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Sicherer denn je

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Nach der Tragödie von Orly wird sicher der eine oder andere Fluggast sein Ticket zurückgeben, um mit dem Auto zu fahren, auch wenn er theoretisch genau weiß, daß er sich damit in eine ungleich größere Gefahr begibt. Aber das Sicherheitsgefühl des Menschen steht in einem sehr lockeren Zusammenhang mit dem jeweils tatsächlich vorhandenen Grad von Sicherheit. Das Auto ist um ein Vielfaches gefährlicher als das Verkehrsflugzeug — trotzdem haben viele Menschen im Flugzeug Angst, im Auto keine Angst, und oft um so weniger Angst, je riskanter sie fahren. Piloten verunglücken mit dem Kraftfahrzeug sehr viel häufiger als mit dem Flugzeug, obwohl der Prozentsatz an besonders besonnenen Fahrern in dieser Berufsgruppe besonders hoch ist und einige Fluggesellschaften Piloten, die sich bei (privaten!) Autofahrten nicht anschnallen, empfindliche Disziplinarstrafen androhen.

Hätte der Homo sapiens gelernt, seine Empfindungen rationalen Gegebenheiten unterzuordnen, wäre es nach einem Flugzeugunglück nicht nötig, über die Sicherheit des Fliegens zu reden. Denn dann wüßte man nicht nur, daß Katastrophen leider unvermeidlich sind, sondern man würde sich, auch nach einer Katastrophe, im Flugzeug so sicher fühlen, wie man dort tatsächlich ist. Der Beruf des Piloten, der in all den Jahrzehnten seiner Berufslaufbahn den überwiegenden Teil seiner Arbeitszeit startend, landend oder in der Luft verbringt, ist längst so ungefährlich, daß die Versicherungsgesellschaften, die es schließlich am allergenauesten wissen müssen, seine Lebensversicherungsprämie um keinen Groschen Risikozuschlag erhöhen.

Aber so war es nicht immer. Das Fliegen war zunächst gefährlich, obwohl es bereits in einer Zeit, in der Fliegen in weiten Kreisen noch als ausgesprochenes Abenteuer galt, bereits viel sicherer war, als die meisten Menschen meinten. In den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren war das flaue Gefühl in der Magengrube bereits durch die Sicherheitsstatistiken teilweise

überholt.

Vor dem Anbruch des Düsenzeitalters war das Fliegen auf der einen Seite zwar etwas gefährlicher als heute, auf der anderen Seite aber längst praktisch ungefährlich. Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Vor zehn Jahren kam nur noch ein verunglückter Fluggast auf 133 Millionen Passagiermeilen, man mußte also — nach dem damaligen Stand — schon im Flugzeug geboren werden, aufwachsen und ununterbrochen fliegend 76 Jahre alt werden, um mit einem Absturz rechnen zu müssen. Das grenzt, aus der Perspektive des einzelnen, an totale Sicherheit. Sein Sicherheitsgefühl aber wird von den Flugzeugabstürzen bestimmt, von denen er hört oder liest. Für Fluggesellschaften, Flugzeugkonstrukteure; Piloten und so weiter zählt nur der tatsächlich erreichte Grad von Sicherheit — für sie ist ein toter Pluggast auf 133 Millionen Passagiermeilen vor allem deshalb eine Katastrophe, weil 124 Tote auf einen Schlag, auch wenn vorher in aller Welt 16,5 Milliarden Passagiermeilen unfallfrei zurückgelegt wurden, die Fluggäste beunruhigen.

Deshalb, aber freilich nicht nur deshalb, werden die neuen Flugzeuge von der Konstruktion her immer sicherer — und die alten, noch im Einsatz befindlichen Maschinen ebenfalls, und zwar durch immer bessere Wartung, immer genauere Überprüfungsmethoden. Zweifellos ist ein Jumbo noch sicherer als eine der letzten Propellermaschinen — aber dank der Fortschritte in Wartung, Navigation, Organisation und so weiter fliegt man heute wahrscheinlich auch in einer zwanzig Jahre alten Propellermaschine sicherer als in derselben Propellermaschine einst, drei Jahre nach ihrer Indienststellung.

Einer der wesentlichsten Faktoren für die immer größere Sicherheit im Luftverkehr ist dessen zur Perfektion entwickeltes System, jeden Unfall bis ins kleinste Detail zu analysieren und daraus jede nur mögliche Konsequenz zu ziehen. So gab es bisher noch niemals in der Weltluftfahrt eine Maschine, die auf Anhieb in mehreren Jahren des internationalen Masseneinsatzes keinen Absturz verzeichnete — heute gibt es sie, jeder weiß sofort, daß von der Boeing 747, vom sogenannten Jumbo, die Rede ist. Keine einzige dieser Maschinen ist abgestürzt — obwohl es in den ersten Jahren Triebwerkschwierigkeiten am laufenden Bande gab. Aber die Konstrukteure haben nicht nur gelernt, Triebwerke zu bauen, die nicht so leicht in Brand geraten — sie haben es vor allein gelernt, Triebwerke zu bauen, die selbst dann, wenn sie brennen, dem Flugzeug nicht zum Verhängnis, sondern notfalls im Flug stillgelegt und automatisch gelöscht werden.

So blieb der Jumbo zwar nicht von Kinderkrankheiten, sprich Serienzwischenfällen, verschont — doch die bei neuen Flugzeugmustern einst üblichen Absturzserien gehö-

ren heute der Vergangenheit an. Sie waren einst die eigentliche Geißel des Luftverkehrs. Schwachstellen der Fensteröffnungen beim ersten Düsenflugzeug der Welt, der „Comet“, die nicht rechtzeitig erkannt wurden, warfen den britischen Flugzeugbau nicht nur um viele Jahre zurück, sondern ermöglichten es den amerikanischen Werken, die Briten völlig aus dem Geschäft zu verdrängen. Aber auch noch ein so bewährtes Flugzeug wie die Boeing 707 hatte verdeckte Konstruktionsmängel, die in den ersten Jahren des Masseneinsatzes zum Vorschein kamen — zunächst schwache Stellen am Fahrwerk, die zu zahlreichen Landezwischenfällen führten, sodann sehr viel gefahrlichere Störungen am Seitenleitwerk, die mehrere Abstürze verursachten und insgesamt hunderte Menschenleben kosteten.

Der Fluggast von heute hat vergessen oder nie zur Kenntnis genommen, wieviel Boeing 707 damals verunglückten, ohne daß sich die Fluggäste vom Fliegen abschrecken ließen — in einer Zeit, in der ja das Fliegen, aus der Sicht des einzelnen, statistisch längst sicher war. Die Fahrwerke wurden verbessert, ebenso die Halterung der Leitwerke — die Boeing 707 von heute, egal, ob sie vorher gebaut wurde oder erst nachher, ist wesentlich sicherer als in den Jahren, in denen ihre Mängel zutage traten.

Man wird, wie aus jedem Absturz, auch aus der neuen Katastrophe von Orly lernen — um so mehr, als die Ursache des Unglücks offenbar rein technischer Natur war. Es gibt nicht nur die Kinder-, es gibt auch die Alterskrankheiten der Flugzeuge (allerdings wurde das Baujahr der verunglückten Maschine noch nicht bekanntgegeben).

Auch psychologische Schlüsse könnten, möglicherweise, aus dieser Tragödie gewonnen werden. Offenbar war durch einen Kurzschluß in einer Toilette ein Kabinenbrand ausgebrochen, den die Stewards nicht mehr löschen konnten. Der Qualm wurde innerhalb der wenigen Minuten des Landeanfluges so stark, daß. der Pilot zuletzt nur ndch durch öffnen der Cockpitfenster bei Bewußtsein blieb — das könnte unter Umständen auf Gasentwicklung durch einen Kunststoffbrand hinweisen. Sollte das Gros der Todesopfer nicht durch die Flammen, sondern durch giftigen Qualm ums Leben gekommen sein, so wäre zu überlegen, ob nicht ein Teil der Passagiere gerettet hätte werden können, wenn die für den Notausstieg vorgesehenen Kabinenfenster geöffnet worden wären (was anderseits auch durch Luftzufuhr das Feuer hätte stärker anfachen können). Es wären Fälle denkbar, in denen — bei geringster Fluggeschwindigkeit und einer verqualmten Kabine — die Aufforderung an die Passagiere, sich fester anzuschnallen und die Kabinenfenster zu öffnen, vorgesehen werden könnte.

Eigeninitiative ist immer eine

äußerst zweischneidige Sache, man müßte die Details des Unglücksherganges kennen, um in diesem Falle etwas über die Überlebenschancen der Fluggäste bei geöffneten Notausstiegen sagen zu können. Eines aber ist seit Jahren bekannt: Daß die Passagiere verunglückter Maschinen zu einer negativen Panik neigen, die gefährlicher sein kann als die gewöhnliche Panik. Negative Panik ist totale Lähmung — Fachleute erinnern sich an eine notgelandete Maschine, in der brennendes Kerosin in einem schmalen Rinnsal durch die Kabine zu fließen begann. Die Hostessen brüllten ununterbrochen Aufforderungen, sich loszuschnallen und die Notausgänge zu benützen — sämtliche Fluggäste blieben regungslos sitzen, bis die Flughafenfeuerwehr das Feuer glücklicherweise rechtzeitig löschen konnte. Vielleicht wäre zu klären, wieweit die Sicherheitsinstruktionen, die heute an die Fluggäste gegeben werden, zum Entstehen einer solchen negativen Panik beitragen können.

Ein wesentlicher Fortschritt in der Flugsicherheit steht dem Vernehmen nach bevor: ein bei Unfällen nicht oder kaum entflammbarer Treibstoff. Denn die Explosionsgefahr, von der manche Zeitungen im Zusammenhang mit den ersten Rettungsversuchen nach dem Absturz bei Orly zu berichten wußten, gab es nicht. Moderne Düsenmaschinen fliegen nicht mit dem hochexplosiven Benzin, das Rettungsversuche an abgestürzten Propellermaschinen zu einem selbstmörderischen Unternehmen macht, sondern mit Kerosin, das zwar brennt, aber nicht explodiert. Vor längerer Zeit kam es in Einzelfällen auch zu Explosionen abgestürzter Düsenmaschinen — dafür war ein (billigeres) Kerosin-Benzin-Gemisch verantwortlich, das in der Zwischenzeit volllkommen aus dem Verkehr gezogen wurde. Der nächste Schritt zu noch mehr Sicherheit dürfte ein Treibstoff sein, der außerhalb des Triebwerkes auch bei Notlandungen, bei denen die Treibstoffleitungen platzen oder die Triebwerksgondeln abgerissen werden, nicht oder nur sehr schwer in Brand gerät. Der Massenanwendung dieses neuen Treibstoffes stehen gegegenwärtig vor allem Schwierigkeiten mit bestimmten Ventilen entgegen, die bei diesem Treibstoff zum Verstopfen neigen — ein technisches Problem, das sicher gelöst werden wird.

Völlig entschärft wurde die Turbulenz bei klarer Luft, die vor etwa einem Jahrzehnt zu zahlreichen Magengeschwüren bei den Piloten hochfliegender Langstreckenflugzeuge geführt haben dürfte. Das erste Unglück dieser Art ereignete sich am 12. Februar 1963 über Florida, wo ein Düsengigant noch vor Erreichen der vollen Reiseflughöhe von einer Bö bei wolkenlosem Himmel gepackt, ein Stück nach oben gewirbelt und senkrecht nach unten geschleudert wurde — der Pilot konnte die Maschine 1000 Meter über dem Boden abfangen, aber der Rumpf war dem dabei auftretenden Stoß nicht gewachsen. Mehr Glück hatte er Kapitän einer DC 8, die am 9. November desselben Jahres in heftige Clear Air Turbulence geriet. Mehrere Passagiere wurden gegen die Decke der Kabine geschleudert, gegen die sie während des Sturzes der Maschine eine volle Minute lang gepreßt wurden, beim Abfangen der Maschine brach eines der Düsentriebwerke ab und die Passagiere wurden wieder auf die Sitzreihen geschleudert — das beschädigte Flugzeug kam mit 17 verletzten Fluggästen heil zu Boden.

Entschärft wurde, durch immer reichere Erfahrung, vor allem die Gefahr, daß neue Typen jene Unfallquellen enthalten, angesichts derer man sich an den Kopf greift — sobald das erste Unglück geschehen ist. So flog einst eine Propellermaschine der damals neuen Type DC 6 über Utah, und überquerte gerade Bryce Canyon, während der Kapitän das Ventil zwischen den-Treibstofftanks Nummer 3 und Nummer 4 öffnete, und die Treibstoffpumpe des letzteren in Gang setzte, um das Treibstoffgewicht in den Tragflächen auszugleichen. Sekunden später gab er einen Notruf an den nächsten Flughafen ab, die Maschine brannte und ging nur hundert Meter vor der Landebahn völlig in Flammen auf. Niemand überlebte, der letzte Funkspruch, in dem von einem Feuer im Gepäcksraum die Rede war, leitete die Untersuchung auf eine völlig falsche Spur. Wenige Wochen später geriet wieder eine DC 6 beim Umpumpen des Treibstoffs in Brand. Diesmal gelang dem Piloten eine Notlandung ohne Katastrophe. Ein Ingenieur der Fluggesellschaft äußerte einen Verdacht: Vielleicht hatte der Pilot die Treibstoffpumpe einen Augenblick zu lange laufen gelassen, so daß Benzin aus der Entlüftungsöffnung des Tanks austreten konnte. Unmittelbar vor der Tankentlüftung war die Ansaugöffnüng für die Kabinenheizung angeordnet. Vielleicht wurde austretendes Benzin eingesaugt. Wenige Liter hätten genügt. Man lachte den Mann aus und hielt derartiges für unmöglich. Auch die Behörde, die diese Konstruktion begutachtet hatte, war fest von ihrer Ungefährlichkeit überzeugt, und hatte die DC 6 zum Verkehr zugelassen, obwohl der Lufteintritt der Kabinenheizung vor der Tankentlüftung einer ausdrücklichen Vorschrift widersprach.

Der Ingenieur machte ein Experiment und ließ bei einer DC 6 beim Umpumpen die Pumpe etwas zu lange laufen. Nach der Landung fand er zwei Liter hochexplosiven Kraftstoff in den Zuleitungen der Kabinenheizung. Sofortiges Startverbot für alle Maschinen dieser Type. Umbau des Lufteinlaufes. Gebot an alle Piloten, das Umpum-pen immer rechtzeitig zu beenden. Zu spät für 52 Menschen, die nicht hätten sterben müssen.

Zahlreiche tragische Abstürze führten zur Verstärkung der Flügelholme. Bedeutete bei den Kolbenmotorflugzeugen ein Motorbrand nach wenigen Minuten Abbrechen des Flügels, können Düsenmaschinen heute selbst mit lichterloh brennender Tragfläche warten, bis die Landebahn zur Notlandung vorbereitet ist.

Eine Flugzeuggeneration später, bei der Boeing 707, wurde eine Gefahrenquelle, die man ebenfalls schon auf dem Reißbrett hätte erkennen müssen, immerhin bereits während der Flugtests entdeckt. Die Type war ursprünglich mit einer brennbaren Hydraulikflüssigkeit ausgerüstet, da diese aus technischen Gründen günstiger schien. Man nahm an, in einem geschlossenen Hydrauliksystem sei Entzündung ausgeschlossen — bis der Prototyp nach Schnellbremsung und neuem Start mit qualmendem Fahrwerk landete. Die brennbare Hydraulikflüssigkeit wurde durch eine nichtbrennbare ersetzt. Andernfalls wäre wahrscheinlich einer der ersten (für alle Insassen glimpflichen) 707-Unfälle, bei dem ein Flugzeug von der Piste abkam, in eine Baugrube rollte und in drei Teile zerbrach, schlimm ausgegangen.

Die Liste der Flugzeugunglücke, die zur Entdeckung von Fehlerquellen führten und umfangreiche Umbauten an allen bereits in Dienst gestellten Exemplaren einer Type zur Folge hatten, ist lang. Erst bei den Flugzeugen der letzten, der Jumbo-Generation, konnten konstruktiv bedingte Katastrophenquellen vermieden werden, nicht zuletzt deshalb, weil man heute weiß, daß der Teufel nicht schläft und sich nicht mehr darauf verläßt, daß ein Motor nicht in Brand geraten wird. Zahlreiche Jumbo-Triebwerke der allerersten Generation gerieten in Brand. Keiner dieser Brände hatte böse Folgen. Meist konnte der Plug routinemäßig fortgesetzt werden.

Die alten Flugzeuge aber haben ihre Fehlerquellen preisgegeben, so daß diese beseitigt werden konnten. Aus diesen Gründen ist heute das Fliegen so sicher wie noch nie. Nicht zuletzt deshalb, weil Absturzmeldungen heute seltener sind als je zuvor, wird eine Tragödie wie die von Orly so stark zur Kenntnis genommen.

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