Auf Jungfernflug

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Wie sich ein Schriftsteller fühlt, der im Begriff ist, eine seiner letzten Schrulligkeiten und Rückständigkeiten und Phobien zu verraten.

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Wie sich ein Schriftsteller fühlt, der im Begriff ist, eine seiner letzten Schrulligkeiten und Rückständigkeiten und Phobien zu verraten.

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Schreiben Sie also, mein Freund: In der Morgendämmerung des einundzwanzigsten Februar fliegen wir mit durchgefrorenen Extremitäten aus dem halbmeterstarken und bald ein Halbjahr alten Eispanzer Klagenfurts mit einer kleinen, selbst noch nicht völlig aufgetauten Propellermaschine ab. Ein Propeller ist etwas Paläozoisches, das kann man auch als Lebewesen der Zwischeneiszeit sagen, das im übrigen so gut wie jenseits neuester technologischer Errungenschaften existiert.

Ich habe zu kleinen Propellerflugzeugen mit kleinen Tragflächen und schmalen Rümpfen weniger Vertrauen als zu großen Düsenflugzeugen mit breiten Tragflächen, aber ich habe auch zu großen Düsenflugzeugen mit breiten Tragflächen an sich wenig Vertrauen.

Nein, fangen wir anders an, schreiben Sie lieber: Ich bin jetzt vierunddreißig Jahre alt, und es ist in meinem Leben das erste Mal, daß ich in einem Flugzeug sitze, das zur Startbahn rollt; ich bin im Begriff, eine meiner letzten Schrulligkeiten und Rückständigkeiten und Phobien zu verraten. Insofern sind Propeller vielleicht doch angemessen, und man kann meinen Flug auch als Flug in die Vergangenheit betrachten.

Es ist in meinem Leben das erste Mal, daß eine Maschine um mich beim Beschleunigen solchen Lärm entfacht, daß man meint, ihr Motor müsse jeden Augenblick verreiben und explodieren und das ganze filigrane Vehikel auseinanderkrachen. Seine Unaufhaltsamkeit hat etwas Verhängnisvolles.

Es ist in meinem Leben das erste Mal, daß ein Flugzeug rund um mich vom Boden wegkommt und binnen Sekunden wenn auch wackelnd und schnaubend und ächzend eine mir nur aus Fernsehfilmen bekannte Fallhöhe erreicht; in Filmen ist alles angenehmer, reibungsloser: Man müßte nur sich selbst auch in die Filme hineinschieben können; das erste Mal, daß ich so absolut ausgeliefert bin und nicht intervenieren und reklamieren und berufen und aussteigen kann. Ich kann umhin, aber ich muß mittun. In meinem Leben das allererste Mal daß ich persönlich abstürzen und zum Personal einer Flugzeugabsturztragödie gehören könnte.

Ich habe nicht unabsichtlich vierunddreißig Jahre auf diese Möglichkeit verzichtet. Tatsächlich kann ich jetzt sagen, daß ein Fugzeugkapitän sein Flugzeug genauso startet wie ein Schriftsteller seinen Text starten muß, wenn sie nach oben kommen wollen. Zugegeben sind in der Geschichte der Luftfahrt schon mehr Texte als Flugzeuge abgestürzt.

Ich luge vorsichtig und ohne jede Körperbewegung und Gewichtsverlagerung beim Fenster hinaus und sehe tief unten die Gletscher liegen, aber ich glaube prinzipiell nach wie vor nicht daran, daß ein Flugzeug fliegen kann. Es ist eine Zeit, in der Glaube sehr unnotwendig geworden ist. Nur ein einziger Glaube ist nicht durch den Universalglauben an Statistik und Wahrscheinlichkeit ersetzt worden, der Aberglaube: Es gibt im Eisenvogel keine dreizehnte Sitzplatzreihe, vermutlich weil die Flugzeuggesellschaft fürchtet, die dreizehnte Reihe könnte doch abstürzen. Ich habe - aus Filmen gewußt, daß das Rauchen während des Starts und der Landung verboten ist, aber ich habe nicht gewußt, daß es generelle Nichtraucherflüge gibt. Der erste Flug meines Lebens - und gleich ein Nichtraucherflug! Da ist der Spuckbeutel ein schwacher Trost und eine jämmerliche Alternative. Beten ist sicher gestattet, aber ich bin Nichtbeter. Meine Einführung des Trockenrauchens auf Nichtraucherflüge akzeptiert die Stewardeß.

Am Fensterplatz neben mir sitzt mein Sekretär direkt neben dem selbsterzeugten Abgrund. Einerseits erfordern meine Recherchen Mitschriften und Notizen, andererseits nimmt mein unmittelbarer Reisefesthaltungsdrang mit Zunahme der Reisen und zunehmendem Alter ab, Photographieren ist mir immer peinlich gewesen. Ich bin es leid, notierend durch ein fernes Land und einen fremden Frühling zu schlendern und alle Augenblicke eines Eindrucks oder einer Eingebung oder eines Gedankens oder einer Formulierung wegen den Schreibblock aus dem Sakko zu ziehen. Also gehe ich diktierend, lasse photographieren und kann den Sekretär von der Einkommenssteuer absetzen. Außerdem ist sein Englisch vorzüglich.

Man kann natürlich ein Reisetagebuch führen, nur verschwendet man beinahe die ganze Zeit und den ganzen Aufenthalt damit, daß man in sein Tagebuch schreibt, daß man ein Tagebuch schreibt; man verlernt, mit den Augen und mit dem Gehirn zu photographieren, man hat die Augen nur noch am Papier und wird so in der kürzesten Zeit die Geisel seines Tagebuchs. Hab dich nicht so, sagt man einem, der sich ängstigt und dessen Angst zu Panik wuchert. Aber was soll das heißen, sich haben? Was man haben könnte, wenn man sich hat. Als ob man, wenn man sich hat, etwas anderes haben könnte als Angst. Und als ob ich mich wirklich hätte! Es ist keine große Hilfestellung und Beruhigung, daß man das Flugzeug, dem man sich ausliefert, durch eine Ziehharmonika aus Hartgummi betritt und von außen gar nie zu Gesicht bekommt und weder Type, noch Herstellerfirma erfährt.

An Bord: Grütziwol, this is your captain Bruno Leicher speaking, der hätt auch anders heißen können, aber Stornieren und Aussteigen ist nicht mehr angebracht, wenn sich Zürich im Guckloch zu einer Miniatur zusammensaugt. There is no Swissair counter no more. This is the point of no return, und immer ist die Sprache so schrecklich zweideutig. Wenigstens die Propeller an den Tragflächen sind jetzt durch anständige Zigarren ersetzt. Die Geräuschkulisse ist in etwa die eines Autobusses, und man meint auch immer wieder Haltestellen im Äther anzusteuern, und in solchen Augenblicken zünde ich mir die Zigarette mit dem Glutrest ihrer Vorgängerin an und versuche, mich auf meinem Sitzplatz möglichst aerodynamisch zu verhalten, ich möchte mir später keine Vorwürfe machen müssen.

Ich müßte auf die Toilette, aber hier oben gehe ich nicht, nur nicht übertreiben, nur nichts provozieren. Aus den Augenwinkeln heraus inspiziere ich die routinierte Gelassenheit der übrigen Fluggäste, die alle schon tausend Flüge überstanden haben und mit der Abgebrühtheit amerikanischer Handelsminister müde im Diario de Noticias blättern, das schafft eine gewisse Ruhe bis zum nächsten Ruck. Vorderhand bleibt nichts als Überleben übrig, anschließend kommen unter der Folie auf quadratischen Tellern quadratischer Lungenbraten mit quadratischen Broccoli und quadratischen Kartoffelkroketten, als Nachtisch Bananenmousse mit Mandarinenscheibchen und Champagner. Wahrscheinlich eine List. Die Frage ist, wo kommen in der Luft die Bodenwellen und die Schlaglöcher her. Turbulenzen, erklärt Bruno Leicher über Funk in vor Gutartigkeit strotzendem Tonfall, die durch den starken Rückenwind verursacht werden, dem wir in unserer Höhe ausgesetzt sind und dank dem wir etwas früher als vorgesehen landen werden.

Im ersten Moment ist mir nicht ganz klar, wie er das meint. Ich habe mich also wieder. Selbstverständlich ist unsere, ist meine Existenz ohne jeden, jedenfalls ohne jeden über sie selbst hinausweisenden Wert, und wenn sie, wie und wo und wann auch immer endet, ist das allenfalls als Privatsache tragisch, aber in solchen Momenten denkt man automatisch sehr privat. In solchen Momenten warten wir auf den einen Augenblick, in dem wir urplötzlich aus unseren vergesellschafteten Fortschrittsallmachtsträumen erwachen, aus unserem lückenlos vernetzten Weltwahnsinn, und urplötzlich glasklar das Naheliegendste sehen, daß nämlich die Gesetze der Aerodynamik reiner Schwindel sein müssen und wir, wie wir es immer schon vermutet haben, nicht fliegen können, wie die Zeichentrickfigur, die so lange ohne Bewußtsein durch die Luft läuft, bis sie vielleicht nur einen Sekundenbruchteil lang darüber nachdenkt, was sie da eigentlich tut, reflektiert, die völlige Unmöglichkeit des bisher tatsächlich Gewesenen erkennt und noch im selben Denkmoment zu Boden donnert.

Auch das ist beim Schreiben übrigens ähnlich. Fliegen, schreiben, rauchen, glauben, alles eins. Wir warten gebannt auf ein uns plötzlich aus der Luft schleuderndes, in ein Gebirge schmetterndes Unwetter, auf ein Abblättern des Lackes am Flugzeugrumpf, auf ein Aussetzen des Motors, auf ein Versagen der Turbinen, auf menschliches Versagen, auf einen technischen Defekt, auf ein uns frontal entgegenkommendes oder seitlich rammendes Flugzeug, auf wegbrechende und schnell in die Tiefe sinkende Tragflächen, auf das, was man aus der Zeitung kennt. Vermutlich benützt man in solchen Fällen das luftdicht verpackte Erfrischungstuch.

Im nachhinein werden wir das, was jetzt ist, Strapazen nennen. Wir befinden uns jetzt in 10.660 Meter Höhe, fliegen gerade an Genf vorbei - im Grund eine Geringschätzung Genf gegenüber - und schwenken auf einen Südwestkurs Richtung Lyon ein, dann überfliegen wir St. Etienne, am Zentralmassiv vorbei, Toulouse, Lourdes, die Pyrenäen, Pamplona. Burgos, Valladolid, Salamanca, Castel Branco, Fatima und landen in Lissabon. Es klingt alles, was der Kapitän erzählt, wie ein Märchen, aber doch eigentlich ganz einfach und logisch und nachvollziehbar.

Also einverstanden, aber bitte vorsichtig schwenken! Mit kommt es auf ein paar Minuten nicht an. The weather in Lisboa is reported to be cloudy, da schau her, kann man nichts machen.Eine kleine elektronische Bildschirmlandkarte ist nach jeder dritten Sitzplatzreihe aus dem Plafond gestülpt, hängt sozusagen vom Himmel herunter; die Alpen sind ein kräftiges Orange, Frankreich ein grelles Giftgrün, Spanien ein frisches, sattes Kaisergelb und Portugal eine Mischung aus Frankreich und Spanien, die bereits zurückgelegte Wegstrecke des Flugzeugs ist der rote Faden. Es wäre sich selbst gegenüber taktlos, sich auszumalen, wie auf dem Bildschirm der rote Faden weitergezeichnet würde, wenn doch einmal der Fall des Falles ...

Aber jetzt höre ich auf, mich zu haben, statt dessen lieber eine Dose Fürstenberg Imported über den Pyrenäen, wenig Kohlensäure, trotzdem Prost. Zum Beispiel hat Vasco da Gama, der zweidimensionale Exabenteurer, nie ein Fürstenberg Imported über den Pyrenäen getrunken, nie hat er in den Wolken über St. Etienne Bananenmousse gemampft. Niemals war Vasco da Gama der Partikel des Punktes des Kondensstreifens am Himmel, den er von seinem Balkon aus, falls er einen besessen hat, hätte sehen können, wenn es ihn bereits gegeben hätte. Niemals der point of no return.

Wahrscheinlich denken die Pyrenäenbewohner unter uns jetzt gerade nicht nur nicht daran, daß Vasco da Gama hoch über ihren Vorfahren nie ein Fürstenberg Imported getrunken hat, sondern auch nicht daran, daß hoch über ihnen augenblicklich überhaupt ein Fürstenberg Imported getrunken wird, wie ja mittlerweile hoch über der gesamten Weltbevölkerung und auch über uns, wo immer wir uns befinden, jederzeit ein Fürstenberg Imported getrunken werden kann, selbst über den kühnen Fürstenberg-Imported-Trinkern kann je nach Flughöhe noch ein Fürstenberg Imported getrunken werden. Die Geschwindigkeit beträgt nun 838 km/h, die Außentemperatur -50¡, das muß man einfach glauben.

Der Sekretär ist gebildet, das heißt, ihm fallen über Ort zwangsläufig Alma Mahler, Paula Ludwig, Heinrich Mann, Walter Benjamin ein, die seinerzeit noch viel dringendere Projekte hatten. In 11.300 Metern Höhe ist es eigentlich überhaupt kein Problem, über die Pyrenäen drüberzukommen, wenn auch sogesehen - eine Unverschämtheit. Aber wir werden hier oben nicht auch noch moralisch werden.

Dem Sekretär fallen auch Franz Werfel, Das Lied von Bernadette und die Geschichte mit dem Gelübde ein. Es gibt bis heute welche, schmunzelt er, die auf einen grausamen, alttestamentarischen Gott, jedenfalls einen literarisch geschmacklosen Gott schließen, weil er sich auf den Pakt mit Werfel eingelassen, Werfel die Pyrenäen überwinden, aber dafür anschließend dieses Lied von Bernadette schreiben lassen hat, als hätte es nicht schon gereicht, ihn ständig Verdi-Arien grölen zu lassen.

Apropos, sagt er, Sie könnten doch auch einen Text geloben für den Fall, daß wir gesund in Lissabon landen, und sei es eben die Svevo-Pessoa-Sache. Ja, aber wem in meinem Fall? Dem Ministerium? Dem Finanzamt? Dem General der Austria-Tabakwerke? So verfliegt die Zeit. Wenn die Landkarte von Südwesteuropa zu langweilig wird, zwischendurch zur Abwechslung kleine handlungsarme Pinguinfilme, nicht sehr aufregend. Und irgendwo über Spanien kommt dann doch erstmals die fixe Idee: Wir fliegen! Wir könnten es schaffen!

Man steigt aus einem Flugzeug, wie man ein Buch beendet: Als sei überhaupt nichts gewesen. In dreieinhalb Stunden sind der Eispanzer und die Schneeberge von Zuhause zu zwei Worten zusammengeschmolzen, die wir jetzt nicht ohne Triumphgefühl auch noch aus der Sprache werfen. Die Lisboeter - das muß unserer sofortigen Klima-Euphorie zum Trotz gesagt sein - tragen nicht nur Handschuhe (denn Handschuhe tragen sie nach dem Vorbild der bedeutenden Fußballer Alvez und Eusebio so gut wie temperaturunabhängig), die Lisboeter tragen auch Schals, Pelzstiefel, dicke Anoraks und frieren fürchterlich, denn es hat bloß 16¡ über null, und so einen Winter haben sie schon lang nicht mehr erlebt. Der Flughafenzollbeamte sagt Bom dia, das sind die letzten beiden portugiesischen Worte, in denen kein sch vorkommt; schnell sind die Mietwagenformalitäten erledigt, und dann sind wir tatsächlich, wo wir noch nie gewesen sind.

Der Beitrag ist der Beginn einer längeren Erzählung Egyd Gstättners mit dem Titel "Februarreise an den Tejo".

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