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Die Erde bebte

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„Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch!“

Sophokles' „Antigone“. — Stundenlang hatte ich in jener milden Aprilnacht in meinem Arbeitszimmer in San Francisco die herrlichen Verse des attischen Tragikers gelesen. — Mitternacht war's geworden, und still und dunkel lag unten in der Frühlingsnacht die Straße der kalifornischen Metropole. Es war Zeit zum Schlafengehen. —

Das war am 17. April 1906, in der Woche nach Ostern.

In jener Nacht träumte ich, ich stürze in einen Abgrund. — Schneller — immer schneller —, ich will schreien, aber der rasende Sturz schnürt mir die Kehle zu. — Schwer schlage ich auf hartem Boden auf und erwache.

Ich liege auf dem Fußboden des Zimmers und — heute noch liegt mir das Grauen in den Gliedern! — um mich herum tanzen, boshaft, gespenstisch, im matten Morgenzwielicht, alle Möbel meines Zimmers: der hohe Schrank, der schwere Tisch, die Stühle, der Waschtisch. Klirrend fällt das Waschservice herab, zerschellt unten in tausend Splitter. In kleinen, teuflischboshaften Sprüngen tanzen sie um mich herum, die Möbel, in die ein gespenstisches Leben gefahren war, und das Zimmer, das ganze Haus schüttelt sich wie im Fieberfrost. Als Begleitmusik zu diesem Totentanz der dumpf drohende Höllendonncr aus der Tiefe ...

Eine, zwei Sekunden stehe ich erstarrt — dann jage ich, totenbleich, die Treppe hinab, umklirrt von einem Regen fallender Glassplitter, von Wandbelag, von Ziegelsteinen.

Nie werde ich den Gedanken vergessen, der mir bei meiner rasenden Flucht, bei diesem Rennen um mein Leben, durch den Kopf schoß: „Ist das Haustor unten geschlossen, dann bin ich verloren!“----

Es ist offen, und in der nächsten Sekunde stehe ich draußen auf der Straße. — Hin und her schwanken die einstöckigen Holzhäuschen, wie toll jagen Hunde, jagen scheu gewordene Pferde durch die Straße, schleifen hinter sich her die Wagen wie Spielzeuge, und auf dem Fußweg rechts und links steht eine endlose Reihe von Menschen — Männer, Frauen, Kinder —, alle im Nachthemd oder in Pyjamas, alle blaß wie der Tod, alle starr vor Entsetzen ...

Wie von einer Riesenfaust gerüttelt, wie wenn ein großer Hund eine Katze im Genick packt und wütend hin und her schüttelt, so schwankt, rüttelt, bebt die große Stadt.

Wie lange das Erdbeben gedauert hat? — Später las ich in der Zeitung, es wäre höchstens eine halbe Minute gewesen. — Eine Ewigkeit hat es mir, hat es uns allen erschienen ...

Dann — endlich! — tritt wieder Stille ein. Leben kommt in die entsetzensstarren Menschen, langsam, immer noch bleich bis in die Lippen, ziehen sie sich wieder in ihre Häuser zurück.

Oben, in meinem Zimmer, liegt, immer noch aufgeschlagen, das Buch von gestern abend:

„Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch!

Ich blicke aus dem Fenster: an fünf, acht, zehn Stellen der Stadt steigen steil hohe, pechschwarze Rauchsäulen zum blauen Morgenhimmel auf. Ich sehe auf die Uhr: zwanzig Minuten nach fünf Uhr morgens. Noch zu früh, um ins Geschäft zu gehen, das ja erst um 9 Uhr beginnt. Aber von Schlafen ist heute doch keine Rede mehr. Und diese Rauchsäulen? — Es wäre doch ganz interessant, sich diese Brände näher anzusehen.

Langsam durchwandre ich die lange, schnurgerade Missionsstraße, in der ich wohne. Die ganze Urgewalt des eben erlebten Erdbebens kommt mir jetzt erst zum vollen Bewußtsein. Dort zieht sich quer über die Straße ein fünf Meter breiter, zehn Meter tiefer Schlund, und in der Tiefe liegen die Kadaver von einem halben Dutzend Ochsen. Hier hat das Erdbeben die Schienen der Elektrischen aus dem Boden gerissen, wie dünnes Blech verbogen: meterhoch ragen sie in die Luft.

Bis neun Uhr — Geschäftsbeginn — ist's noch lange Zeit. Also steige ich den Nobhügel hinauf, um von der Höhe aus die Brände besser überblicken zu können. — Nun bin ich oben auf dem Nob-Hill und — pralle entsetzt zurück:Wo sich dort unten im Tal, gegen den blauen Hafen zu, das stolze Geschäftsviertel aufgebaut hatte, ist nichts mehr zu sehen als ein wüster Schutthaufen. San Francisco, gestern noch das Ausgangstor nach Asien und Australien, nach allen Inseln der Südsee: heute ein rauchender Trümmerhaufen... „Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch!“ *

„Wie komme ich wohl am besten hinunter in das Geschäftsviertel?“ frage ich einen amerikanischen Feldwebel, der dort auf dem Nob-Hill am Eingang eines Hauses steht.

„You carry pictures!“ — „Schleppen Sie Bilder!“ war die rätselhafte Antwort. In Amerika ist man derartige Antworten nicht gewohnt, und ich war im Begriff, dem Unteroffizier meine Meinung zu sagen, da zupft mich ein Mann am Aermel:

„Reden Sie nicht, kommen Sie! — Das Standrecht ist erklärt in ganz San Francisco, und das Militär schießt beim geringsten Widerspruch!“

Tatsächlich hatte der Feldwebel einen verdächtig aussehenden Revolver im Ueberschwung. Na, dann also hinein ins Haus — es war eine Bildergalerie — und Bilder herausgeschleppt. Ich suche mir das kleinste aus, trage es hinaus auf die Straße und stelle es dort zu den andern. Und weil der Vertreter der Staatsgewalt gerade mit einem andern Unteroffizier angeregt plaudert, so drücke ich mich würdig und wortlos in eine Seitengasse. Und steige den Hügel hinab in der Richtung, wo gestern mein Geschäft gc legen haben muß.

Ich komme nicht weit: zehn Meter hohe Schutthaufen versperren den Weg, machen jedes Weiterkommen unmöglich.

Ein Haus steht dort noch aufrecht, ein einziges, wo gestern noch hunderte gestanden hatten. Ein stämmiger Polizist packt einen Wasserschlauch und versucht, den immer näherkommenden Brand von diesem Hause abzuhalten.

„Come on, boys!“ ruft er uns zu. Und wir rennen hin, ihm bei seiner Rettungsarbeit zu helfen. — Lächerliches Unterfangen: nicht ein Tropfen Wasser kommt aus dem Schlauch! Auf drei Seiten ist San Francisco vom Ozean umgeben. Also Wasser im Ueberfluß! — Und nicht ein Tropfen zum Löschen der Flammen! Hilflos, mit verschränkten Armen müssen die Einwohner zusehen, wie ihr gesamtes Hab und Gut dem wütend um sich greifenden Brand zum Opfer fällt!...

„Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch!“ *

Hier ist also nichts mehr zu wollen. Am besten ist's wohl, ich gehe nach meiner Wohnung zurück, wo ich jetzt vielleicht notwendiger bin als hier. Auf dem Weg dorthin komme ich an der „Münze“ vorbei, wo ich mir gestern noch das Prägen der Golddollars angesehen hatte. Eines der wenigen Gebäude, die mit einigen gewaltigen Sprüngen im Mauerwerk davongekommen waren. — Eine Rotte verdächtig aussehenden Gesindels hat sich auf dem Platz vor der breiten Freitreppe angesammelt, stürmt nun die Freitreppe hinauf gegen die verschlossenen Tore der „Münze“. Da fliegen diese wie auf ein Zauberwort weit auf, und in den hohen Torbogen steht, das Gewehr in Fertigstellung, eine Halbkompanie amerikanischer Infanterie. Aber das Kommando „Feuer!“ wird nicht gegeben; denn wie Spreu im Wind zerstiebt die raublustige Bande nach allen Richtungen, verschwindet hinter den rauchenden Ruinen.

Bei meinem Haus kam ich gerade noch rechtzeitig an: zehn Minuten später, und ich hätte alles verloren. Denn schon brennt die lange Missionsstraße, und verblüffend ist die Schnelligkeit, mit der die Flammen von einem Dach aufs nächste überspringen. Ich habe gerade noch ein paar Minuten Zeit, mein allernotwendigstes Eigentum in eine Handtasche zu stopfen, da schreit auch schon unten in der Straße ein Polizist;

„Wollen Sie wohl herunterkommen, Sie verdammter Narr? Oder wollen Sie verbrennen?“

Ich stürze hinunter auf die Straße; sechs Minuten später geht mein Haus in einem Flammenmeer unter...

Zu essen gab's an diesem Unglückstag natürlich nichts. Wo hätte man auch etwas bekommen sollen, wo die halbe Stadt ein Schutthaufen war, die andere Hälfte in Flammen stand?

Mit meiner Handtasche wandere ich ziellos durch die noch nicht brennenden Straßen im Westen der Stadt. Nachmittag wird's, Abend, Nacht. Da werfe ich, todmüde, in der Sacra-mentostraße meine lederne Handtasche auf das Pflaster der Straße, mich selbst daneben und schlafe ein.

Tausende, aber Tausende fliehender Menschen sind in jener Nacht über mich hinweggestiegen, die ganze Nacht hindurch heulte von der Unterstadt her der Brand, krachten die Explosionen der Gasbehälter, donnerten einstürzende Häuser. Aber nie im Leben habe ich so tief, so traumlos tief geschlafen wie in jener Nacht nach der Katastrophe von San Francisco.

Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war:

„Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch!“

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