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Ein weitgesteckter Aufgabenkreis

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Genau gesagt, im Objekt 210 des Wiener Arsenals, in der Internationalen Fahrzeugversuchsanlage, wo Europas Lokomotiven, Reisezugsund Güterwaggons auf dem Prüfstand getestet werden. Diese Fahrzeugversuchsanlage ist ein Unikum. Hier gelang, was sonst bisher nur auf dem Gebiet der Atomforschung erreicht werden konnte: mustergültige integrierte internationale Zusammenarbeit. Elf europäische Bahnverwaltungen, und zwar neun Länder und zwei Schlafwagengesellschaften, steuerten zwei Drittel der zur Errichtung nötigen Summe zusammen, der österreichische Staat bezahlte den Rest. Das Personal ist österreichisch, aber die oberste Leitung liegt in den Händen eines internationalen Ausschusses.

Der Kohlendioxydsee

Um dem Geheimnis der verendeten Rinder auf die Spur zu kommen, mußten beispielsweise vollkommen neue Wege gegangen werden. Es galt zu klären, ob die Tiere tatsächlich, wie vermutet, in der verbrauchten ausgeatmeten Luft erstickt waren, und dies bei geöffneten Fenstern! Nehmen wir das Ergebnis vorweg — es war tatsächlich so! Das Kohlendioxyd der ausgeatmeten Luft ist schwerer als die Frischluft, sinkt auf den Wagenboden hinunter und bildet dort einen unsichtbaren, aber um so gefährlicheren See, in dem die Tiere ohne weiteres erstik-ken können, wenn er im Lauf einet längeren Reise ihre Köpfe erreicht, Unterdessen strömt zwar ununterbrochen frische Luft in den Waggon doch da die Lüftungsöffnungen hoch über den Köpfen der armen Tiere angebracht sind, strömt sie auf dei einen Seite herein und auf der anderen wieder hinaus, ohne sich mit dei verbrauchten Luft unten zu vermischen.

Wenn man das einmal weiß, isl Abhilfe leicht, doch der Weg zu diesem Wissen war schwer. Ein Mitarbeiter der Anstalt, Dr. Mairhofer entwickelte ein völlig neues Verfahren, das heute in ganz Europa bekannt ist, aber nur in Wien, wo mar die notwendige Erfahrung und di< nicht gerade billigen Geräte dafü: hat, angewendet wird. Der Waggoi wird mit einem radioaktiven Gas ge füllt, mit Krypton oder Xenon, unc mit einer Anzahl von Geigerzähl röhren bestückt. Dadurch kann ii jedem Augenblick die Radioaktivitä an jeder für den Versuch interessan ten Stelle des Wagens gemessei werden. Aus der Stärke der Radio aktivität aber geht hervor, wie stari das Gas an der betreffenden Stell bereits verdünnt ist, das heißt, wi stark es sich mit Frischluft vermisch hat. Die notwendige Radioaktivitä ist dabei so gering, daß niemand ge f ährdet wird.

Eisenbahnzüge im Windkanal

Reisewaggons, Kühlfahrzeuge un so fort werden heute im Arsenal eben falls nach dieser Methode auf di Luftzirkulation in ihrem Inneren hi untersucht. Normalerweise im Wind kanal. Wo sie der Fahrtwind um

>raust wie auf freier Strecke. Doch väre es nicht möglich, so sagten sich lie Fachleute, daß die Dinge sich im Windkanal doch etwas anders dar-itellen als in der vielfältigen Wirk-ichkeit des täglichen Bahnbetriebs? &#9632;Cönnten nicht Umstände, an die nie-nand denkt, das Versuchsergebnis verzerren und damit entwerten?

Es wurde die Probe auf das Exern-jel gemacht. Die französischen Be-lörden nahmen das Ansinnen der Österreicher, einen gewöhnlichen “ranzösischen D-Zug-Waggon mit radioaktivem Gas zu füllen und da-nit durch die Landschaft zu brausen, nit bemerkenswerter Ruhe entgegen. Der Wagen wurde zur Verfügung gestellt und befuhr, mit radioaktivem Edelgas gefüllt, mehrmals lie 150 Kilometer lange Strecke zwischen Bordeaux und Dax. In einem anderen Wagen saßen die Wissenschaftler und notierten die Meßdaten der Geigerzähler. Sie wiederholten das Experiment zur Sicherheit an Tagen mit verschiedenem Wetter, überführten den Wagen dann nach Wien und testeten ihn zusätzlich im Windkanal. Ergebnis: Der Luftwechsel vollzieht sich in der „Fahrversuchsanlage“ nicht anders als aui freier Strecke.

Die Fahrversuchsanlage ist also ein Windkanal. Auf dem Weg durch die ausgedehnten Gefilde des Wiener Arsenals haben der Wind und die Kühle dieses milden Winters, der sich Sommer nennt, dem Besucher schon übel genug mitgespielt. Doch in der Fahrversuchsanlage empfängt ihn hinter dicken, isolierten Türen ein noch kühleres Lüfterl. Es bläst, ganz nach Wunsch, mit zehn, fünfzig oder hundert Stundenkilometern einher, es „umschmeichelt“ Führerstände und Motoren der im Windkanal abgestellten Lokomotiven oder Waggons mit zehn, zwanzig oder dreißig Grad unter Null. Es läßt die Kapuze eines französischen Ingenieurs flattern, der hier zu Gast ist und sich immer wieder davon überzeugt, daß die Motoren noch anspringen.

Der Windkanal, in dem viele Fragen geklärt werden, ist einer der größten von Europa. Er gestattet Spitzengeschwindigkeiten von 120 Stundenkilometern und ist für Dauerbetrieb ausgelegt, ein Winterversuch mit einer Lok oder einem Waggon kann viele Tage dauern, ohne daß die Anlage abgeschaltet werden muß.

Der Samum im Saal

Und auch Eignung für tropisches Klima kann hier getestet werden. Dann verwandelt sich der Schneesturm in einen glühenden Samum, und die künstliche Sonnenbestrahlung, von Dutzenden an der Wand angebrachten Lampen erzeugt, macht aus dem Führerhaus einer Lok, aus einem Speisewagen oder fallweise aus einem Personenauto einen Brutschrank. Doch Probleme, die mit der Kälte zusammenhängen, sind weitaus häufiger.

Einer der letzten Punkte auf dem Programm waren Versuche mit Luft-ansaugflltern für Diesellokomotiven. Die Frage, die gestellt war, lautete: Neigen sie bei Schneetreiben dazu, sich zu verkleben?

Seit vier Jahren arbeitet die Anstalt nun. Sie hat unter anderem auch den neuen Transalpin getestet und festgestellt, daß sein Fahrkomfort dem der bekanntesten europäischen Luxuszüge, angefangen beim TEE, gleichkommt. Und nicht nur Mitglieder kommen, auch Außenstehende, die unter den Gründern der Anstalt nicht vertreten waren, kommen mit Aufträgen. Die italienischen, die rumänischen und die ostdeutschen Eisenbahnverwaltungen. Es wurden in Wien Kühlwagen für Griechenland und Libanon getestet, und sogar Autoflrmen, beispielsweise VW, führen hier Versuche durch. Die Interessenten müssen oft warten. Während in der Fahrversuchsanlage oder in der sogenannten Standversuchsanlage, einer großen Klimaanlage ohne Windkanal, noch Versuche im Gang sind, werden nebenan in der Montagehalle bereits neue Fahrzeuge vorbereitet.

So werden zum Beispiel Fernthermometer in einem Frachtwaggon verteilt, der' beim Erdäpfeltransport „Manderln macht“, weil sich an der Decke Kondenswasser sammelt, das dann heruntertropft und die Ladung verdirbt.

Wünsche der Betriebsleitung

400.000 Schilling kostet — für Nichtmitglieder — ein Versuch, bei dem Fahr- und Standversuchskammer je eine Woche benötigt werden.

25 bis 30 Personen, von den Mitgliedern der versuchstechnischen Gruppe über die betriebstechnische Gruppe bis zum Verwaltungspersonal, leisten hochqualifizierte Arbeit. Leisten — unter ihrem leitenden Ingenieur Dipl.-Ing. Heinz Schausberger — eine Arbeit, bei der ts nicht immer leicht ist, up to date zu bleiben. So zum Beispiel würden sie das 540 PS starke Gebläse des Windkanals gerne gegen ein stärkeres vertauschen, denn in der Fahrversuchsanlage, die durchschnittlich 200 Tage pro Jahr in Betrieb ist, würden manchmal Windgeschwindigkeiten bis zu 200 Stundenkilometer benötigt.

Wozu man solche Windgeschwindigkeiten braucht? Ein Problem, für dessen Lösung sie Voraussetzung wären, ist die Eisbildung an den Stromabnehmern elektrischer Schnellzüge in meeresnahen Gebieten, zum Beispiel an der Kanalküste. Die Eisklumpen an den Stromabnehmern vergrößern sich während der Fahrt, werden schwer und schwerer, und wenn der Zug aus einem Tunnel kommt, wo die Stromleitung bekanntlich niedriger verlegt ist, richtet sich der Stromabnehmer einfach nicht mehr auf und der Zug bleibt stehen.

Und die Züge werden immer schneller. Die Probleme immer größer. Auf der bereits erwähnten Strecke von Bordeaux nach Dax erreichte eine französische Lokomotive 336 Stundenkilometer, das war ein Weltrekord. Aber auch fahrplanmäßige Züge sollen bald 200 Kilometer in der Stunde zurücklegen. Bei solchen Geschwindigkeiten entstehen durch die Begegnung zweier Züge auf freier Strecke Druckstöße, die nicht nur die Ohren der Reisenden, sondern auch die Fensterscheiben der Züge zu spüren bekommen. Besonders im Tunnel. Mehr als eine Scheibe ging dabei bereits in Trümmer — splitterfreies Glas ist ja zum Glück längst zur Selbstverständlichkeit geworden.

Anerkennung bringt Zinsen

Ein Problem von vielen, die entweder bereits in Wien gelöst wurden oder deren Bewältigung man von den österreichischen Fachleuten erwartet, denn nur Österreicher sind hier ständig beschäftigt. Sie leisten einen sehr bedeutenden Beitrag zur Modernisierung des europäischen Bahnverkehrs. Bis jetzt hat noch kein Staat seinen Anteil an den 20 Millionen Schilling, die hier investiert wurden, zu bereuen gehabt, und auch Österreich hat die Millionen, die auf uns entfielen, bestens angelegt. Die Zinsen kommen nicht zuletzt in Form von Anerkennung für die technischen und wissenschaftlichen Leistungen Österreichs, unseres gegenwärtigen Österreich, laufend herein.

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