine Stimme, und die bereits fertigen Krieger stolzieren davon. Stolzieren deshalb, weil das schwere, bodenlange Gewand, das einige Kilogramm wiegt, keine andere Bewegungsart zuläßt. „Hier,bitte, Platz nehmen!“ sagt der Schminker und fährt auch schon in Windeseile mit einem Schwämmchen übers Gesicht, zieht Augen und Augenbrauen mit einem Konturenstift nach, und man ist fertig. Aus dem Spiegel starrt dann ein ganz fremdes Gesicht entgegen.

„Zur Kasse! Zur Kasse!“ ruft jemand, und schon eilen die wackeren Krieger, um ihren „Sold“ zu holen. Fünfundzwanzig Schilling. Auch die Gefangenen, die mit schwarzgeschminktem Gesicht umherlaufen, bekommen diese Gage. Nur die Leibsklaven des Pharao, mit Lendenschurz und Sandalen bekleidet, erhalten vierzig Schilling und dürfen nach ihrem Auftritt ein Bad nehmen. Ihr ganzer Oberkörper und die Beine sind mit Schminke bedeckt, und der finanzielle Unterschied nennt sich Schmink- honorar.

Bei dem Schalter, an dem die Gage abzuholen ist, herrscht reger Betrieb. Was einem auffälh, wenn man die Schlange, die auf ihr Geld wartet, betrachtet, ist, daß viele junge Burschen statieren gehen. Größtenteils Studenten, die sich so ein Taschengeld verdienen, aber auch junge Handwerker. Und die älteren? Alle Berufsgruppen sind vertreten, vom Mittelschullehrer bis zum kleinen Angestellten und Arbeitslosen. Die Beweggründe, weshalb sie statieren gehen, sind sehr verschieden. Für viele ist es der Reiz, einmal auf der Bühne zu stehen, für andere sind es die fünfundzwanzig Schilling. Viele arme Teufel holen sich ihr Geld am Schalter und laufen damit sofort in die Kantine, um dort eine Gulaschsuppe zu essen — die erste warme Mahlzeit seit zwei Tagen.

MITTLERWEILE IST ES IM GROSSEN HAUS FINSTER GEWORDEN, und der Dirigent hat den Taktstock zu Verdis „Aida“ erhoben. Auch in der Garderobe ist es still geworden. Aus dem Lautsprecher tönt die Stimme des Radames, der seine erste große Arie singt. Andächtig lauschen ein paar Opernbegeisterte und vergleichen das Können des Tenors mit dem anderer Sänger. Viele sind unter ihnen, die sich noch an Gigli, Piccaver oder Tauber erinnern.

„Statisterie auf die Bühne. Bitte leise sein, nicht sprechen, sonst ist der Chef böse“, kommt die Anweisung aus dem Lautsprecher. Herbert von Karajan steht heute am Dirigentenpult, und wenn da nicht alles wie am Schnürchen klappt, gibt es ein Donnerwetter. Auf der Seitenbühne bekommen die Soldaten — sie waren im ganzen Opernhaus verstreut — Lanzen in die Hand gedrückt, und die Statistenführer teilen ihre Leute ein. Zwischen einen erfahrenen zwei neue Statisten. Es darf nicht lange überlegt werden: wenn da was schief geht. Es heißt: die Augen schließen und die Daumen drücken.

Die wuchtigen Takte des Triumphmarsches setzen ein. Auftritt. Von allen Seiten strömen die Statisten auf die Bühne. Die neuen haben Lampenfieber. Amonasro wird auf seinem Thron hereingetragen, der Chor, das Ballett tritt auf. Die Bühne scheint übervoll. Radames bringt seine Gefangenen. Und man schaut. Für einen Neuen ist dieser Anblick faszinierend. Zwanzig Minuten vergehen wie im Flug. Doch dann beginnt es im Kreuz zu ziehen, und der Kopf unter dem Helm juckt höllisch. Der Arm, der die Lanze hält, schläft langsam, aber sicher ein, der Ärmel rutscht ein bißchen, oh, hoffentlich sieht man die Uhr nicht, die herunterzunehmen vergessen wurde. Das Kostüm scheint zentnerschwer. Die Minuten schleichen. Die staubtrockene Luft und das eigenartige Licht der Scheinwerfer werden zur Qual. Ein Niesen kitzelt in der Nase. Dümmste Gedanken kommen einem. Endlich fällt der Vorhang. Es ist wie eine Erlösung. Bis auf ein paar rote Soldaten, die in der Pause schnell den Auftritt für den Nilakt proben müssen, verlassen die Statisten die Bühne und eilen zurück in die Garderobe. Unterwegs debattiert man. „Hast du gehört, wie der Chor heut’ geschmissen hat?“ — „Der Chef wird denen einen sauberen Wirbel machen“, setzt einer schadenfroh hinzu, denn zwischen den „gehobenen“ Chormitgliedern und den „tief erstehenden“ Statisten herrscht eine kleine Rivalität.

IN DER GARDEROBE geht es drunter und drüber. Man will die Schminke und das Kostüm möglichst bald loswerden. Opernbegeisterte deshalb, uih weiter genießen zu können, die anderen, damit sie schnell nach Hause kommen.

War heute die Garderobe voll von ägyptischen Soldaten und Gefangenen, so werden es morgen spanische Granden, Mönche und Kardinäle sein. „Don Carlos“ steht auf dem Programm, eine Oper, die die meisten Statisten verlangt. Für 180 Personen müssen die Kostüme aus dem Depot herbeigeschafft werden. Den Schminkern steht große Arbeit bevor. Vielen der spanischen Granden wird ein flottes Bärtchen aufgesetzt, und die Mönche bekommen eine Glatzenperücke. Es ist ein imposanter Anblick, wenn der Grande nach seinem Degen greift und ihn in den Gurt steckt — und sich dann einer Wurstsemmel widmet.

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