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Über den Pol

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TOKIO. — Eine Weltreise liegt hinter mir. Sie dauerte sechsunddreißig Stunden und war dennoch eine ganze Weltreise. Ich flog sicher und bequem; kein kühler und kein heißer Luftzug drang in die Flugkabine; ich bekam Champagner gegen den Durst, der Kalorien- und Vitamingehalt des Essens war sorgfältig abgestimmt auf mein Wohl in zwölftausend Meter Höhe und schmeckte nach hygienischer Verpackung und automatisierter Küche.

Drei Stunden flog ich mit der Caravelle von Wien nach Kopenhagen. Eineinhalb Tage dauerte der Sprung von Kontinent zu Kontinent, und der Nordpol lag irgendwo tief unter uns. Aber — es war eine Weltreise mit allem, was drum und dran ist. „Wikinger“ steht auf der Schwanzflosse der großen Transpolarmaschine der.. skandinavischen Fluggesellschaft.; — • Itn glänzenden Leib der DC 7- erlebte ich die Dramatik der Einsamkeit, die Weite der eisigen Kälte und die Lockung der grenzenlosen Entfernung. Und als ich in Tokio aus der Maschine ausstieg, fand ich den Namen auf der Schwanzflosse lange nicht mehr so anachronistisch und phantastisch wie vor dem Flug.

Alles habe ich erlebt in diesen zweieinhalb Tagen in zwölftausend Meter Höhe: Beklemmung, als die letzten Wege und Siedlungen sich langsam in den Wäldern Skandinaviens verloren, Freude und Erleichterung, als jenseits des Pols schmale Zungen aus Moos und Latschen wiederum die unendliche Decke aus Schnee und Eis durchbrachen. Die Einsamkeit aus den letzten Häusern vor dem Eismeer ist viel stärker als die Sicherheit und der Komfort des Flugzeuges, und ich vergesse, daß ich über die Einsamkeit nur hinweggleite — von Millionenstadt zu Millionenstadt. Sie preßt sich in den silbernen Leib der Maschine und legt sich um den noch Wachen, besonders wenn die anderen rings um ihn schlafen. Nicht die kaum faßbare Kürze des Fluges von Wien nach Tokio ist das wahre Wunder der modernen Reise; man wird noch viel schneller fliegen und die Erde von einem Ende zum anderen an einem Tag und weniger überwinden. Das Wunder ist, daß dieser Flug eine ausgewachsene Weltreise geblieben ist für den, der das Reisen noch versteht. Und das zweite Wunder: daß man dann nach dieser Weltreise im Nachbarhaus landet.

„NACHBAR JAPAN“ dachte ich, als ich vom Flugplatz Haneda in das Zentrum der Stadt Tokio fuhr. Und „Nachbar Japan" sagte ich, als am ersten Tag in Tokio eine junge Frau sich über die Preise beklagte, ein junger Mann über die Wohnungsschwierigkeiten sprach und der Taxichauffeur auf die Krankenkasse schimpfte, die sein Rheuma nicht als Berufskrankheit anerkennen wollte. Nicht die unwahrscheinliche Schnelligkeit des modernen Reisens hat die Städte der Erde zu Nachbarn gemacht, sondern die Gleichheit im Alltag. Ich werde über den Süden nach Wien zurückfliegen und in den Hotels aller Rangordnungen, von der letzten Eingeborenenherberge bis zur Hilton-Wohnmaschine in Taipeh. Bangkok, Karachi und T"tanbul wohnen. Ueberall werde ich die Menschen über die Preise auf den Märkten sprechen hören, über die Löhne, über die hoffnungslose Lage im Straßenverkehr, über die Sputniks der Russen, über die Autos der Amerikaner. Ich werde heilige .Schreine, buddhistische Tempel, Moscheen- und Synagogen besuchen — als Ausflugsziele für Gesellschaftsreisen sind sie einander verdammt ähnlich geworden.

Das Fremdeste und trotz aller Sicherheit und Geborgenheit Unheimlichste war der Flug in dem Märchenflugzeug Caravelle der SAS von Wien nach Tokio. Sie ist eine Düsenmaschine für Mittelstrecken, die zehntausend Meter hoch und achthundert Kilometer in der Stunde fliegen kann. Sie wird in Frankreich gebaut und ist sehr elegant. — Aber das ist kein Fliegen mehr, das ist ein „Vöm-Fliegen-Träumen". — Wenn nach dem steilen Abflug das Radio abgeschaltet wird — die leidige Barmusik soll wie die angebotenen Bonbons offenbar beruhigend wirken obwohl gar keine Beruhigung notwendig ist —, ist es in der Maschine ruhig wie in einer Felsenhöhle, und bis die Fahrgäste sich an die Ruhe gewöhnt haben, flüstern sie wie in einer Kirche. Den Lärm aus den Düsenmotoren hören nur die Menschen in den Städten, die wir überfliegen, nicht wir, die Fluggäste in der schalldichten Druckluftkabine des SAS-Flugzeuges.

Zwischen dem Flugzeug und der Erde liegt jetzt eine dichte weiße Decke aus Daunen, aus Schaum oder aus Watte. Zuerst lag sie über der Erde wie ein Schleier, dann wurde sie zu einer bedrohlichen Mondlandschaft, aber jetzt liegt sie undurchdringlich, friedlich und einladend wie eine Riesentuchent unter uns, und die Erde scheint es gar nicht mehr zu geben. Wenn ich mich jetzt hinunterfallen ließe, fiele ich auf die weiße Decke wie in ein Bett. Es würde einige Male federn und sich dann warm um mich schließen. — Wie stark die absurde Verlockung ist, aus der Maschine auszusteigen! Sie wird immer wieder kommen — über den skandinavischen Wäldern, über der Eiswüste, über dem Meer. — Dann reißt die Wolkendecke auf und die norddeutsche Dünenlandschaft liegt viel zu klar unter mir, um Wirklichkeit zu sein. Ich sehe sie wie in einem alten Briefbeschwerer aus Glas eingeschlossen, der auf dem Schreibtisch einer Notariatskanzlei steht.

ALS DIE CARAVELLE über Kopenhagen kreiste, wußte ich plötzlich, daß während des Fluges über die Wolken eine unbewußte Angst in mir gewesen war. Das Gleiten der Maschine war so schwerelos und vollendet, so jenseits, so über allem, was ich mir bisher unter technischer Leistung vorgestellt hatte, daß ich den Abflug vergaß und das Airfsetzer. auf dem harten Boden beängstigend unvorstellbar wurde.

In Kopenhagen steigt man vom Zubringerflugzeug Caravelle in die Polarmaschine DC 7 um; vom eleganten Märchenflugzeug der europäischen-Strecken . in die schwere-Maschine, die den großen Sprung über den Pol bewältigen soll. In den Wartesälen am Flugplatz Kopenhagen weht schon der erste Wind aus dem Fernen Osten. Leute, die viel fliegen, sagen, daß alle Wartesäle der Welt einander gleichen. Das stimmt nicht.

Jeder Wartesaal ist typisch für die Stadt, zu der er gehört, und man kann sie spüren und erkennen, wenn man im Espresso auf die Anschlußmaschine wartet. Wie und woran? Ich weiß es nicht. Die Espressomaschinen sind überall gleich, das Mobiliar könnte aus verschiedenen Abteilungen ein und derselben Fabrik geliefert sein, die Türme und die Landebahnen entsprechen den internationalen Vorschriften und nicht dem nationalen Stil. Aber am Flugplatz von Kopenhagen wußte ich.schon, wie die Stadt Kopenhagen aussieht, und in den Flugplätzen von Tokio, von Bangkok, von Karachi und Istanbul erkannte ich schon die Städte. Und jeder Flugplatz vor jeder Stadt teilt dem Gast klar und deutlich die Position mit, in der seine Stadt in der modernen Position liegt.

Umsteigestation nach dem Fernen Osten ist Kopenhagen geworden, man sieht es am Flugplatz: ein Haufen Kinder zwischen ein und zehn Jahren aus allen Städten des Fernen Ostens, die unwahrscheinlich klein sind und riesengroße schwarze Augen haben und schwarze Haare, die zu Berge stehen. Sie sehen so asiatisch aus, daß man ihre Eltern nicht bemerkt, die viel europäischer wirken; ein ernster, verschlossener Herr, der Oberst in der kaiserlich japanischen Armee gewesen sein könnte und wahrscheinlich Direktor des Mitsubishi-Konzerns ist. Später, beim Einsteigen in die Polarmaschine der SAS, wird eine japanische Stewardeß im Kimono erscheinen. Sie ist graziös, aber sie wirkt nicht asiatisch, sondern wie aus einem Plakat der Fluggesellschaft ausgestiegen.

„WIR FLIEGEN über der Grenze zwischen Schweden und Norwegen", sagt der Flugkapitän, der auch Reiseconferencier ist, über die Radioanlage der Maschine. Die DC 7 ist geräumig und schwer und robust. Sie hat zwei Klassen. In der ersten sitzen die Großen dieser Erde. In der zweiten Klasse reist der Mittelstand des internationalen Luftreiseverkehrs. Auf den französischen Strecken der Air France sah ich noch eine dritte Klasse; die ist unten im Hängebauch der Flugjnaschine, und in ihr sinT wie in das Zwischendeck der Transportschiffe, die Menschen auf Arbeitsuche eingepfercht. Hier in der luxuriösen SAS-Maschine ist es eigentlich nur die Atmosphäre, die den Unterschied zwischen erster und zweiter Klasse ausmacht. — In der ersten wird Champagner ausgeschenkt, in der zweiten gewöhnlicher Wein.

Unter uns wächst die Einsamkeit. Nach der dänischen Spielzeuglandschaft kamen die skandinavischen Seen, und dann begann der Wald, der immer dunkler wird und erst vor dem Weiß des Eismeeres abrupt abbricht. Der Wald ist wie eine dunkle Decke, die Löcher hat. Durch die Löcher schimmern ganz dünne Lichter, und man kann im Halbdunkel der Polarnacht die Häuser erkennen. — Immer weniger Lichter, immer weniger Häuser, und man möchte unbedingt wissen, wie es ist, dort unten zu leben, in einem dieser Häuser in der Einsamkeit, die immer schwerer wird. — Dann beginnt die Einsamkeit sich im Polareis zu verlieren. Bei den letzten Häusern am dünnen Rand zwischen schwarzem Waldmeer, das hinter uns liegt, und dem weißen Eismeer, über das wir fliegen werden, ist die Wirklichkeit zurückgeblieben. Was jetzt kommt, ist ein Breitwandfilm von einem anderen Planeten.

Wiederum wie über den Wolken über Deutschland: Man möchte aus der Maschine aussteigen. Man möchte das Eis dort unten kennenlernen und spüren. Es ist so fremd und man wird es nie wieder sehen. — So war es auch auf dem Flug über die Sahara gewesen. Die siebzig Grad Hitze lagen damals fast sichtbar zwischen dem Flugzeug und dem gelben Sand, der zum Kommen einlud und zum Irgendwohin- gehen. Hier ist es die Kälte, die durch das Fenster der warmen Kabine fast sichtbar ist und körperliche Wirklichkeit wurde. Und der grenzenlose Gletscher lädt ein, über den man gehen möchte, bis zu jenem Punkt, an dem eine leichte Schattierung im hellen Blau den Uebergang zum Himmel anzeigt.

UM DIE MOTOREN hat sich ein Heiligenschein aus feurigen Auspuffgasen und klarer Eisluft gelegt. Ich habe meine Stirne gegen das Fenster gepreßt, und als die erste Hütte in Alaska auftauchte, wußte ich, daß ich mich seit dem letzten einsamen Licht im skandinavischen Wald nach ihr gesehnt hatte. Als wir dann über Tokio kreisten und der Dunst aus der Neunmillionenstadt sich um unser Flugzeug legte, fühlte ich: Endstation nach einer Reise von 36 Stunden — über drei Kontinente, durch Einsamkeit, Urwald und Eismeer.

Eine Fliege hatte sich knapp vor Tokio an mein Fenster gesetzt. Wahrscheinlich ist sie in Alaska eingestiegen, aber vielleicht fliegt sie auch schon seit Kopenhagen mit. Die Fliegen in Asien sind groß und sollen gefährlich sein. Meine Nachbarin ist klein und sieht sehr harmlos aus. Sie kommt also aus Europa. Ob sie sich fremd und verloren fühlen wird, wenn sie in Tokio aussteigt? Ob sie ihre Familie suchen wird oder ob sie weiß, daß zwei Kontinente hinter ihr liegen und daß es zwecklos ist, nach ihr zu suchen, die zurückgeblieben ist? Ob sie sich in Tokio niederlassen wird, um eine neue Familie zu gründen? Oder ob sie jetzt entwurzelt ist und immer weiter reisen will, nach China und nach Indien, dem Paradies der Fliegen?

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