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Ebbe und Flut auch an Land

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Zum Urlaub am Meer gehört das Beobachten von Ebbe und Flut. Die Gezeiten sind nicht nur eine noch kaum genutzte Energiequelle, sondern auch auf dem Festland ein faszinierendes Gebiet der Forschung.

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Zum Urlaub am Meer gehört das Beobachten von Ebbe und Flut. Die Gezeiten sind nicht nur eine noch kaum genutzte Energiequelle, sondern auch auf dem Festland ein faszinierendes Gebiet der Forschung.

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Wie entsteht der ständige Wechsel der Gezeiten? Die Anziehungskraft des Mondes spielt dabei eine Rolle, das weiß man noch aus der Schulzeit. Der kleine Erdtrabant zieht die Erde an, und da das Wasser der Ozeane verformbar ist, folgt es der Richtung der Anziehung und bildet zum Mond hin einen Flutberg. Doch irgend etwas muß an diesem Gedankenmodell falsch sein, denn die Erde dreht sich nur einmal am Tag um ihre Achse, die Flut kommt jedoch täglich zweimal.

Wie entsteht der zweite Flutberg? Die Ursache liegt darin, daß die Massenanziehungskraft mit der Entfernung sehr stark abnimmt. Die Kraft des Mondes wirkt im wesentlichen nur auf die dem Erdtrabanten zugewandte Erdseite. Zwischen mondnaher und mondferner Seite herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte, und während die Wasserteilchen der dem Nachtgestirn zugewandten Seite sich zum Mond hingezogen fühlen, verharren die der Gegenseite aufgrund ihrer Trägheit in der Rotationsbewegung der Erde. Es wirkt auf sie eine Fliehkraft, die sie eben nicht in Richtung Mond, sondern in die Gegenrichtung, weg von der Erdoberfläche treibt. So verformt sich die kugelige Erde unter Einfluß ihrer Drehbewegung und der Anziehungskraft ihres Trabanten zu einer Ellipse, zwei Flutberge wandern etwa im 12-Stunden-Rhyth-mus um den Planeten.

Doch selbst der gevifteste Rechner und Mondbeobachter könnte das Eintreffen der Gezeiten für einen bestimmten Küstenstrich nicht präzise vorhersagen.

Die Erde ist nicht jener idealisierte, rundherum von Wasser bedeckte Planet, den man der schematischen Erklärung von Ebbe und Flut gerne zugrunde legt. Nur bei einem solchermaßen vereinfachten Erdkörper würden Mondstellung und Flutberg übereinstimmen, weil das Wasser aus allen Richtungen gleichermaßen zu den Flutbergen strömen kann.

Mit Hilfe von speziellen Meßgeräten, sogenannten Neigungsmessern und Extensometern, wie sie etwa in der Meßstation des Instituts für Geodäsie der Universität Bonn im rechtsrheinischen Tunnel der ehemaligen Eisenbahnbrücke bei Remagen aufgestellt sind, konnte man zeigen, daß nicht nur die Ozeane den Gezeitenkräften unterworfen sind, sondern auch die Kontinentalmassen. So hebt und senkt sich der bundesrepublikanische Boden im Rhythmus der Mondbewegung um etwa 30 Zentimeter, und die Sonnengezeiten fügen noch einmal 15 Zentimeter hinzu: Bei Vollmond und Neumond rücken wir den Sternen mittags und nachts um jeweils fast einen halben Meter näher als morgens oder abends.

Aber auch diese Kontinentalgezeiten verlaufen nicht synchron zur Bewegung der Gestirne.

Die Bonner Wissenschaftler konnten feststellen, daß geologische Verwerfungen zu Zeitunterschieden von bis zu zwei Stunden führen.

Aufs Ganze gesehen ergeben die nüchternen wissenschaftlichen Messungen eine abenteuerliche Feststellung: Obwohl wir meinen, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, bewegen wir uns wie auf einem Jo-Jo im Wechsel von Sonne und Mond auf und ab.

Die Gezeiten bleiben natürlich nicht ohne Einfluß auf den Erdkörper: Ebbe und Flut führen zu einer allmählichen Abbremsung der Erdrotation als Folge der Gezeitenreibung! Die Erde, die sich unter den beiden Flutbergen wie unter zwei Bremsbacken hinwegdreht, läßt die Wasser der Ozeane zweimal pro Tag gegen die Kontinente anlaufen. Und auch die Reibung der Gesteine untereinander als Folge der Kontinentalgezeiten zehrt an der Rotationsenergie der Erde. Mit jeder Umdrehung der Erde wird ein geringer Anteil ihrer Rotationsenergie in Wärme umgewandelt und dadurch die Drehbewegung allmählich abgebremst.

Könnte man diese Gezeitenkraft vollständig nutzen, so ließen sich damit rund dreitausend Kraftwerke mit einer Leistung von jeweils 1300 Megawatt ersetzen! Einen bescheidenen Anfang hat man an der französischen Kanalküste bei Saint Malo gemacht, wo ein Gezeitenkraftwerk maximal 240 Megawatt bereitstellen kann.

Ob man jedoch die Gezeitenkräfte zur Energiegewinnung heranzieht oder nicht, die Verlangsamung der Erdumdrehung ist nicht aufzuhalten. Als Folge werden dereinst die Tage länger sein. Erfreulicherweise läuft dieser Prozeß in astronomischen Zeiträumen ab, auf den 48-Stunden-Tag werden wir noch etliche Millionen Jahre warten müssen.

Wenn nun die Erde ständig langsamer wird, muß sie sich einst schneller gedreht haben. Und dafür gibt es sogar konkrete Beweise. Der amerikanische Paläontologe John Wells fand 1963 bei der Untersuchung fossiler Korallenreste, deren Alter auf 400 Millionen Jahre bestimmt werden konnte, Anzeichen dafür, daß ein Jahr damals etwa 400 Tage umfaßte. Die Korallen wachsen nämlich bei Tageslicht besser als zur Nachtzeit und in wärmerem Wasser besser als in kälterem. Der Wechsel von Tag und Nacht und der Wechsel der warmen und kalten Jahreszeiten hinterließ Wachstumsspuren an den fossilen Korallenriffen ähnlich den Jahresringen der Bäume. Aus den Zuwachszonen ließ sich berechnen, daß das Jahr, also der Umlauf der Erde um die Sonne, sich nicht in 365 Erdumdrehungen, sondern in rund 400 Tage gegliedert hatte.

Da sich die Dauer eines Jahres kaum verändert haben dürfte (es wäre dazu eine Änderung der Erdbahn erforderlich gewesen, für die es jedoch keinerlei Hinweise gibt), kann man nur den einen Schluß ziehen, nämlich daß ein Tag damals weniger lang gedauert haben muß als heute, etwa 21,9 Stunden.

Gekürzt aus der Zeitschrift „Kosmos" (Juni 1984).

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