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Gast bei Papageien und Affen

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40 Prozent aller Pflanzen- und Tierarten der Erde bewohnen einen Lebensraum, über den man bisher fast nichts wußte. Donald Perry begann ihn kurz vor der Vernichtung zu erforschen.

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40 Prozent aller Pflanzen- und Tierarten der Erde bewohnen einen Lebensraum, über den man bisher fast nichts wußte. Donald Perry begann ihn kurz vor der Vernichtung zu erforschen.

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Schon um 1900 schrieb der Naturforscher William Beebe, der sich später der Tiefsee zuwandte und über dessen Tauchrekord von 923 Meter jahrzehntelang kein Mensch hinauskam, noch ein Neuland gebe es zu entdecken, „nicht zu unseren Füßen, sondern 30 bis 60 Meter darüber“— nämlich die Kronenregion der tropischen Regenwälder.

Zehn Meter lange Leitern, die bestenfalls zu den unteren Ästen reichten, und Feldstecher, die im dichten Blattwerk wenig nützten, blieben vorerst einzige Hilfsmittel. Viel später entwickelte Terry Erwin ein Verfahren, mit Hilfe von Pestiziden Insekten des Kronenraumes der Regenwälder zu sammeln, und gelangte durch die Auswertung Tausender Proben zu dem damals schier unglaublichen Ergebnis, daß die Kronen tropischer Bäume möglicherweise zehn bis 30 Millionen Arten beherbergen — was die damals aktuellen Schätzungen der Zahl sämtlicher Insektenarten auf unserem Planeten um das Zwanzigfache übertraf. Für den Menschen und damit für die Verhaltensforschung blieb dieser Lebensraum noch unzugänglich.

Im Herbst 1973 hilft der Biologiestudent der California State University Donald Perry einem Drachenflieger, nach der Landung in einer Baumkrone sein Ge-rät zu bergen und ist von dieser Kletterei fasziniert. Er schwankt noch, auf welches Spezialgebiet er sich werfen soll, verliert schon bei seinen ersten Experimenten mit Zellbestandteilen jedes Interesse dafür, erinnert sich eines Artikels über tropische Baumkronen im „Scientific American“, geht kurz entschlossen zu seinem Professor und sagt, auf diesem Gebiet werde er forschen: „Ich weiß noch, wie er dabei mit einem ,Du-hast-ja-kei-ne-Ahnung-wovon-du-redest'-Ausdruck im Gesicht auf die Zigarre zwischen seinen Zähnen biß. Er nahm mir nicht den Mut, was ich ihm hoch anrechne, aber meine Pläne müssen ihm ziemlich unaus-gegoren vorgekommen sein. Schließlich war ich noch nie in den Tropen gewesen und hatte noch nie die riesigen Bäume des Regenwalds gesehen. Andy schickte mich nach Costa Rica, wo er umfangreiche Forschungen unternommen hatte.“

Perry wird zum Pionier eines völlig neuen Forschungszweiges. Der erste Baum, den er ersteigt, ist ein Ka-schubaum, ein Espasel, mit drei Meter dickem

Stamm — einen dik-keren wird Perry in Costa Rica nicht mehr finden. Er ist dick bewachsen und von Giftfröschen, gewaltigen Skorpio--nen, Ameisen und anderem Getier bewohnt. In 13 Meter Höhe, wo zwei mächtige Äste abzweigen, gähnt ein Loch — der Stamm ist hohl. Geplagt von der Vorstellung, „eventuell inmitten einer Schar bizarrer Lebewesen hilflos eingesperrt zu sein“, sich irgendwo einzuklemmen, .jeden Zentimeter meines Körpers mit Kleidern verhüllt, über Helm und Gesicht ein Mückennetz, die Jeans in Urwaldstiefeln, wie sie die US-Soldaten im Vietnamkrieg getragen hatten“, mit einer Stirnlampe, riskiert Perry einige Tage später den Abstieg.

Die Reise ins Innere eines hohlen Urwaldriesen bis auf den Grund des Stammes dauert viele Stunden und führt auf hieb zur Entdeckung v:.ner unbekannten Wechselbeziehung zwischen Säugetieren und Bäumen: Der Abbau des Kernholzes und die Ausbildung einer bis zum Boden reichenden Höhle im Stamm macht den Espasel zum idealen Wohnort der im Urwald häufigen Fledermäuse, deren Dung im Stamm herunterregnet. Wertvolle Nährstoffe sik-kern in den Wurzelraum und verschaffen der Baumart auf diese Weise einen Uberlebensvorteil.

Acht Jahre später, 1982, kehrte Perry noch einmal zu diesem Exemplar zurück. Es stand noch — neben einem Kahlschlag, in einem übriggebliebenen Zipfel Urwald, die Holzfäller hatten es als wertlos, weil hohl, übergangen. Der Lebensraum, den Donald Perry erforscht, ist im Dahinschwinden. Wahrscheinlich wird er restlos vernichtet sein, bevor seine Lebenszusammenhänge auch nur in groben Zügen erforscht sind. Denn wie schon sein Name sagt — regelmäßiger, reichlicher Regen ist für das Uberleben des Regenwaldes unentbehrlich. Ist erst einmal ein so großer Teil der mittel-und südamerikanischen Regenwälder verschwunden, daß die daraus aufsteigende Feuchtigkeit nicht mehr genügt, um diese täglichen Güsse sicherzustellen, kippt die ökologische Balance, der Rest stirbt dann ganz von selbst. Niemand weiß, wann dieser Punkt erreicht ist. Die klimatischen Folgen werden auch wir verspüren — als austrocknenden Mittelmeerraum und Häufung von Unwettern in unseren Breiten.

Noch immer dient der Löwenanteil der von US-Institutionen jährlich in die Regenwald-Forschung investierten 20 Millionen Dollar der wissenschaftlichen Tätigkeit im untersten Stockwerk des Biotops. Dort, wo so wenig Licht hinkommt, daß ein zwei Meter hoher Baum mit einigen Zentimetern Stammdurchmesser 200 Jahre alt sein kann. Das ist so, als würde man Meeresforschung nur auf dem Grund der Tief see betreiben.

Der Regenwald ist eine Welt zwischen Himmel und Erde. Auf den Ästen im Kronenraum, der bis in eine Höhe von 30 bis 50 Metern reicht, liegt mehr Humus als auf dem Boden, der denn auch, brennt man die Wälder zugunsten landwirtschaftlicher Nutzung ab, innerhalb weniger Jahre kaputt ist. Der Kronenraum speichert gewaltige Wassermengen, sogar Froschteiche gibt es in luftiger Höhe. Welche Anpassungsleistungen die Evolution hier vollbrachte, geht aus der restlosen Verwertung jeglicher Nahrung hervor: Klar, fast ohne organische Stoffe, kommt das Wasser dort entspringender Flüsse aus dem Regenwald. Auch nutzbringende Erkenntnisse, anwendbar von der natürlichen Schädlingsbekämpfung bis zur Pharmazie, wären hier en masse zu holen.

In seinem Buch „Leben im Dach des Dschungels“ beschreibt Perry Methoden und Ergebnisse der alles andere als ungefährlichen Forschungen im Kronenraum. Er begann mit einfachen Klettervorrichtungen, überwand seine Höhenangst, studierte das differenzierte Zusammenleben der Papageien von der Hängematte aus, konstruierte Beobachtungsplattformen und komplizierte Seilsysteme, fotografierte die größten Baumbewohner, die Orang Utans, in ihren Baumnestern, empfing Besuch einer Brüllaffen-Mutter mit Kind, unternahm erste Schritte in ein gewaltiges Neuland der Verhaltensforschung und entwik-kelte interessante Gedanken über die Evolution.

Immerhin leben im Regenwald einige der intelligentesten Erdbewohner: Die Papageien mit ihrem völlig unerforschten Verständigungssystem, die Coatis — Nasenbären mit erstaunlicher „Pro-.blemlösungs-Kapazität“ — und natürlich viele Arten von Affen. Auch unsere Vorfahren dürften aus einem ähnlichen Biotop stammen.

Daß Perry den Vorstoß in einen unbekannten Lebensraum auch als faszinierendes Abenteuer beschreibt, erhöht den Reiz der Lektüre.

LEBEN IM DACH DES DSCHUNGELS. Von Donald R. Perry. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M. 1988. 184 Seiten, viele farbige Abbildungen, Ln., öS 310,50.

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