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Volksfeind Lärm

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RRRRRRRRRRl Am Morgen reißt den Großstadtmenschen der Wecker mit lautem Rasseln aus dem Schlaf. Er greift nach dem Knopf des Radioapparats, der Lärm aus dem Lautsprecher macht ihn erst richtig wach. Auf der Straße empfängt ihn das Dröhnen der Autos, das Klingeln der Straßenbahnen, das Kreischen der Bremsen. Dann ist er endlich in der Fabrik, wo die Werkzeugmaschinen rattern oder die Büromaschinen klappern und die Telephone klingeln. Acht Stunden lang. Nur zu Mittag begibt man sich zur Abwechslung auf eine halbe Stunde vom Lärm der Arbeitsstätte in den Lärm der Werks-küche mit ihrem Tellerklappern und Stimmengewirr.

Abends, daheim — Stille, Erholung? Aber wo! Der Radioapparat wird sofort wieder aufgedreht, meist ohne Rücksicht auf das Programm, egal, ob jemand zuhört — man braucht ja eine Geräuschkulisse. Man hält es ohne Lärm nicht mehr aus. Ist dann endlich das Licht abgedreht, schläft der Großstädter, dann erzittern alle paar Minuten oder Viertelstunden die Fensterscheiben seines Schlafzimmers vom Lärm eines mit Vollgas vorüberbrausenden Autos oder Motorrades. Dazwischen die Paukenschläge zugeknallter Autotüren.

*

DIE MEISTEN GROSS-STÄDTER sind heute der Meinung, sie hätten sich an den ununterbrochenen Lärm herrlich angepaßt. Tatsächlich nehmen sie den Dauerlärm kaum noch wahr, nur ein Krawall, der alle Rekorde schlägt, oder ein plötzlicher Krach mitten in die nächtliche Stille hinein dringt zu ihrem Bewußtsein, schreckt sie auf. Geht all das, was wir nicht wahrnehmen, spurlos an uns vorbei?

Ein prominenter Wiener Internist und Klinikchef erklärte uns, daß dem nicht so ist. Man muß, erklärte er, zwischen „manifesten“ und „latenten' Lärmschäden unterscheiden. Zu den manifesten Schäden, die sich direkt bemerkbar machen, zählen zum Beispiel die Ohrenleiden von Arbeitern, die sich in der Nähe besonderer Lärmquellen aufhalten müssen.

Für viel gefährlicher hält dieser Arzt jedoch die latenten Schäden durch den Lärm - er ist davon überzeugt, daß ein beträchtlicher Teil der Großstadtbevölkerung dem Lärm schwere gesundheitliche Schäden verdankt, ohne es zu wissen. Denn die „Anpassung“ an den Trubel wird uns nicht geschenkt.

Wir können ja unsere Ohren nicht einfach zumachen, wir können unser Gehör nicht „abschalten“, auch ohne Mitwirkung des „Wach-Bewußtseins“ vollzieht sich in unserem Bewußtsein den ganzen Tag und teilweise sogar im Schlaf eine ununterbrochene Auslese, wird zum Bewußtsein durchgelassen, was wichtig, und zurückgehalten, was unwichtig ist und „überhört“ werden soll. Dieser Verdrängungsmechanismus erfordert um so mehr Energie, je mehr Lärm bewältigt werden muß - übersteigt er ein gewisses Maß. so zwingt er unser Nervensystem zu einer ununterbrochenen Anspannung, es wird brüchig wie ein Gummiband, das ständig ausgedehnt bleibt. Der Lärm ruiniert auf diese Weise unser vegetatives Nervensystem - und dieses leitet die Überbeanspruchung an alle möglichen anderen Organe weiter.

Folge: zahllose Organschäden, deren letzte Ursache auch der Spezialist nicht mehr feststellen kann. Herzinfarkte, Gefäßleiden, Magen-, Datm-, Gallen- und Schilddrüsenerkrankungen, Asthmafälle, nervliche Störungen und so weiter und so fort, die man auf alle möglichen Ursachen zurückführt, nur nicht auf den Lärm.

Es ist höchste Zeit, Alarm zu schlagen: Der Lärm ist zu einem unsichtbaren, im verborgenen wirkenden Volksfeind geworden, dem längst nicht mehr nur der Großstädter zum Opfer fällt. Er ist heute eine Gefahr für die gesamte Volksgesundheit.

Doch was dagegen tun?

*

EIN MANN SPRINGT A*UF. läuft aus seiner Wohnung, klopft ein Stockwerk höher an die Tür: „So geht das nicht weiter, Herr X, ich halte diesen

Lärm nicht mehr aus, ihre Kinder machen einen solchen Krawall, daß bei uns der Luster zittert!“

„Ich weiß nicht, was Sie wollen! Leiser als wir kann man sich schon nicht mehr benehmen. Sie haben schwache Nerven. Lassen Sie uns in Ruhe!“

Läuft der lärmgeplagte Mann daraufhin zur Polizei und läßt er seine Angelegenheit nicht im Sande verlaufen, so fährt eines Tages ein Kombiwagen vor und einige Herren mit schweren Gerätekisten kommen in die beiden Wohnungen. In der oberen wird ein Gestell mit einem Motor und fünf Hämmern aufgestellt, jeder dieser Hämmer wiegt genau ein halbes Kilogramm. Der Motor hebt sie und läßt sie aus einer Höhe von genau vier Zentimetern auf den Fußboden fallen, zehn Schläge in der Sekunde. Das Gerät führt die sinnige Bezeichnung „Trampelapparat“.

In der unteren Wohnung mißt unterdessen ein „Schallpegelmesser“ das Geräusch, und zwar wesentlich genauer als das empfindlichste menschliche Ohr. Es hat eine logarithmische Skala, jeweils zehn Teilstriche entsprechen einer Verdoppelung des Lärms. Jeder Teilstrich: ein Phon. Ein Phon ist der geringste Lautstärkeunterschied, den das menschliche Ohr gerade noch wahrnehmen kann.

Trampelapparat und Schallpegelmesser stellen fest, ob wirklich die Kinder des Herrn Y — beziehungsweise die empfindlichen Ohren des Mannes, der unter ihm wohnt — an der Lärmstörung schuld sind. Oder ob etwa die Decke zu viele Geräusche durchläßt. Was gar nicht selten der Fall ist.

Denn es gibt zwar Landesgesetze, welche Mindestwerte für die „Trittschalldämmung“ von Zwischendecken und für. die „Schalldämmung“ von Zwischen- und Außenwänden festlegen, doch kommt es vor, daß diese Mindestwerte unterschritten werden. Vor allem aber lassen auch vorschriftsmäßige Decken und Wände neuer Wohnbauten wesentlich mehr Geräusche durch als die dicken Mauern und Decken solid gebauter, alter Häuser.

Neubauten müssen nämlich gefällig aussehen und Badezimmer haben. Und möglichst billig sein. Dickere Mauern kosten Geld, Schallisolierungen kosten Geld.

Vorläufig ist kaum jemand bereit, dafür mehr auszugeben, als ihm das Gesetz vorschreibt. Doch das Gesetz soll nur das Äußerste verhüten. Im Interesse der Volksgesundheit sollte sich die Einsicht durchsetzen, daß etwas mehr getan werden muß. *

EIN POLIZIST STEHT WINKEND MITTEN AUF DER STRASSE. Der

Mopedfahrer hält an: „Was ist los, Herr Inspektor?“

„Ihr Moped ist zu laut!“

„Aber das gibt's doch gar nicht, Herr Inspektor! Alles vorschriftsmäßig!“

„Geben Sie einmal Vollgas!“ Der junge Mann dreht den Griff durch. Das Moped heult auf.

Der Wachmann: „Mindestens neunzig Phon! Sie zahlen Strafe!“

Der Mopedfahrer: „Kommt nicht in Frage. Zeigen Sie mich ruhig an!“

Die Anzeige wird erstattet, der

junge Mann muß sein Moped vorführen, der Schallpegelmesser stellt fest, daß es nicht mehr Krawall macht, als es darf. Denn das menschliche Ohr ist unverläßlich. Und man kann nicht jedem Wachmann ein Gerät zur Schallpegelmessung mitgeben. Durch üble Erfahrungen dieser Art gewitzigt, erstatten die Wiener Wachleute nicht gern Anzeige gegen motorisierte Lärmsünder. Man kann diesen Standpunkt gut verstehen.

Doch abgesehen davon kann man auch der Meinung sein, daß hier eine Lücke in den Bestimmungen vorliegt. Es gibt zwar Höchstwerte für den

Lärm, den ein Moped erzeugen darf -doch niemand verbietet es dem Besitzer eines Mopeds oder Motorrades, nachts mit Vollgas durch die Straßen zu fahren.

Dabei weiß jeder, daß die Lautstärke eines Motors um so größer wird, je mehr sich seine Tourenzahl dem Höchstwert nähert. Bei einem Moped, das mit Vollgas 40 Kilometer je Stunde fährt, ist dies im Stadtverkehr begreiflicherweise häufig der Fall. Es wäre ungerecht und unzweckmäßig, Mopedfahrern etwa das Fahren durch nächtliche Straßen zu verbieten — derlei wurde angeregt. Aber man könnte dafür sorgen, daß sie es nicht mit Vollgas tun.

IM MASCHINENSAAL EINER

GROSSEN FABRIK wird eine neue Maschine aufgestellt. Der Schallpegel der Halle wurde erst kürzlich gemessen: Wenn alle Maschinen laufen — 80 Phon. Das ist mehr, als ein Mensch auf die Dauer ohne Schaden aushält, aber man kann nichts dagegen tun.

Die neue Maschine wird auf das vorbereitete Betonfundament gestellt, befestigt und probeweise angelassen. Sie arbeitet zur vollen Zufriedenheit der Ingenieure. Man findet sie bloß etwas laut. Alle Arbeiter in der großen Halle haben den Eindruck, daß der Lärm seit der Anschaffung der neuen Maschine noch größer gewordenist.

Man hätte die neue Maschine in einem eigenen, kleineren Raum aufstellen können — alle Voraussetzungen dazu waren gegeben. Doch man darf dem Leiter der Fabrik keine Vorwürfe dafür machen, daß er es unterlassen hat. Er konnte die Notwendigkeit dieser Maßnahme nicht rechtzeitig ahnen.

Denn es gibt kein Gesetz und keine freiwillige Übereinkunft, welche die Erzeuger von Werkzeugmaschinen, Kraftfahrzeugen, Haushaltgeräten und so weiter veranlaßt, die Lautstärke ihrer Erzeugnisse anzugeben. Auf dem Leistungsschild ist alles mögliche vermerkt — die Phonangabe sucht man vergeblich.

Im Interesse der Volksgesundheit muß man sie fordern.

IN EINEM STILLEN WALD, wo nur die Blätter rauschen, zeigt der Schallpegelmesser 20 Phon. 40 Phon verträgt der Mensch tagsüber in seinem Zimmer, 47 umgeben ihn in einem stilleren Büro. Bei mehr als 65 Phon kann er auf die Dauer keine geistige Arbeit mehr leisten. 75 Phon verträgt er in Verkehrsmitteln, 80 Phon augenblicksweise.

Dabei erzeugt ein „braves“ Moped bei Vollgas bereits 80 Phon, ein ausgeräumter Auspufftopf bringt zwar keine große Leistungssteigerung, aber gut und gern um zehn Phon mehr.

90 Phon bedeuten bereits Ohrenschmerzen. 100 Phon sind schwer zu ertragen. 110, 120 und llo Phon müssen Leute aushalten, die in der Nähe von Militärflugplätzen wohnen, wenn moderne Düsenjäger staffelweise starten.

DAGEGEN LÄSST SICH NATÜRLICH NICHTS MACHEN. Doch man sollte den Lärm überall dort bekämpfen, wo er bekämpft wetden kann. Und man sollte die Flinte nicht ins Korn werfen, weil es unmöglich ist, geräuschlose Autos, Straßenbahnen, Motorräder und Maschinen zu bauen — schon fünf eingesparte Phon bedeuten einen Dienst an der Volksgesundheit.

Man sollte Leute, die man, nachts mit Vollgas durch die S|raßen fahrend, erkennt, am nächsten Tag übersehen.

Man sollte Autofabrikanten, die Wagen bauen, deren Türen sich nur mit einem mächtigen Knall schließen lassen, auf die Zehen steigen.

Man sollte wegen jeder rücksichtslos auf das Pflaster geknallten Kiste oder Kanne — besonders wenn es nächtlicherweise geschieht — vernehmlich protestieren.

Man sollte vor allem nicht die ganz Last der Lärmbekämpfung auf die Schultern der Polizisten legen, ohne ihnen brauchbare gesetzliche Bestimmungen in die Hand zu geben — ohne „einschlägiges“ Gesetz ist der Wachmann so wehrlos wie ohne Waffe.

Lind wenn es irgendein Gebiet gibt, auf dem wir nicht zu viele, sondern zu wenige Gesetze haben, ist es das der Lärmbekämpfung.

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