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Mit 2700 km/h in die Sackgasse?

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Während in Westeuropa das Uberschallflugzeug Concorde seine Testflüge einstweilen noch mit Unterschallgeschwindigkeit absolviert und die Sowjetunion ihre Concorde-Kopie TU 144 („Con-cordowitsch") erprobt, reduzieren die amerikanischen Fluggesellschaften auf ihren Inlandsstrecken drastisch den Bordservice, um die Kostenlawine aufzufangen, ranken sich Pleitegerüchte selbst um große Airlines, hat die von den Jumbo-Jets heraufbeschworene Uberkapazität auf den noch vor ein, zwei Jahren lukrativen Nordatlantikrouten zu Preisverfall und gnadenlosem Existenzkampf geführt.

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Während in Westeuropa das Uberschallflugzeug Concorde seine Testflüge einstweilen noch mit Unterschallgeschwindigkeit absolviert und die Sowjetunion ihre Concorde-Kopie TU 144 („Con-cordowitsch") erprobt, reduzieren die amerikanischen Fluggesellschaften auf ihren Inlandsstrecken drastisch den Bordservice, um die Kostenlawine aufzufangen, ranken sich Pleitegerüchte selbst um große Airlines, hat die von den Jumbo-Jets heraufbeschworene Uberkapazität auf den noch vor ein, zwei Jahren lukrativen Nordatlantikrouten zu Preisverfall und gnadenlosem Existenzkampf geführt.

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Übereinstimmende Meinung der Branche: Der Jumibo-Jet, mit dem man noch vor kurzer Zeit eine neue Ära des Massentourismus heraufdämmern sah, ist um mindestens zehn Jahre zu früh gekommen. Die Maschine wurde nicht deshalb konstruiert, weil sie von der zivilen Luftfahrt gebraucht wurde, sondern weil sie technisch möglich geworden war, weil sie dem Pentagon Vorteile als Truppentransporter versprach und weil innerhalb des undurchsichtig verfilzten „militärisch-wirtschaftlichen Komplexes" lebhaftes Interesse bestancį einen möglichst großen Teil der Entwicidungskosten durdi den Bau einer zivilen Version auf die Zivilluftfahrt überzuwälzen. Überdies ist Expansion auf einem so limitierten Markt nach Sättigung mit einem Modell selbst bei größter Bewährung nicht mehr durch dessen Fortproduktion möglich. Boeing 707, ob in kurzer oder gestreckter Ausführung, war längst ein stagnierendes Markenprodukt Von den Bauserien zur Ersetzung schrottreifer oder abgestürzter Maschinen kann ein solches Werk nicht leben. Und auch nicht von neuen Kurzstreckentypen. Ein revolutionäres neues Langstreckenflugzeug mußte her. Der Überschallverkehr erschien, nur unter dem Gesichtspunkt technischer Evolution und wirtschaftlicher Expansion betrachtet, möglich und daher notwendig.

Nun drohen der in zwei Prototyp-Exemplaren fliegenden Concorde und der größeren, schnelleren, nach gigantischen Investitionen immerhin auf dem Reißbrett existierenden Boeing 2707 zwei nach getrenntem Vormarsch vereinigt zuschlagende Tücdcen die stolzen Deltaflügel zu brechen.

Erstens die finanzielle Krise der Weltluftfahrt. Zweitens das in den USA plötzlich mit Macht erwachte „Umweltbewußtsein".

Konkurrierende Pleitegeier

Vielleicht wäre alles gut gegangen, hätte die Flugzeugindustrie nicht ihre Kunden gleich mit zwei revolutionären neuen Langstreckenflugzeugen überfallen. Wobei Jumbo-Jet und Concorde praktisch zur gleichen Zeit geordert werden mußten. Die Fehlerquelle für diese Fehldisposition der Flugzeugindustrie ist einerseits in deren harter Konkurrenz zu suchen, anderseits darin, daß man vermutlich zusammen mit den Zuwachsraten des Passagieraufkommens munter auch gleich die Umsatzsteigerungen in die Zukunft interpolierte, ohne zu berücksichtigen, daß selbst eine kurzfristige Überkapazität durch das Erscheinen einer Riesenmaschine wie des Jumbo zu verschärftem Konkurrenzkampf, Tarifeinbrüchen, Krisenstimmung und jahrelangem Jeder-frißt-jeden-Spiel führen mußte.

In vielen Airline-Managements sieht man daher heute die Aggressionen der Umweltschützer gegen die Überschallflugzeuge bereits mit verhohlenem Vergnügen. Die Gefahr, die dem Überschallverkehr von dieser Seite her droht, könnte es den Fluggesellschaften sehr viel leichter machen, unter Verzicht auf angezahlte Summen ihre Optionen auf die ersten Überschallvögel verfallen zu lassen und dabei noch als Wohltäter der Menschheit dazustehen.

Und dies sogar durchaus mit Recht. Denn ein Halt auf dem Weg zum Überschallverkehr würde vielen als ein Beweis dafür gelten, daß die Menschheit möglicherweise doch noch lernt, sogenannten Sachzwän-

gen, wenn sie in Sacdcgassen führen, zu entrinnen.

Wobei die aus dem neuen Denken in den Kategorien des Umweltschutzes erwachsenden AnU-Übersdiall-

Argumente nicht so überzeugend wirken wie jene, die sich auf soziale und ökonomische Vernunft berufen. Allein der amerikanische Staat investiert in das SST-Projekt (SST steht für Überschallflugzeuge) von Boeing 7,5 Milliarden Schilling, die zwar zurückgezahlt werden sollen, wenn die Produktion beginnt, Gewinn abzuwerfen, mit deren Rückfluß aber kaum noch jemand rechnet. Überschallverkehr würde bedeuten: Gigantische öffentliche Investitionen nur, um „die nutzlosesten Arbeitsplätze der Nation zu retten" und einer winzigen Schicht von Managern die Reisezeit von Europa nach New York auf weniger als die Hälfte zu verkürzen.

Wozu zu sagen wäre, daß viele Konzerne ihrem Führungspersonal schon heute mindestens 24 Stunden Aufenthalt vorschreiben, bevor sie am Reiseziel in die Verhandlungen, zu denen sie geflogen kamen, eintreten dürfen, da es nicht der Flug ist, was die körperliche und intellektuelle Leistungsfähigkeit vermindert, sondern die Zeitverschiebung, die nach einem Überschallflug nur noch krasser empfunden wird Angesichts des wachsenden öffent-lidien Drucäies gegen das Projekt setzien nun ddie Boedmg-Manager viel Hoffnung auf das zuvor von ihnen eher mit scheelen Augen betrachtete anglo-französische Konkurrenzprodukt. Denn fliegt dde Comcande tatsächlich, dann ist der Einrtritt in das Überschallzeitalter kaum noch aufzuhalten. Dann wird die Boeing 2707 wohl produziert werden müssen, für welchen Fall man auch in Europa bereits an ein gleichwertiges europäisches Anschlußprojekt denken soll, dessen Entwicklung mit 13 Milliarden Schilling veranschlagt wird. Das Ganze nicht, um mehr Menschen billiger, sondern um weniger Menschen teurer von einem Ort zum anderen zu bringen. Die bevorstehende, vom Jumbo-Jet ausgelöste Welle von Airline-Krisen und Zusammenschlüssen mag einen schwachen Vorgeschmäcke auf das geben, was dann kommt. Gewaltige Marktchancen für wenige Große. Für die Kleinen immer geringere Möglichkeiten, sich auch nur zu behaupten. Mit anderen Worten: Eine Amerikanisierung des Weltluftverkehrs, daneben allenfalls ein unabhängiger europäischer Junior und nationale Zubringerlinien für den Rest der Welt.

Daß der Überschall-Jet die Ohren peinigen wird, steht fest Gestritten wird in Amerika derzeit über das Ausmaß. Während der IBM-Physiker Richard Garwin erklärt, ein einziger Überschallriese werde soviel Lärm machen wie 50 Maschinen der Type Boeing 707, verweist George Chatham, ein früherer NASA-Mann, auf die bekannte Tatsache, daß der Lärm in einem Raum, in dem zehn Maschinen arbeiten, nur als etwa doppelt so stark empfunden wird wie der Lärm einer einzigen Maschine. Ausgehend von der neuen Standardeinheit EPNdB (Effektive Perceived Noise Decibel), die besser als die herkömmliche Decibel-Skala ist, weil sie auch die Lärmdauer eines Ereignisses sowie besondere, hervorstechende Frequenzen berücksichtigt, ermittelte Doktor Karl Kryter vom Stanford Research Institute eine vierfache Lärmbelästigung durch die Überschallflugzeuge, verglichen mit den jetzt eingesetzten Maschinen. Dem Lärm, den sie beim Start produzieren werden und der intensiv, aber infolge ihrer außerordentlichen Steigledßtung in voller Intesißität nur von kurzer Dauer sein wird, steht der sogenannte Überschallknall gegenüber, der sich durch konstruktive Maßnahmen vermindern, aber aus physikalischen Gründen niemals abschaffen läßt

Ein Beobachter auf dem Boden erlebt, wenn ein SST vorbeifliegt, diesen Effekt als kurzen, mehr oder weniger intensiven Knall. (Herabstoßende Düsenjäger bringen bekanntlich Glasscheiben zum Bersten.) Tatsächlich handelt es sich um einen „Knallteppich", der der Maschine während ihres ganzen ÜberschaMfluges folgt und von jedem, den sie überfliiegt, als Knall erlebt wird.

Aus diesem Grund soll der Überschallverkehr auf Flüge über dem Meer beschränkt und über bewohnten Gebieten nicht gestattet werden. Die amerikanische Luftfahrtbehörde hat dieses Prinzip bereits als „Regel" formuliert, aber mehrere Politiker, unter ihnen der demokratische Abgeordnete Sidney Yates (Illinois), verlangen Umwandlung in ein bindendes Gesetz, denn, so Yates: „Eines Tages werden sie sagen, daß der Knall die Stimme des Fortschritts ist!"

Die Gegner des Überschallprojekts sind der Meinung, daß der wirtschaftliche Druck, imter dem die Fluggesellschalten nadi dem An-

bruch des Überschallzeitalters bald stehen würden, die Regierung veranlassen würde, „Regeln", die nicht Gesetz sind, schnell zu lockern. Wobei zu beachten ist, daß beim Übergang vom Unter- In den Überschallflug ein kurzfristiges Phänomen von besonderer Lautstärke, der sogenannte „super-boom" (Überschall-Überknall) entsteht. Amerikanische Menschenfreunde sind bereits damit beschäftigt, mit Tierexperimenten die Schädlichkeit solcher Lärmerlebnisse nachzuweisen, werden dabei aber nicht recht fündig. Tatsächlich könnte ihnen jeder Pilot erzählen, daß Flughäfen, die schon heute nicht zu den leisesten Zonen gehören, von Vögeln besonders gern aufgesucht werden, weil sie dort nicht von Menschen gestört werden. Gewisse Arten, so Turmfalken und Mäusebussarde, machen sich sogar eine besondere Hetz daraiis, sich in die heißen Lult-wirbel hinter startenden Maschinen zu stürzen und wie Menschen in der Brandung von den Turbulenzen aus einer unkontrollierten Fluglag« in die andere werfen zu lassen.

Eiszeit oder Wärmestau?

Auch der Hinweis auf mögliche klimatische Veränderungen durch das Vordringen des Überschallverkehrs in Höhen von über 20 Kilometer 1st ein Argument, das im „Jahr des Umweltschutzes" hohen propagandistischen, aber sonst wenig Wert hat. Denn Kassandrarufen, die eine Abkühlung durch Wasserdampf und Kohlendioxyd aus den Düsen der Überschallriesen beschwören, stehen ebenso kassandrische Warnungen vor einer gefährlichen Erwärmung des Erdballs nebst Abschmelzen der Poleiskappen und Sintflut gegenüber. Russell Train, Vorsitzender eines Senatsausschusses für Umweltschutz, und Dr. Gordon MacDonald, ein Mitglied, mußten sich von William Magruder, einem ehemaligen Testpiloten, der den neuen Lock-heed-Jumbo entworfen hat, vorrechnen lassen, daß auch die Explosion des Vulkans Krakatau im Jahre 1883 keine kritischen Änderungen des irdischen Klimas heraufbeschworen hat, obwohl damals eine Kubikmeile Wasser in die Stratosphäre geschleudert wurde, und die Welt ein Jahr nach der Katastrophe, die drei-, tausend Meilen (!) weit gehört werden konnte, grüne Sonnenuntergänge erlebte. 400 Überschallflugzeuge würden im Lauf eines Taiges etwa soviel Wasser in die Stratosphäre befördern wie ein entsprechend schweres Gewitter, deren es täglich 3000 bis 6000 gibt Viele Argumente, die heute gegen die SST-Projekte vorgebracht werden, haben einige Ähnlichkeit mit dem, was anläßlich des Auftauchens der ersten Eisenbahnzüge geunkt wurde. Das Überschallflugzeug selbst allerdings gleicht weniger der Eisenbahn, die kommen mußte, weil sie sowohl möglich als auch vernünftig war, als der Lokomobile, jener Dampflokomotive für den Straßenverkehr, die zwar möglich war und gebaut wurde, aber der Konkurrenz wirtschaftlicherer Verkehrsmittel nicht standhielt.

Der Überschallverkehr wäre unnütz und schädlich, weil er Unsummen vernünftigeren, wichtigeren Zwecken zu entziehen droht — einem von den Fluggesellschaften längst nicht mehr gewünschten Statussymbol zuliebe. Ein Hoffnungsschimmer: Nach den ersten Testflügen der Concorde über New York wurde ihr, deren Profil mit der vor der Landung absenkbaren Nase als „anziehend und gleichzeitig häßlich wie das Gesicht der Barbra Streisand" beschrieben wurde, das Anfliegen von New York wegen zu großer Lärmentwicklung verboten.

Boeing weiß, daß dieses Verbot dem Projekt das Rückgrat brechen müßte, da der überschallsdinelle Verkehr vorerst ohnehin auf keiner anderen Strecke als über dem Nordatlantik in Frage käme. Daher unternimmt Boeing jetzt alles, um das Konkurrenzprojekt, das, langsamer und kleiner als die Boeing 2707, den Markt vorbereiten würde, zu retten. Womit wieder einmal wirtschaftliche Interessen zun» Kampf gegen die menschliche Vernunft angetreten wären Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten def Airlines könnten deren guter Verbündeter sein. Bis der Tag kommt, an dem der Flug mit 2700 km/h nicht nur als möglich, sondern auch als vernünftig erscheint

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