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Der Pol ohne Tränen

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„Großer Gott, was für ein schrecklicher Ort“, hatte Scott am südlichen Achsenpol der Erde in das Tagebuch notiert, das man nachher bei dem Töten fand. Das Schicksal hatte ihm die einzige Belohnung versagt, die er sich in der Stunde tiefster • Enttäuschung, angesichts der von Amundsen. gepflanzten Flagge, für fünfzehnhundert Kilometer Entbehrung .und achtzig Tage Qual denken konnte: der erste zu sein. Ein halbes Jahrhundert später schrumpfte Scotts Treck im geheizten Flugzeug auf drei Stunden, und der Fahnenmast mit. dem Sternenbanner ist ein Pol ohne Schrecken, ein Pol ohne Verzweiflung und Tränen;

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„Großer Gott, was für ein schrecklicher Ort“, hatte Scott am südlichen Achsenpol der Erde in das Tagebuch notiert, das man nachher bei dem Töten fand. Das Schicksal hatte ihm die einzige Belohnung versagt, die er sich in der Stunde tiefster • Enttäuschung, angesichts der von Amundsen. gepflanzten Flagge, für fünfzehnhundert Kilometer Entbehrung .und achtzig Tage Qual denken konnte: der erste zu sein. Ein halbes Jahrhundert später schrumpfte Scotts Treck im geheizten Flugzeug auf drei Stunden, und der Fahnenmast mit. dem Sternenbanner ist ein Pol ohne Schrecken, ein Pol ohne Verzweiflung und Tränen;

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Man steht am Pol auf 2799 Meter Seehöhe und auf 2804 Meter Eis; die Eislast drückt die Felsunterlage an dieser Stelle unter das Niveau des Meeresspiegels. Mit Sprengladungen geschossene Eisdickenproflle zeigen, daß der Pol über einem tief eingeschnittenen Trog liegt. Davon läßt freilich das polare Plateau, eine sanft gewellte Schneehochfläche ohne Landmarken, nichts merken. Der Horizont lockt keine Fragen hervor nach dem, was jenseits ist, die Antwort fiele auch ernüchternd genug aus: Auf das Versteckspiel der Natur ist vielleicht das Understatement eines einfachen Fahnenmasts die angemessene Antwort des Menschen, jedes Denkmal in der Eiswüste wirkte unangebracht pompös. Die Fahnenstange hat übrigens eine kleine Reise hinter sich: Neuvermessung wies ihr einen Platz 750 Meter außerhalb der vermeintlich am Südpol angelegten amerikanischen Amundisen-Scott-Station an. Genaugenommen, markiert sie nur den geographischen Kartenpol. Vorgänge um die und auf der Erde — Wind und Wetter, die Gezeiten, die Schlammumlagerung durch große Ströme, ja selbst ein aus kosmischer Sicht so unbedeutendes Geschehen wie der abendliche Stoßverkehr in Manhattan — beeinflussen ein wenig die Lage der Drehachse der Erde. Wollte man daher ihr Südende Augenblick für Augenblick bezeichnen, tanzte der Achsenpol auf einer unregelmäßig kreisähnlichen Bahn um seine mittlere. Von der Fahnenstange würde er sich dabei jedoch niemals mehr als zehn Meter entfernen. Man braucht nicht sein ganzes Leber, davon geträumt zu haben, einmal an diesem Ort zu stehen. Seine faszinierenden Merkwürdigkeiten tun trotzdem ihre Wirkung. Wohin man sich wendet, wohin man blickt — man geht, man schaut nach Norden. Wer sich über die Richtung eines Ausflugs verständigen will, muß in der Geographie der Südhalbkugel bewandert sein. Man verläßt die Station je nachdem in Richtung Tasmanien, Feuerland oder Südafrika. Hier, am Nonplusultra der Breitengrade, am Rendezvous der Meridiane, kann man, falls einem nicht in der dünnen, kalten Luft der Atem ausgeht, in zehn Sekunden auf einem Bein um die ganze Welt hüpfen, gar nicht zu reden davon, daß man je nach einer Reise im Uhrzeiger- oder Gegenuhrzeigersinn beim Uberqueren der Datumsgrenze vom Heute ins Gestern oder ins Ubermorgen gerät. Und ein Kontrollblick auf die Sonne bestätigt jederzeit, daß man sich an einer außergewöhnlichen Stelle des Planeten aufhält: fürs Auge kreist sie immer gleich hoch über dem Horizont — es erscheint wider besseres Wissen ausgeschlossen, daß sie vor drei Monaten aufgegangen ist, undenkbar, daß sie weitere drei Monate später wieder untergehen wird.

Der Begleiter reißt den Besucher aus dem Träumen über diese geographischen Kuriositäten. Er hat es eilig, zur Station zurückzukehren. Als Begründung murmelt er etwas von „warm bleiben“. Es ist ein mäßig kühler Sommertag mit wenig W:-i, das Thermometer zeigt minus 42 Grad Celsius, sechs Grad wärmer als das örtliche Jahresmittel der Temperatur. Indes gilt die Sorge des Begleiters, wie der Besucher bald herausfindet, gar nicht ihm, sondern einem erkalteten Mittagessen. Auf dem Menü der Amundsen-Scott-

Station steht an diesem Tag Pizza — Pizza am Ziel der Hungermärsche von ehedem, Pizza am Pol! Der Besucher kam auf dem Luftweg von Byrd. Über den Horlickbergen, dem Grenzgebirge zwischen dem Marie-Byrd-Land und dem polaren Plateau, kurvte die „Herkules“ geraume Weile. Nach Amundsens und Scotts Vorstoß vergingen vierundvierzig Jahre, ehe wieder Menschen am Pol standen. Rear Admiral George J. Dufek rekognoszierte im Oktober 1956 das Gelände mit sechs Mann der Marine. Es fehlte wenig, und er wäre nicht mehr weggekommen: Minuten nach der Landung waren die Skis der „Dakota“ an der Ober-

flache festgefroren. Im November begann der Bau der Amundsen-Scott-Station. „Globemasters“ röhrten über der schweigenden Hochfläche des Pols, der Himmel regnete Baumaterialen und Brennstoff, Traktoren und Trinkeier. 1957 sahen erstmals Menschen am Südpol die Sonne untergehen und nach der mysteriösen Polarnacht wiederaufgehen. Seither haben die Schneeorkane die oberirdisch angelegte Station verschüttet und in den Untergrund gedrängt, aber zäh verteidigt die Navy die Wärmeexklave im Hoheitsgebiet des Inlandeises. Die Nachfahren der „Ritter von der schmutzigen Unterwäsche“ waschen mit Waschmaschinen, die Höhlenbewohner bräunen sich mit Höhen-

sonnen. Abend für Abend versammeln sie sich hemdsärmelig in einem Gemeinschaftsraum, den Tapete und Schlummerbeleuchtung mehr zum Nachtlokal als zum Kino bestimmen. Die Besatzung der Polstation tele-phoniert wöchentlich mit Frauen, Bräuten und Müttern; manches Gespräch kostet weniger als der Anruf von einer Schweizer Stadt in eine andere. Überbeschäftigt ist in der kleinen Station der Postmeister im Nebenamt. Jeden Sommertag stempelt er fünfhundert Briefe, die Mehrzahl davon Philatelistenpost, manche sogar aus Ostländern, die für die Rücksendung bestimmten Kuverts freigemacht mit amerikani-

schen Marken. Der Postmeister verhehlt dem Berichterstatter.picht das innige Vergnügen, mit dem er gerade auf Briefe von hinter dem Eisernen Vorhang das Emblem der Südpolstation drückt: ein muskulöser Matrose, ein Atlas aus der US Navy, trägt die Last der Antarktis und des Globus. Der Postmeister, der sich ursprünglich aus Wertzeichen nichts machte, wurde am Südpol zum Briefmarkensammler, aus so vielen Ländern schreiben ihm die Philatelisten.

Im Februar landet am Pol das letzte Flugzeug. Nach dem 21. März geht die Sonne unter. Während der etwa vier Wochen langen Dämmerung beginnt grün und gelb das Südlicht zu zucken. Der Mond, der jeden Winter-

monat vom Pol aus zwei Wochen ununterbrochen sichtbar ist, wird zur letzten Erinnerung an eine vertraute Welt. Die Temperatur fällt bis auf — 81 Grad Celsius. Die Gesprächsthemen erschöpfen sich, in den Quartieren breitet sich das Kabinenfieber aus, der Konsum von Aspirin ist phänomenal. Der erste Morgendämmerschimmer Ende August wird von den zwanzig Männern mit dem Enthusiasmus begrüßt, mit dem die Besatzung der „Santa Maria“ den Ruf „Land!“ vernahm. Am 23. September geht die Sonne auf, aber auf das erste Flugzeug wartet man am Pol manchmal noch einen vollen Monat. Erst wenn das Thermometer über die Minus-50-Marke klettert, kann ein Flugzeug ungefährdet landen. All die Telephongespräche während der Polarnacht ersetzen nicht den einen ersten Sommerbrief. Sollte der Postsack, wie das schon vorgekommen ist, lauter Briefe gieriger Briefmarkensammler enthalten, wird am Pol das Wort „Philatelist“ für einige Zeit zum Schimpfwort.

Das wissenschaftliche Programm der Polstation unterscheidet sich wenig von demjenigen in Byrd. Wenn schon die ganze Antarktis für Beobachter der Hohen Atmosphäre gewissermaßen ein Baikonplatz ist, offeriert der Achsenpol einen zusätzlichen Vorteil als eine Art Drehsessel, der im Verhältnis zum Weltraum stationär bleibt. Diesen Vorzug weist kein anderer Ort auf der Erde auf, nicht einmal der Nordpol. Die Arktis ist kein von Meeren umspül-tes Festland, sondern ein von Fest-

ländern umgebenes Meer: der Nordpol liegt irgendwo im driftenden Packeis, für ein Observatorium eignet er sich daher nicht.

Genau wie Byrd spielt die Polstation im Sommer eine Rolle als Durchgangsstation und Stützpunkt. Das größte noch unerforschte Gebiet der Antarktis liegt zwischen dem Südpol und der Küste von Queen Maud Land. Mit einer auf vier Sommer verteilten und achttausend Kilometer langen Traverse will die National Science Foundation diese terra incognita abschaffen. Mittelbar und unmittelbar beschert diese Unternehmung der Polstation intensiven Durchgangsverkehr. Die erste Teilstrecke der Traverse zick-zackte 1964/65 vom Achsenpol zum

Pol der relativen Unzugänglichkeit. Dort wurde sie im November 1965 wieder aufgenommen und endete vorläufig bei der im Jänner neu eingerichteten Plateaustation. Die Polstation war in der Saison .1965/66 vorübergehend Absteigequartier für die zehn Teilnehmer der Traverse; die „Meerbienen“ benützten sie als Etappenort beim Zusammenbau der vorgefertigten Elemente zur Plateaustation; und deren Winterbesatzung akklimatisierte sich am Pol, ehe sie per Flugzeug in ihre Fertighäuser tout confort auf 3500 Meter Höhe umzogen. Dort, am vermuteten Kältepol der Erde, bereiten sich jetzt die acht Männer unter der Leitung eines jungen Navy-Arztes auf die brutale Belagerung durch den Polarwinter vor Der Arzt wird die Wirkungen des kombinierten Ansturms von Kälte, Höhe und Einsamkeit auf sich und seine Gefährten beobachten. Nie vorher setzten sich Menschen der Folter durch Temperaturen von bis zu 90 Grad Celsius aus*. Auf dem Rückflug vom Pol nach McMurdo folgt die „Herkules“ kurz dem Beardmore-Gletscher, der alten „Hauptstraße“ zum Pol. Dem Besucher führt dieser 100 Kilometer lange und an der Mündung auf das Ross-Eisschelf 50 Kilometer breite Eisstrom eine Wahrheit vor Augen, die er in der scheinbar für die Ewigkeit erstarrten Welt des Inlandeises übersehen muß. Es ist eine Welt, in der alles sich bewegt. Die polare Eisbedeckung gleicht einem gigantischen flachen Teigkuchen, der unmerklich, aber unaufhaltbar unter seinem Eigengewicht auseinanderfließt. Das Eis quillt über die Ränder der polaren Hochebene, es zwängt sich durch die Täler der Gebirgsbarriere, es kriecht über Hügel, stürzt in Katarakten über Steilfelsen — was es nicht unter sich begräbt, umzingelt und würgt es... Auge in Auge mit dem vielfingrigen Ungeheuer stellt der Besucher dringlicher als je zuvor die Frage, was der Mensch an einem so gottverlassenen Ort suchen mag. Der Pilot, ein Fliegeras, zuckt die Schultern: Dienst ist Dienst — aber da der Besucher schon fragt: Kalter Dienst in der Antarktis ist besser als heißer Dienst in Vietnam. Der Seismologe, der nach einem vollen Jahr am Pol den Mythen von Mädchen und Rosen in Neuseeland mit mildem Unglauben zuhört, ist beredter. Darf der Mensch, fragt er zurück, seinen Planeten verlassen, ehe er ihn bis in seine Winkel kennt? Die Antarktis ist das letzte geographische Neuland der Erde. Die Jahre, da auf dem antarktischen Kartenbild Inseln und Gebirge, Küsten und Gletscher kamen und gingen wie in einem Zeichentrickfilm, sind zwar bereits vorüber. Aber etwa die Physiognomie des Kontinents unter seiner Maske aus Eis ist noch ungenügend bekannt.

Es ist noch nicht lange her, daß Antarktisforscher das Geld für ihre Expeditionen mit dem Hinweis auf möglicherweise zu entdeckende Bodenschätze zusammentrommelten. Die erwarteten Bodenschätze sind zweifellos vorhanden, selbst ein vom Wind spiegelblank poliertes Marmorgebirge wurde in der Antarktis entdeckt. Aber die wirtschaftliche Nutzung dieser Reichtümer wird auf sich warten lassen. Heute ist so gut wie sicher, daß der gefrorene Erdteil auf absehbare Zeit nur wissenschaftliche Meßwerte und Ergebnisse exportieren wird.

Was die Vorbereitung der Zukunft in der Antarktis anbelangt, so ist gewiß hier das Fernste das Nächste: nicht nur bildlich liegt der Kontinent auf dem halben Weg zum Mond. Vizeadmiral Dufek, der die ersten „Deep-freez“-Unternehmungen kommandierte, berät jetzt die Boeing Air-craft Company bei deren Mondvorhaben. Ein NASA-Ingenieur studierte im verflossenen Südsommer die Eignung der Antarktis im Hinblick auf die Prüfung von Ausrüstungsgegenständen für Mondexpeditionen, namentlich auch von Mondfahrzeugen unter unwirtlichsten Bedingungen. Und der Berichterstatter las nach der Rückkehr vom Pol an der Tür des „Swiss Chalet“, des Hauptquartiers der National Science Foundation in Mc Murdo, einen Zettel des lapidaren Inhalts: Gesucht junge Doktoren der Naturwissenschaften mit Antarktisbewährung für einen Besuch auf dem Mond.

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